Dienstag, 19. Juli 2016

Zitat des Tages: Ein Traum macht Vorschläge


Ich träume - man kann das ja ruhig gestehen - fast nie.
Ich schlafe lieber, sobald ich liege.
Aber kürzlich hab ich trotzdem geträumt, wissen Sie.
Und zwar vom kommenden Kriege.

Aus den Gräbern krochen Millionen Männer hervor
(lauter Freiwillige, wie eine Stimme betonte),
die hoben ihre Gewehre zur Schulter empor
und prüften, wen zu erschießen sich lohnte.

Sie kamen einander entgegen, fertig zum Schuss und stumm ...
Doch da schrie eine Stimme, als wäre jemand in Not!
Da drehten die Männer, wie auf Kommando, die Flinten herum
und schossen sich selber tot.

Sie fielen um in endlosen Reihn.
Ich träume doch eigentlich nie ...
Und wer mag das nur gewesen sein,
der so schrie?

(Erich Kästner [1899-1974], in: "Herz auf Taille. Gedichte", mit Zeichnungen von Erich Ohser alias e.o. plauen, Deutsche Verlags-Anstalt 1928)


1 Kommentar:

  1. Anmerkung: Da ich bereits mehrfach nach der Bedeutung des Buchtitels gefragt wurde, schreibe ich das mal hier hinein: "Herz auf Taille" ist nichts weiter als die poetische, Kästnerische Umschreibung der Redensart vom Herz, das in die Hose rutscht; also ein - satirisches - Synonym für nackte Angst.

    Der Zeichner Erich Ohser hat das wunderbar in seiner Titelzeichnung zum Ausdruck gebracht (zum Vergrößern das Bild anklicken): Man erkennt deutlich eine komplett vollgeschissene Hose.

    Man musste 1928 kein Prophet sein, um das drohende Unheil zu bemerken. Dasselbe gilt allerdings für das Jahr 2016.

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