Montag, 10. Mai 2010

Als der Spiegel noch ein Nachrichtenmagazin war: Sind die Löhne zu hoch? (1985)

Das ist der Weg zurück ins 19. Jahrhundert

(...) Direkt aus seinem Osterurlaub war der Bonner Arbeitsminister in der vergangenen Woche nach Venedig gereist. Dort traf Norbert Blüm mit 23 Kollegen aus den westlichen Industrienationen zusammen, um über Wege aus der Massenarbeitslosigkeit zu debattieren.

Am Canale Grande erfuhr der zuständige Ressortchef, daß seine liberalen Koalitionspartner in Bonn die Lösung für das Problem gerade entdeckt hatten. Der Grund für die Arbeitslosigkeit, so FDP-Generalsekretär Helmut Haussmann, seien zu hohe Löhne. Unter dem Beifall seines Parteichefs Martin Bangemann verkündete der Freidemokrat sein Rezept: Arbeitslose sollten sich unter Tarif verdingen, dann komme alles ins Lot. (...)

Blüm hatte noch nicht verarbeitet, was ihm die liberalen Koalitionsfreunde da angedient hatten, da schob Bangemann abenteuerliche Pläne zur Rettung der Renten und zur Sanierung der Krankenversicherung nach - alles auf Kosten der Arbeitnehmer. Erbost über die Liberalen, schimpfte der Christdemokrat: "Das ist der Weg zurück ins 19. Jahrhundert. Mit mir nicht."

(diesen Artikel aus dem Spiegel 16/1985 weiterlesen)

Anmerkung: Man reibt sich verwundert die Augen, wenn man diesen Text komplett liest. Die sozialen Grausamkeiten, die vor 25 Jahren selbst Teilen der CDU (zumindest scheinbar) noch zu weit gingen und von der FDP jedoch schon damals gefordert wurden, sind heute allesamt bittere Realität. Damals berichtete der Spiegel noch kritisch darüber - heute kolportiert er in weiten Teilen nur noch die neoliberale Propaganda und hat jede kritische Distanz verloren. Was für ein politischer, sozialer und journalistischer Niedergang!! - Und ausgerechnet die Verteter der neoliberalen Propaganda sprechen heute so gerne davon, ihre Konzepte seien "modern". Wer politisch interessiert ist, weiß ja um die Lächerlichkeit dieser Aussage, aber in der heutigen Spiegel-Redaktion lässt man das lieber unter den Tisch fallen. - Da kommen wahrlich nostalgische Gefühle auf ... wer die 16 bleiernen Kohl-Jahre miterlebt hat, der weiß, wie unsagbar grotesk das ist.

3 Kommentare:

  1. Bravo! (oder wenn Fiction zur Science wird)
    Da hat man dann ganz hartnaeckig gar nicht locker gelassen und in dem folgenden 1/4 Jahrhundert mit aller Gewalt ein, in jeglichster Hinsicht, fast unfassbar grausliches Deutschland geschaffen.

    "modern" mag ich auch ganz besonders. Das wird beim Scheisse kre'irren gerne missbraucht.
    Dazu ein Beispiel zu “… Moderne Kapitalmarktgesetze" http://www.0815-info.de/News-file-article-sid-10664.html

    Zeiten aendern sich, .. die Geschichte bleibt dieselbe.

    Noch ein aktuelles Beispiel:
    Ein deutsches Bundeskanzler sagt: " Wir verlangen den sofortigen, bedingungslosen, und totalen Rückzug der ausländischen Truppen aus Afghanistan um dem afghanischen Volk zu ermöglichen, eine ihm genehme Regierungsform zu bestimmen und sein ökonomisches, politisches und soziales System ohne Intervention, Subversion oder Zwang von außen zu wählen."
    http://www.mein-parteibuch.com/blog/2010/02/08/wir-verlangen-den-sofortigen-bedingungslosen-und-totalen-rueckzug-der-auslaendischen-truppen-aus-afghanistan/#more-3842

    Auch 'lustig zum weiterlesen.

    Gruss
    Jake

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  2. Kommt mir vor wie das übliche Gespräch, daß ich mit meiner Familie Montags führe. Das können alle schon singen:

    Was HABEN WIR UNS FRÜHER auf den Spiegel gefreut, Seiten kopiert und uns gegenseitig Formulierungen vorgelesen!!!

    Aber dann wurde es immer flacher und bunter. Erst offensichtlich aus ökonomischer Furcht, als vor 17 Jahren der bunte Focus kam und man sich dachte an den Boulevard anpassen zu müssen.
    Unter Gabor Steingart kam dann ab ca 2000 die totale politische Wende in Richtung neoliberal.
    Plötzlich wurde mit einer sagenhaften Verbissenheit gegen alles, das nur irgendwie links wirkte geschossen. Auf Schröder und Fischer natürlich, aber es gab auch mehr und mehr fanatische Kämpfe auf Nebenkriegsschauplätzen.
    Da erschienen ca 137 Artikel gegen Manfred Stolpe und noch mehr gegen Gysi.
    Ich hatte das Gefühl, daß die nie so hart gegen Kohl oder Strauß vorgegangen waren. Und nun bissen sie sich die Zähne an vergleichsweise nun wirklich unwichtigen Figuren ab.
    Und das auch noch aus einer moralisch höchst fragwürdigen Position als „Besserwessi“!
    (Na klar hatte Stolpe als Kirchenpräsident in der DDR mal „kontakte“ zur Stasi. Und? Aus Hamburg a priori den erhobenen Zeigefinger über hundert Artikel zu schwingen, fand ich NUR lächerlich.)

    2002 und 2005 hat der SPIEGEL dann ganz eindeutig und massiv anti-Rot/grün gehetzt und auf Teufel komm raus einen CDU-Kanzler herbei zuschreiben versucht.

    Dabei sind übrigens auch einige Redakteure aus Protest gegangen.
    Sogar Steingart wurde irgendwann gefeuert, weil er einfach zu lächerlich geworden ist.

    2007 freute ich mich, daß endlich Matussek gefeuert wurde.

    http://tammox.blogspot.com/2007/12/gutgutgut.html

    Aber 2010 schreibt der immer noch lange Artikel für den SPIEGEL. Nun auch noch PRO-Katholizismus. Wenn das Augstein, der Atheist noch erlebt hätte!!!


    Ein Trauerspiel.

    Das schlimmste ist aber, daß der SIEGEL einfach nicht mehr witzig ist und nicht mehr schnell ist.
    Immer wieder liest man lange Artikel, in denen überhaupt nichts Neues steht. Und das ist auch noch fad aufbereitet.

    http://tammox.blogspot.com/2010/04/print-abos.html

    Gut, daß Augstein das nicht mehr erleben muß.

    LGT

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  3. @ Jake:

    Danke für die Linktipps. "Mein Parteibuch" verfolge ich bisher nicht so regelmäßig - ich denke, ich sollte das mal ändern. :-)

    Wenn die Menschen 1985 auch nur geahnt hätten, was da auf sie zurollt, wäre der Massenprotest sicher gewesen. Da gab es ja auch noch die entsprechenden Massenmedien (wie eben z.B. den Spiegel oder auch den WDR, der damals von Konservativen ja auch gerne "Rotfunk" genannt wurde - etwas, worüber man angesichts des heutigen Zustandes des Senders nur noch verwundert die Augen reiben kann), die das zumindest halbwegs kritisch begleitet hätten - gegen Springer & Co.

    @ Tammox:

    Es ist ja sehr erfreulich, dass zumindest Deine Familie diesen Wandel des Spiegel tatsächlich auch bemerkt - und ihn bedauert! Ich habe manchmal den Eindruck, wenn ich mit Bekannten oder Kollegen rede, dass dieses Blatt von nicht wenigen Menschen immer noch als ein "Garant für demokratische Überwachung der Politik" gesehen wird. Wie absurd das ist, muss ich hier nicht erwähnen.

    Gerade auch deshalb fand ich diesen alten Artikel so spannend, weil er deutlich die Unterschiede zwischen damals und heute aufzeigt. Und die sind in der Tat dramatisch.

    Und ja: Den einstigen bissigen Humor vermisse ich ganz genauso ...

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