Freitag, 22. Januar 2010

Interview mit dem Philosophen Peter Zudeick über Gerechtigkeit

Das Thema Gerechtigkeit spielt momentan in unserer Gesellschaft eine große Rolle. Gerechtigkeit wird bei den Verwerfungen der kapitalistischen Wirtschaft vehement eingefordert, aber kaum einer kann genau erklären, um was es sich dabei überhaupt handelt. Gerechtigkeit scheint emotional ein sehr starker Begriff und analytisch eine recht verschwommene Kategorie zu sein. In seinem neuesten Buch "Tschüss ihr da oben. Vom baldigen Ende des Kapitalismus" hat sich der Journalist und Philosoph Peter Zudeick neben einer Beschreibung der politischen und sozialen Widersprüche im gegenwärtigen Crashkapitalismus sowie Vorschlägen zu deren Lösung dem gerechtigkeitstheoretischen Diskurs von Aristoteles bis zu John Rawls gewidmet und versucht, das ideologische Knäuel zu entwirren. (...)

Peter Zudeick: Das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen kennt im Grunde genommen zwei Kriterien: Das eine ist Leistung, das andere Verdienst. Das heißt also: Jeder soll das, was er leisten kann, auch leisten. Es muss ihm aber auch die Möglichkeit eröffnet werden, dies zu tun. Und je nachdem, was er dazu beiträgt, ist sein Verdienst zu berechnen. Es ist also falsch zu meinen, die Leute hätten nur immer ein möglichst großes Stück vom Kuchen im Auge. Es ist durch Hunderte von Untersuchungen nachgewiesen worden, dass die Menschen sehr genau zwischen dem differenzieren können, was jemand beiträgt, und dem, was für ihn herauskommt. Die Leute haben ein sehr feines Gefühl dafür, was gerecht ist, und das Gerede von Politikern und Ökonomen der eher plumpen Art, bei der Forderung nach Gerechtigkeit sei doch nur jeder auf seinen Vorteil aus, ist eher ein Zeichen für deren Borniertheit. (...)

Telepolis: Arbeitslose und Hartz IV-Empfänger müssen vor Erhalt der Leistung ihr Vermögen abschmelzen, während Firmenbesitzer und Manager bei Beanspruchung staatlicher Leistungen davon überhaupt nicht tangiert werden. Eine Gleichbehandlung ist also aktuell nicht in Sicht ...

Peter Zudeick: Natürlich nicht. Damit kommen wir auf meine erste - sehr formale - Definition von Gerechtigkeit zurück: Es geht gerecht zu, wenn Recht und Gesetz für alle gleich gilt und wenn die Gesetze für alle gleich angewendet werden. Schon das wird in diesem Zusammenhang in einer Art und Weise verletzt, dass einem nur schlecht werden kann. Dass ein Unternehmer das Risiko trägt, gilt für einen großen Bereich des aktuellen Wirtschaftens nicht mehr. Der Unternehmer als patron existiert kaum noch. Und für die Managerkaste gibt es so gut wie keine Haftung. Manager lassen sich heutzutage Vollkasko-Verträge vorlegen, die für sie ohne das kleinste Risiko sind, und wenn sie dann so wirtschaften wie jetzt, kann man es ihnen vermutlich nicht einmal verdenken. Dabei gäbe es Möglichkeiten, schon bei den Verträgen anzusetzen. Das Bürgerliche Gesetzbuch begrenzt die Vertragsfreiheit durch "die guten Sitten". Die geltende Rechtssprechung interpretiert das so, dass ein Rechtsgeschäft sittenwidrig ist, wenn es "gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt". Dazu würden auch Managervergütungsverträge gehören. Nur scheint niemand ein Interesse zu haben, hier geltendes Recht anzuwenden.

Und damit komme ich auf meinen Lieblingssatz: Es ist nicht die individualpsychologische Verfasstheit von einzelnen Akteuren, sondern das System, an dem es mangelt. Auf der einen Seite ermöglicht, ermuntert und honoriert das System diese raffgierige und verantwortungslose Art des Wrtschaftens, während auf der anderen Seite der Hartz-IV-Empfänger mit allem haftet, was er hat, obwohl er unverschuldet in Langzeitarbeitslosigkeit gekommen ist. Wenn das keine schreiende Ungerechtigkeit ist, weiß ich überhaupt nicht mehr, was wir mit dem Begriff anfangen sollen.

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