Mittwoch, 13. Februar 2013

Armut in Deutschland - und wie sie verklärt wird


Acht Jahre ohne Strom / Manche Hartz-IV-Empfänger zahlen fast die Hälfte ihres Regelsatzes für Strom. Und wenn die Kosten steigen, muss anderswo gekürzt werden, notfalls beim Essen. In Kiel helfen Energieberater armen Haushalten beim Stromsparen.

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Anmerkung: Die in diesem taz-Artikel berichteten Fälle und Fakten sind in der Tat bestürzend - allerdings ist es dennoch ein Text, über den ich mich aufregen muss, da er nur so starrt vor lauter Klischees, ungenauen Informationen und unkommentierten Idiotien. Einige Beispiele will ich dafür anführen:

1. "Vor allem die Energiewende treibt den Strompreis", behauptet die Autorin kurz und knapp im Text und folgt damit der Propaganda der Energiekonzerne. Es ist inzwischen ja vielfach belegt, dass die kräftigen Energiepreiserhöhungen - neben den üppigen Profiten für die Konzerne - ganz andere Ursachen haben. So schreibt der BUND beispielsweise: "Nicht die Energiewende, sondern die vielen Ausnahmen zugunsten der Industrie und zu Lasten der Verbraucher treiben den Strompreis in die Höhe." Es ist rätselhaft, wieso die Autorin die Konzern-Mär in ihren Text eingebaut hat.

2. Es wird auch in diesem Text wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass es vollkommen "normal" und offenbar nicht in Frage zu stellen sei, dass in einem reichen Industrieland wie Deutschland, in dem Strom eine zentrale, nicht wegzudenkende Rolle im alltäglichen Leben spielt, einem Menschen der Strom abgestellt wird, wenn er - aus welchen Gründen auch immer - nicht zahlen kann. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob in dem betreffenden Haushalt Kinder, Alte, Kranke oder Behinderte leben. Diese Selbstverständlichkeit macht mich immer wieder fassungslos - und das betrifft nicht nur den Strom, sondern auch alle anderen "privatisierten" Güter und Dinge der Daseinsfürsorge wie beispielsweise die Krankenversicherung, die Wohnung oder zukünftig auch das Wasser. Ich schäme mich für ein Land, in dem Menschen der Strom oder künftig vielleicht das Wasser abgestellt wird, sie aus der Wohnung geworfen werden und ihnen ein Arztbesuch verweigert wird, weil sie - staatlich gewollt - verarmt worden sind. In der taz klingt das so, als sei diese Praxis nicht zu hinterfragen und im Grunde auch gar nicht so schlimm.

3. Die Aktion mit den "Energieberatern" für Arme ist ein bodenloser, stupider Witz - ich kann nicht nachvollziehen, weshalb diese Zeitung das zu einem ernsthaften, nicht kritisch betrachteten Thema macht. Als ob arme Haushalte irgendeine bedeutsame Rolle in Sachen Energieverschwendung spielten - das ist an Lächerlichkeit kaum zu überbieten! Wenn die Städte beispielsweise auf die Prunkbeleuchtungen der Innenstädte zur perversen Konsumweihnachtszeit verzichten würden, könnten sie unzählige arme Haushalte das ganze Jahr über mit Strom versorgen und hätten vermutlich noch ein Plus in der Bilanz. Aber statt dessen raten sie Hartz-Terror-Opfern allen Ernstes, Bücher in den Kühlschrank zu legen, damit dieser etwas weniger Strom verbraucht ... da zucken meine Augenlider wie bei einem Psychopathen auf Serienmördertour. Irgendein kritischer Kommentar zu diesem hochnotpeinlichen Unsinn findet sich in der taz nirgends.

4. Als "Energieberater" werden sebstverständlich keine Fachleute zu den Menschen geschickt, sondern wiederum Hartz-Terror-Opfer - Verarmte "beraten" sich selbst. Das allein wirft schon eine Menge Fragen auf, die allesamt im Text nicht gestellt werden. Zusätzlich vernebelt die Autorin das Bild weiter, indem sie feststellt: "Insgesamt gibt es dort sieben Sparberater, alle Langzeitarbeitslose. Für ihren Einsatz bekommen sie etwa 550 Euro Zuschuss zum Hartz-IV-Satz, finanziert als Bürgerarbeit von EU und Bund." Was mag damit gemeint sein? Gibt es die 550 Euro pro Monat? Das kann nicht sein, denn dann würde der Verdienst auf den Regelsatz angerechnet und es bliebe nur ein Selbstbehalt von 100 Euro übrig. Ist es also der Jahresverdienst? Dann wäre er allerdings so niedrig, dass es sich nur um wenige Arbeitsstunden pro Monat handeln kann, wenn der "Energieberater" nicht mit sittenwidrigen Hungerlöhnen abgespeist wird. Nichts Genaues weiß man nicht, der Text gibt nicht mehr her.

5. Es wird ein so klischeehaftes, natürlich negatives Menschenbild von "den" Hartz-Terror-Opfern im Artikel gezeichnet, dass man davonlaufen möchte. Da ist der Typ in Jogginghose, der den Termin verpennt hat, genauso vertreten wie die ekelhafte Selbstverständlichkeit, dass in "solchen" Familien selbstredend zuerst bei den Kindern gespart wird, wenn mal Geld fehlt. Diese Passage wird zwar einem der "Energieberater" als wörtliches Zitat in den Mund gelegt, aber auch nicht weiter kommentiert. Da kann sich der geneigte Mittelschichts-Grüne wieder wohlig-schauernd zurücklehnen und das asoziale Pack bemitleiden. Es hat sich offensichtlich in gewissen Kreisen noch immer nicht herumgesprochen, dass inzwischen jeder in Deutschland zum Opfer der Armut werden kann - obwohl sogar im Artikel das Beispiel des Architekten beschrieben wird, der zum Hartz-Terror-Opfer geworden ist. Ich kann mir dieses perverse Menschenbild nicht erklären. Wie kommen diese Leute bloß auf den irrsinnigen Gedanken, dass in armen Familien im Normalfall ausgerechnet zuerst bei den Kindern gespart wird?

6. Zu guter Letzt schießt eine Betroffene selber den Vogel ab: Eine Frau, die aufgrund von Stromschulden von sage und schreibe 150 Euro im Monat leben muss, sagt laut taz: "Doch Annett Marti klagt nicht. 'Ich muss die Ämter loben', sagt sie. 'Es muss ja keiner verhungern in Deutschland.'" - Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es Menschen gibt, die trotz bitterster Armut so einfältig denken und den krassen Widerspruch zum leistungslosen Luxus der "Elite" nicht sehen können - aber von einer Zeitung wie der taz erwarte ich da einen deutlichen Kommentar, der klar Stellung bezieht und diese devote, schmierige Ergebenheit gegenüber einem schikanösen, unfairen, ungerechtfertigten, grundgesetzwidrigen Unrechtssystem deutlich geißelt! Doch darauf wartet man vergeblich - mit diesen devoten, salbungsvollen Worten der fast schon religiösen Verklärung endet der Artikel.

Fazit: Ich kann mich nicht entscheiden, was schlimmer ist: Entweder dieser Text wurde bewusst so manipulativ und propagandistisch verfasst, um Stimmung zu machen, Feindbilder zu schüren und die stetig vorangetriebene "Privatisierung" zu begleiten - oder die Autorin denkt tatsächlich in diesen gruseligen Klischees und menschenfeindlichen Dimensionen. Beides wäre bzw. ist schlicht entsetzlich.

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"Bei deiner großen Operation hast du eine Platinrippe eingesetzt bekommen. Du wirst wissen, was du jetzt deiner Familie schuldig bist."

(Zeichnung von Thomas Theodor Heine [1867-1948], in "Simplicissimus", Heft 4 vom 21.04.1920)

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