Montag, 3. November 2014

Zitat des Tages: Flugzeit


Laub fällt, und sichtbar werden
leere Vogelnester im Geäst.
Es regnet, regnet weiter
bis zum Schnee -
Kommt noch ein Tag, auf Nebelhörnern
kühl November blasend,
stehn wir in Wolle eingewickelt
bis zum Kinn und prüfen unser Dach.
Die offnen Stellen füllen wir mit Sorge.
Zeit wär's zu fliegen.

(Rainer Brambach [1917-1983], in: "Zeit wär's. Gedichte und Prosa aus dem Nachlass", Loeper 1985)



Anmerkung: Der verlinkte Wikipedia-Text zum Autor ist wieder einmal ein schlechter Witz, über den sich jegliche ernsthafte Diskussion von selbst verbietet: Haben wir es hier "selbstverständlich" bloß mit reiner "Naturlyrik" zu tun, ebenso wie beispielsweise Brechts "Dreigroschenoper" lediglich einen Krimi darstellt oder Tucholsky ein "Comedian" war? Manchmal fasse ich es nicht, welch stupide Auswürfe bei Wikipedia über einen längeren Zeitraum tatsächlich erhalten bleiben.

Für mich ist dieses Gedicht eine knappe, überaus schmerzliche und treffende Beschreibung unserer heutigen sterbenden Zeit. Der Band aus dem Nachlass des Autors, dem ich es entnommen habe, enthält leider keine Angaben darüber, wann Brambach es geschrieben hat - ich vermute aber, dass es aus der finstersten Zeit der deutschen Geschichte stammt oder zumindest als Rückschau auf dieses Horrorjahrzehnt gemeint war. Mit einer Sache allerdings hat dieses Gedicht wahrlich nichts, aber auch gar nichts zu tun, nämlich mit der "Naturerfahrung des Gärtners". Auf einen solchen Schmarrn - der sich bezogen auf Brambachs Lyrik übrigens bis heute immer noch durch gewisse populär-"literaturwissenschaftliche" Kreise zieht - muss man erst einmal kommen.

Dabei war ich erst gestern Zeuge, wie mehrere Schwärme lärmender Wildgänse den Himmel über mir in Richtung Süden passierten - es war einmal mehr ein fantastisches, überwältigendes Schauspiel, das mich in der Tat an dieses Gedicht erinnert hat. Wer lesen kann, wird dennoch unverzüglich verstehen, weshalb Anlass und Aussage nur in den allerseltensten Fällen etwas miteinander zu tun haben.

Meine Koffer sind jedenfalls gepackt - auch wenn ich nach wie vor nicht weiß, wohin die Reise im Fall der übelsten Fälle heute wohl gehen sollte. Dabei ist der Fall der übelsten Fälle ja bloß noch einen Steinwurf entfernt und die Sorge füllt die klaffenden und stetig erweiternden Löcher im Dach schon längst nicht mehr, sofern sie es je getan hat.

Zeit wär's. Aber ich zaudere.

3 Kommentare:

  1. Wenn du die Möglichkeit hast, dann ergreif die Flucht aus der Stadt und bring dich in Sicherheit. Am Tag X kommt man nicht mehr weg. Die Autobahnen und Straßen werden komplett zu sein....
    Alles Liebe!

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  2. Die ratten verlassen das schiff. Freu dich aufs lager, kommunistensau.

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  3. @ Anonym vom 3. November 2014 11:15:

    Danke für den lieben Ratschlag - allerdings muss ich Dich mit den Worten Karl Kinndts aus dem Jahr 1932 fragen:

    Trübes Lied
    [oder: Wohin soll man flüchten?]

    Herr, wissen Sie einen Ort auf der Welt,
    wohin Sie gern führen, wo's Ihnen gefällt?
    Ich selbst muss die Frage verneinen:
    ich weiß nämlich leider keinen -

    Bei uns ist überall Elend und Not,
    man redet, verleumdet und schießt sich tot;
    statt Silberstreif-Horizonten
    grün-rot-braun-eiserne Fronten!

    In Amerika gibt's keinen Alkohol,
    in Indien fühlt man sich auch nicht wohl,
    und China und Japan bereiten
    sich vor zu "großen Zeiten".

    In Spanien ist immer noch Revolution,
    in Polen hängt man dich auf als Spion -
    und wo die Gewehre nicht knallen,
    hört man die Währungen fallen.

    Am liebsten führ' man nach Afrika,
    doch leider sind nur noch Filmleute da,
    die alles niedermähen,
    um einen Kulturfilm zu drehen.

    Auch die Südsee war schön. Doch gerade zur Zeit
    treten dort Vulkane in Tätigkeit.
    Weshalb ich abends oft bete:
    Herr, schenk' uns die Mondrakete!

    -- Na und? Dann wäre sofort der Mond
    von Kapital-Flüchtlingen bewohnt
    und man träfe am Ende der Mondfahrt
    womöglich grad Herrn von Gontard -

    Groß war die Welt und schön war die Welt,
    bis der Mensch sie verkleinert und bös entstellt!
    Man kann nur auf geistigen Gleisen
    per Alkohol flüchtend verreisen ---

    (Karl Kinndt alias Reinhard Koester [1885-1956], in "Simplicissimus", Heft 45 vom 08.02.1932)

    Siehe hier.

    Liebe Grüße!

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