Dienstag, 29. September 2015

Zitat des Tages: Hochhaus


Später, als er auf seinem Balkon saß und den Hund aß, dachte Dr. Robert Laing über die außergewöhnlichen Ereignisse nach, die sich während der vergangenen drei Monate in diesem riesigen Apartmentgebäude zugetragen hatten. Jetzt, da sich alles wieder normalisiert hatte, überraschte es ihn, dass es keinen offenkundigen Anfang gegeben hatte, keinen Punkt, von dem ab ihr Leben in eine deutlich unheilvollere Dimension eingetreten war. Mit seinen vierzig Stockwerken und tausend Apartments, seinem Supermarkt und seinen Swimmingpools, seiner Bank und seiner Grundschule - die alle in den oberen Regionen praktisch verlassen dalagen - bot das Hochhaus mehr als genug Gelegenheit zu Gewalttätigkeit und Auseinandersetzung. Seine eigene Einraumwohnung im fünfundzwanzigsten Stock war gewiss der letzte Ort, den Laing als Stätte eines Anfangsgeplänkels gewählt hätte. Diese überteuerte Zelle, die nahezu willkürlich in die steil aufragende Fassade des Apartmentgebäudes gefügt war, hatte er nach seiner Scheidung speziell deswegen gekauft, weil sie ihm Ruhe, Frieden und Anonymität gewährleistete. Trotz aller Bemühungen Laings, sich von seinen zweitausend Nachbarn und dem System belangloser Kontroversen und Irritationen, das ihre einzige Form von Kollektivleben darstellte, fernzuhalten, war es seltsamerweise gerade hier, wo sich das erste bedeutungsvolle Ereignis zugetragen hatte - auf diesem Balkon, wo er jetzt neben einem Feuer aus Telefonbüchern hockte und das gebratene Hinterviertel des Schäferhundes aß, bevor er zu seiner Vorlesung an der medizinischen Hochschule aufbrach.

(James Graham Ballard [1930-2009]: "Hochhaus" [Originaltitel: "High Rise"], Suhrkamp 1992; geschrieben und erstveröffentlicht 1975)

Anmerkung: Dies ist der Beginn des kafkaesk-dystopischen Romans, für den der Suhrkamp-Verlag den folgenden Klappentext ausgewählt hat: "Dieser Roman ist ein Kommentar zu den schrecklichen Möglichkeiten einer fortgeschrittenen Technik und dem rattenhaften Verhalten von Menschen, die in der Falle sitzen. (The Financial Times)" - Es gibt kaum eine passendere Lektüre für unsere untergehende Zeit.


6 Kommentare:

  1. Sollte er springen, könnte er sich einer Randnotiz erfreuen.
    Immerhin –

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  2. @ frei-blog: Hast Du Dir den verlinkten Wikipedia-Text, der eine kurze Inhaltsangabe des Romans enthält, durchgelesen? Oder stehe ich mal wieder auf dem Schlauch und habe Deine Ironie nicht verstanden? Bitte kläre mich doch auf. :-) Danke!

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  3. Für alle Klickfaulen kopier ich den Kram von Wikepedia mal hier rein:

    "Das Hochhaus, in dem sich die gesamte Handlung des Romans abspielt, bietet seinen etwa 2000 Bewohnern alle Annehmlichkeiten des modernen Lebens, wie Schwimmbäder, eigene Schulen, einen Supermarkt und Hochgeschwindigkeitsaufzüge. Gleichzeitig scheint das Gebäude jedoch auch so konstruiert zu sein, dass es die Bewohner von der Außenwelt abschneidet, da ein Verlassen des Hochhauses eigentlich nicht mehr nötig ist. Dies trägt zur Herausbildung einer abgeschlossenen Gemeinschaft bei.

    Schon kurz nachdem die letzten Wohnungen des neu gebauten Hauses bezogen sind, beginnen die sozialen Spannungen zwischen den Bewohnern sichtbar zu werden. Was als unbedeutender Streit um Kleinigkeiten wie die Nutzung der Schwimmbäder beginnt, eskaliert bald zu einer Gewaltorgie, in deren Verlauf sich die Einwohner in drei Schichten aufteilen: die Bewohner der unteren Stockwerke werden zur Unterschicht, die der mittleren zur Mittelschicht und die Bewohner der luxuriösen Penthäuser werden zur Oberschicht.

    Bald kämpfen die verfeindeten Stockwerke hartnäckig um die Nutzungsrechte der Swimming Pools und der Aufzüge, machen aber auch vor Vandalismus keinen Halt. In kürzester Zeit geben die Bewohner alle sozialen Normen auf und verfallen in eine Art von Stammesgesellschaft, in der ein brutaler Kampf aller gegen alle herrscht. Obwohl dies für viele zu Hunger, Tod und Verwüstung ihrer Wohnungen führt, wird zu keinem Zeitpunkt versucht, Hilfe von außen zu holen. Tatsächlich gehen viele der Hochhaus-Bewohner nach wie vor ihrer Arbeit außerhalb des Hochhauses nach, bis man sich schließlich endgültig abschottet, obwohl es fast keine Nahrungsmittel mehr gibt. Selbst nachdem ein Teil der Bewohner verhungert ist oder getötet wurde, scheinen alle Charaktere des Romans glücklich mit der totalen Anarchie zu sein, da sie ihnen die Möglichkeit gibt, aus allen gesellschaftlichen Zwängen auszubrechen und ihren Begierden freien Lauf zu lassen.

    Am Ende beobachten die Überlebenden, wie in den umliegenden Hochhäusern die Stromversorgung zu versagen beginnt, was auf eine ähnliche Degeneration in der Nachbarschaft, oder gar der gesamten Gesellschaft hindeutet."

    Das Wort "Anarchie" wird da aber wie immer falsch benutzt.

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  4. @ frei-blog: Ich finde es schade, dass Du Dich bislang nicht weiter dazu geäußert hast - schließlich möchte ich Deinen Kommentar doch verstehen, was mir ohne Deine Hilfe aber nicht möglich ist.

    @ Schweiger: Ich weiß, ich habe den Wikipedia-Text selbst verlinkt, aber ich muss trotzdem darauf hinweisen, dass diese Inhaltsangabe dem Buch nur entfernt nahekommt und teilweise auch schlicht falsch ist. Für eine erste Einschätzung mag sie gerade ausreichend sein, aber die "Tiefen und Untiefen" des Romans gehen doch sehr, sehr weit darüber hinaus, und das betrifft nicht bloß das Wörtchen "Anarchie". Da hilft nur: Selber lesen! :-)

    Liebe Grüße!

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  5. @Charlie,
    ich weiß auch nicht mehr so genau, was ich mir dazu dachte. Aber: wer ganz oben wohnen möchte, fällt auch tief, sogar in das eigene Grab.
    :-)

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  6. @ frei-blog: Danke für den Hinweis. ;-) Mit dem Buch hat das zwar nichts zu tun, aber ich fasse das mal als ganz persönlichen Ratschlag auf - obwohl mir das Grab doch schon deutlich näher ist als eine Bestrebung himmelwärts ... ;-)

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