Montag, 3. August 2015

Zitat des Tages: Heute noch


Heute kann ich dich ruhig
Schlafen gehen lassen,
Während ich mit einigen Männern
Noch eine Weile in der Straße
Den Mond betrachte.
Langsam wird er sich
Vor unseren Augen verändern,
Da der Zyklus sich nähert.

Wenn es mir gelänge,
Die Hunde zu überhören,
Die sich in der Ferne
Um die ersten Toten zanken!
Ihr Gebell hat schon das heisere Metall,
Das auch in unseren Stimmen sein wird,
Morgen,
Wenn die verbrannten Gesichter
Aus den Fenstern hängen
Und die blauen Silben des Wassers
Zu roten Buchstaben zerfallen.

(Karl Krolow [1915-1999], in: "Gesammelte Gedichte, Bd. 1", Suhrkamp 1965; geschrieben und vermutlich erstveröffentlicht 1956)

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Anmerkung: Über den Dichter Krolow habe ich vor neun Monaten bereits einige Zeilen geschrieben, die ich hier zur Vermeidung von Wiederholungen einfach verlinke. - Dieses Gedicht jedenfalls beschreibt nach meiner Wahrnehmung sehr eindringlich das Lebensgefühl einer nicht so lang vergangenen Zeit der vehementen Warnungen, über die wir heute aber schon längst weit hinaus sind: Wie immer sind alle Warnungen ungehört und wirkungslos verhallt und der stetig wiederkehrende, zyklische Wahnsinn der kapitalistischen Habgier hat den Bereich des Erahnten/Befürchteten längst verlassen und ist erneut in die Todeszone des schauderhaften Faktischen eingetreten.

In einem der vielen, vielen Nachrufe zum Tode Krolows im Jahr 1999 hieß es beispielsweise im Freitag: "Mit Krolow ist ein Dichter jener großen deutschen Literatur gestorben, der zweifellos zum gesicherten Bestand dieses Jahrhunderts zählen wird. Und wie jetzt eine mit Tinte beschriebene Serviette am leeren Platz seines Esstisches liegt, so auch bleiben die Bücher." - Wir erleben heute allerdings - in allzu trister Wiederholung - das Gegenteil und dürfen einmal mehr der Farce beiwohnen, dass für den kapitalistischen "Zeitgeist" bzw. deren UrheberInnen auch heute wieder läppische 16 Jahre ausreichen, um aus einem "gesicherten Bestand" eine vollkommen vergessene, redundante Randnotiz der jungen Geschichte zu machen, die fast niemand mehr kennt.

Nichts in dieser verkommenen Welt des billigen Scheins ist so "effizient" wie das kapitalistisch motivierte bzw. bewusst forcierte Vergessen.

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