Dienstag, 19. November 2013

Zitat des Tages: Die Käuferin


Ich bin eine alte Frau.
Als Deutschland erwacht war,
Wurden die Unterstützungen gekürzt. Meine Kinder
Gaben mir ab und zu einen Groschen. Ich konnte aber
Fast nichts mehr kaufen. Die erste Zeit
Ging ich also seltener in die Läden,
Wo ich früher täglich gekauft hatte.
Aber eines Tages dachte ich nach, und dann
Ging ich doch wieder täglich zum Bäcker, zur Grünkramhändlerin
Als alte Käuferin.
Sorgfältig wählte ich unter den Esswaren,
Griff nicht mehr heraus als früher, doch auch nicht weniger,
Legte die Brötchen zum Brot und den Lauch zum Kohl, und erst
Wenn zusammengerechnet wurde, seufzte ich,
Wühlte mit meinen steifen Fingern in meinem Lederbeutelchen
Und gestand kopfschüttelnd, dass mein Geld nicht ausreiche,
Das Wenige zu bezahlen, und ich verließ
Kopfschüttelnd den Laden, von allen Kunden gesehen.
Ich sagte mir:
Wenn wir alle, die nichts haben,
Nicht mehr erscheinen, wo das Essen ausliegt,
Könnte man meinen, wir brauchten nichts.
Aber wenn wir kommen und nichts kaufen können,
Weiß man Bescheid.

(Bertolt Brecht [1898-1956], zuerst erschienen in der deutschen Exilzeitschrift "Die Sammlung", hg. von Klaus Mann, Heft 12, 1934)


Anmerkung: Der gute Brecht hat die Fähigkeit der Mehrheit der Bevölkerung dieses Landes zur Empathie und Solidarität zu seiner Zeit schon grotesk überschätzt, wie dieses kleine, einfühlsame Gedicht aufzeigt. Heute käme er wohl gar nicht mehr auf den Gedanken, einen solchen Text zu schreiben - der gemeine Deutsche unserer Zeit ist in der Regel vollkommen resistent gegen jede Art von Mitleid, Empathie oder Solidarität und sieht in sichtbarer Armut bestenfalls eine Belästigung und schlimmstenfalls (aber nicht selten) gar eine Bedrohung seines eigenen kleinen Mini-Wohlstands. Die permanente Indoktrination der neoliberalen Bande trägt Früchte: Nicht der absurde, überquellende Superreichtum einiger Weniger wird von der großen Mehrheit der Menschen in diesem Land als Ursache der beginnenden bzw. stetig weiter fortschreitenden Verarmung ausgemacht, sondern ausgerechnet diejenigen, die noch viel weniger haben.

Wenn man, wie wir heute, in einer vom Irrsinn beherrschten Zeit lebt, muss man letzten Endes selber irrsinnig werden, um überleben zu können. Die einzige mir ersichtliche Alternative besteht in einer Flucht - in ferne Länder, in den Wahnsinn, in die Realitätsverleugnung, in digitale oder Traumwelten. Ich persönlich habe mich noch nicht ganz entschieden, ob ich den Irrsinn oder die Flucht bevorzuge - meine zunehmenden Aufenthalte in digitalen Welten wie "Skyrim" und anderen Oasen der Realitätsferne lassen aber darauf schließen, dass mir irgendetwas in mir diese Entscheidung abzunehmen gedenkt.

Damit könnte ich sehr übel aufs Maul fallen, denn es ist ja absehbar, dass die neoliberalen Zerstörungen auch diesmal nicht plötzlich aufhören werden - auch dann nicht, wenn die radikale Zwangsverarmung der Menschen hierzulande längst keinen Besitz und Betrieb von Computern und entsprechenden Spielen mehr erlaubt. Für Menschen, die nicht auf Lohnzahlungen, irgendwelche Rücklagen aus "besseren Zeiten" oder die Hilfe von anderen Menschen zurückgreifen können, ist das heute ja bereits Realität: Kein Hartz-Terror-Opfer kann sich einen halbwegs angemessenen Computer oder gar irgendwelche Spiele leisten. Wenn Lebensmittel und Strom für einen Monat bezahlt sind, befindet sich das prekäre Konto bereits im Minus-Bereich.

Da kann eine alte Frau - wie in Brechts Gedicht - gleich dreimal kopfschüttelnd den Laden ohne Nahrungsmittel verlassen, weil sie zu arm ist, um sie zu bezahlen: Sie wird heute fast nur höhnische, spöttische oder richtig bösartige Kommentare dazu hören. Die Leute wissen Bescheid - interessieren sich aber nicht für die Armut der Anderen. Soll die Alte doch selber sehen, wo sie bleibt und wie sie zurecht kommt - das ist die Essenz des heutigen kapitalistischen Lebensgefühls. In eine solche Horrorwelt möchte man seinen schlimmsten Feind nicht schicken - aber wir leben selber darin.

O Grauen - du hast einen Namen.

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