Freitag, 16. Januar 2015

Zitat des Tages: Unterwegs nach Utopia II


Auf der Flucht
vor dem Beton
geht es zu
wie im Märchen: Wo du
auch ankommst
er erwartet dich
grau und gründlich

Auf der Flucht findest du
vielleicht
einen grünen Fleck
am Ende
und stürzest selig
in die Halme
aus gefärbtem Glas.

(Günter Kunert [*1929], in: "Unterwegs nach Utopia. Gedichte", Hanser 1977)


Anmerkung: Ersetzen wir das Wort "Beton" durch einen fast beliebigen Begriff aus dem reichhaltigen Repertoire der verabscheuungswürdigen Begebenheiten bzw. Perversionen unserer verkommenen Zeit - und der Text bleibt dennoch stimmig und beschreibt in brutaler, stoischer Kühle die Vergeblichkeit jedes Fluchtversuches. Vor diesem furchtbaren System kann man nicht (mehr) fliehen - es bleibt doch nur die Wahl zwischen Resignation/Anpassung und Zorn/Gegenwehr. Ich schwanke zwischen diesen beiden Alternativen ständig hin und her.

Ich weiß nicht, ob Kunert das Wort "Utopia" hier etymologisch bewusst benutzt hat - eigentlich bedeutet "Utopie" in der wörtlichen Übersetzung ja "kein Ort" bzw. "Nirgendwo", beschreibt also einen unerreichbaren Ort bzw. Zustand, während die Ableitung "Utopia" von Thomas Morus schon 1516 für seinen Entwurf eines republikanischen, idealen Staates benutzt wurde. Wie auch immer man diese Wortwahl Kunerts nun verstehen mag: Er war sich offensichtlich 1977 schon sicher, dass das erklärte Reiseziel ein wahrlich gruseliger Ort ist, an dem sich ein halbwegs gesunder Mensch unter gar keinen Umständen wiederfinden möchte. Um so erschreckender ist die Erkenntnis, dass eben jenes Ziel auch 38 Jahre später noch immer dasselbe und teilweise längst erreicht ist.

Das neoliberale, faschistoide "Utopia" steht sozusagen vor der Haustür und kratzt unablässig mit scharfen Messern und gierigen Krallen an unseren Fenstern und Türen. Ich sehe nirgends auch nur den Ansatz eines ernsthaften, erfolgversprechenden Versuches, dem Monster den Eintritt zu verwehren. Unser "Utopia" droht einmal mehr zum beispiellosen Schlachthaus zu werden.

1 Kommentar:

  1. "... aus gefärbtem Glas..."

    Wie wahr. Selig in die Scherben stürzen.

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