Montag, 24. August 2009

Behindert nach Aktenlage - Wie Langzeitarbeitslose aus der Statistik verschwinden

Doris Kruse ist ein Kämpfertyp. Sie ist stolz darauf, dass ihre beiden Töchter, die sie allein groß gezogen hat, einen Arbeitsplatz haben. Genau den hat sie nicht. Beim Einkaufen muss sie deshalb immer genau auf die Preise gucken. Arbeitslos ist sie schon seit vielen Jahren. Nach etlichen 1-Euro-Jobs schreibt sie immer wieder neue Bewerbungen. Doch damit soll sie jetzt aufhören, meint ihre Agentur für Arbeit, und das, obwohl sie noch gar keinen neuen Job hat. Vor sechs Wochen bekam sie plötzlich einen Bescheid. Darin teilt ihr die Arbeitsagentur mit, sie sei ab jetzt “dauerhaft geistig behindert” - laut Gutachten nach Aktenlage.

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Und ein Kommentar dazu:

Es mag ja noch nicht der Regelfall sein, doch zeigt jener (Einzel-)Fall, in dem man eine Erwerbslose nach Aktenlage für geistig behindert erklärte, das ganze Menschenbild derer auf, die sich je für jene Reformen der Menschenverachtung einsetzten. Es ist genauer besehen auch gar kein Menschenbild, dem hier hörig und pflichtversessen gefolgt wird, es ist ein Gegenstandsbild, denn der Mensch wurde getilgt, ausgemerzt, weil er unkalkulierbar ist, weil er fehlerhaft sein kann. Er wird zum nummerierten Gegenstand, ein Objekt behördlicher Begierde. Die Person erhält eine behördliche Kundennummer, ist dabei soviel Kunde wie Wellensittich - wobei letzterer ein Lebewesen wäre und keine nummerierte Karteileiche, die zufällig auch in einem menschlichen Körper schlummert -, wird nurmehr als Anreihung von Zahlen wahrgenommen, wird schlicht zu Papier, zu Karton, zur Karteikarte. Der Mensch wird zur Aktenlage, wird nach Aktenlage bewertet, nach Aktenlage kategorisiert, nach Aktenlage fallengelassen. Er ist zur Nummer heruntergesetzt, ist zum Objekt verschiedenster Verwaltungsakte verwandelt, zur toten Materie aus Druckerschwärze und Papier.

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