Dienstag, 15. Februar 2011

Über das letzte Kapitel des Nazi-Terrors: Die Todesmärsche 1944/45

Der israelische Historiker Daniel Blatman beschreibt in seinem Werk, wie im Winter 1944/45 mehr als 700.000 KZ-Insassen über Straßen getrieben wurden und wie rund ein Drittel von ihnen starb: Verhungert, erschossen von den Wachen, ermordet von braven deutschen Bürgern, die die Häftlinge jagten.

Was für ein Buch! Wir glauben, alles zu wissen über den barbarischen Völkermord, über die Zustände in den Konzentrationslagern, da trägt uns ein Historiker das Grauen vor die eigene Haustür. Nein, er trägt es nicht dorthin, sondern er findet es dort. In kleinen Dörfern, in Wäldern; beim Nachbarn, beim Großvater; beim Volkssturmmann und Hitlerjungen. In dem Moment, als sich das Dritte Reich auflöst, als der sichere Untergang immer näher rückt, werden die Häftlinge der Konzentrationslager auf die Reise geschickt: Zuerst, im Januar 1945 vom Osten, von Auschwitz, in den Westen, später, im März, April, Mai 1945, von Buchenwald, Mittelbau-Dora und Sachsenhausen in den Norden oder in den Süden. Immer weg von der oft schon hörbaren Front.

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Anmerkung: Einmal mehr wird die oft beanspruchte Behauptung, ein Großteil der Bevölkerung Nazi-Deutschlands habe nichts von den grauenhaften Ereignissen in den KZs gewusst und habe sie erst recht nicht befürwortet, ad absurdum geführt. Die Lektüre des Artikels und erst recht des in Rede stehenden Buches von Daniel Blatman sei jedem dringend ans Herz gelegt. Passagen aus dem Buch wie die folgende müssen nicht weiter kommentiert werden:

"Während die Häftlinge durch den Ort zogen, kam es zu einer mörderischen Treibjagd, an der sich rund 200 Personen beteiligten. Die Opfer waren rein zufällig, und auch die Täter waren bunt gemischt. In einem der Dörfer, den der Häftlingstross passieren musste, stellten sich die österreichischen Bauern zu beiden Seiten des Weges auf und prügelten mit langen Stöcken brutal auf die Häftlinge ein, um sie dazu zu bewegen, ihr Dorf schnellstmöglich wieder zu verlassen."

Dieses Buch sollte man auch Thilo Sarrazin und den anderen zeitgenössischen Brandstiftern samt zugehöriger Leserschaft zur Pflichtlektüre empfehlen - vielleicht fällt bei dem einen oder anderen doch noch der sprichwörtliche Groschen. Oder würde sich irgendein denkfähiger Mensch heute in die Reihen der oben genannten österreichischen Bauern in jenem Dorfe einreihen wollen oder können? Wohl kaum. Dennoch ist es geschehen - und nichts, aber auch gar nichts spricht dafür, dass es niemals wieder geschehen könnte.

Wer in der Weltsicht der neoliberalen Bande heute eine "Durchökonomisierung der Gesellschaft" entdeckt und meint, der Mensch werde in dieser Ideologie als reines "Humankapital" betrachtet und behandelt, sollte sich die folgenden Zeilen aus dem Artikel sehr genau durchlesen und die nötigen Schlüsse ziehen:

"Nie, auch nicht einen Moment lang, ging es den Verantwortlichen um das Schicksal der Häftlinge. Sie waren nur eine Masse, die auf den strapaziösen Märschen schließlich auch noch ihren einzigen 'Wert', ihre Arbeitskraft, verloren hat. 'Evakuierung' wurde so irgendwann zu einer Metapher, zu einem Euphemismus für die Bemühung, die Häftlinge einfach loszuwerden. Sie waren für viele Deutsche, wie Blatman schreibt, nicht wesentlicher oder wertvoller 'als eine Unterlegscheibe'."


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