Freitag, 12. Juni 2015

"Das macht einen stutzig": Wenn Propaganda "Qualitätsjournalismus" heißt und zur Satire wird


Manchmal glaubt man es ja nicht, was im zwangsgebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Qualitätsjournalismus so alles zum Besten gegeben wird - ich habe ja längst damit aufgehört, mich darüber noch ernsthaft aufzuregen. Allzu oft gleitet dieser kapitalistische, elitenhörige Propagandasturm inzwischen in Grau- bzw. Braunbereiche ab, die allenfalls noch mit dem Stürmer-Niveau längst vergangen geglaubter Zeiten zu vergleichen sind. Gelegentlich findet sich aber auch ein versehentlich satirisches Highlight wie dieses, das ich gestern beim (*prust*) "Rotfunk"-Sender WDR entdeckt habe:

Dort berichtet die "Aktuelle Kamera Stunde" über die Pläne der Fluggesellschaften, die Größe des Handgepäckes, das Reisende ohne Aufpreis mitnehmen dürfen, deutlich zu beschränken. Die Qualitätsjournalisten klären ihre ZuschauerInnen bzw. LeserInnen umfassend auf:

Fast 40 Prozent weniger als bislang passt in die neuen Koffer mit dem Logo "IATA Cabin OK", die in dieser Woche auf der Jahrestagung vorgestellt wurden. Wer also gewohnt war, zehn T-Shirts mitzunehmen, müsste dann mit sechs auskommen.

Abgesehen davon, dass diese "Nachricht" an der Lebenswirklichkeit eines Großteils der Menschen in diesem Land völlig vorbeigeht, die aufgrund der staatlich verordneten Zwangsverarmung niemals - und erst recht nicht regelmäßig - ein Flugzeug von innen sehen werden, möchte ich nun gerne einen Rest-"Reisenden kennenlernen, der zehn oder meinetwegen auch nur sechs T-Shirts in seinem Handgepäck transportiert. Nach meiner unmaßgeblichen Meinung als Hobbysatiriker gehören ins Handgepäck doch eher solche Dinge wie Teppichmesser, Revolver oder kleine Fläschchen voller Nitroglycerin - aber derlei Terrorpläne sollte ich vielleicht besser nicht im Internet ausplaudern.

Die Pointe der Geschichte heben sich die Qualitätsjournalisten des "Rotfunkes" aber noch auf, denn erst zwei Absätze später lassen sie einen ihrer geliebten Super-Spezial-Experten zu Wort kommen, der mit dem folgenden, geradezu revolutionsheischenden Ausspruch zitiert wird (bitte setzt Euch vorm Lesen, sonst fallt ihr um und tut Euch weh):

"Grundsätzlich machen solche Standards ja schon Sinn, aber der Zeitpunkt macht einen stutzig", sagt Reiserechtler Ronald Schmid, Sprecher des Fluggastportals FairPlane. Er vermutet kommerzielle Interessen hinter den Beschränkungen, die für die Fluggesellschaften zu zusätzlichen Einnahmen etwa für aufgegebenes Gepäck führen sollen.

Atemlose Stille herrschte, als ich das las. Der Schweiß perlte heiß auf meiner Stirn, der Harndrang wuchs ins Unerträgliche. Wird jetzt die Revolution in Deutschland ausbrechen? Es gibt also tatsächlich vereinzelt Unternehmen in diesem Wunderland, dem es doch so unfassbar "gut geht", die einzig an schnödem Profit - noch dazu auf Kosten der geliebten Kunden! Skandal! - interessiert sind und ihr Handeln darauf ausrichten? - Nein! Das kann doch gar nicht wahr sein, wie kommt der Super-Spezial-Experte denn bloß auf eine solche absurde Verschwörungstheorie? Kommerzielle Interessen im Biene-Maja-Merkel-Kapitalismus, das kann es gar nicht geben! Ich war heillos verwirrt und dachte minutenlang an Selbstmord.

Ganz am Schluss gibt der Qualitätssender WDR zum Glück aber doch noch Entwarnung und ich konnte mich wieder erleichtert entspannen und weiter RTL2 gucken - denn es handelt sich natürlich nur um eine "Empfehlung" und die Fluggesellschaften bleiben auch weiterhin vollkommen "unabhängig und frei". Dann wird es ein kommerzielles Interesse in unserer geliebten freiheitlich-demokratischen und allein dem Gemeinwohl verpflichteten Wirtschaft also auch weiterhin nicht geben, welch ein Glück! - Es folgen nun noch der Sport und das Wetter.

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Moderner Geschäftsgeist


"Hilfe! Hilfe!" - "Wieviel Rettungslohn können Sie zahlen?"

(Zeichnung von Rudolf Grieß [1863-1949], in "Simplicissimus", Heft 21 vom 19.08.1919)

Donnerstag, 11. Juni 2015

Musik des Tages: Violinkonzert in d-moll




  1. Allegro moderato
  2. Adagio di molto
  3. Allegro ma non tanto

(Jean Sibelius [1865-1957]: "Konzert für Violine und Orchester in d-moll", Op. 47 aus den Jahren 1903/05; Chicago Symphony Orchestra, Violine: Maxim Vengerov, Leitung: Daniel Barenboim, 2011)

Anmerkung: Dieses grandiose Musikstück des finnischen Meisters der untergehenden Romantik ist ein wunderbares Beispiel für die hanebüchene These, große Kunst habe "nichts mit Emotionen zu tun": Die Mimik und Körpersprache der hier beteiligten MusikerInnen und des Dirigenten legen diesbezüglich ein beredtes Zeugnis ab. Sicher leiden sie allesamt an Epilepsie, haben vor dem Konzert Drogen genommen oder zuviel Zeit auf einschlägigen Webseiten verbracht, die derartigen Bockmist munter verbreiten.

Einmal mehr gilt hier meine bekannte Empfehlung: Man setze sich einen guten Kopfhörer auf den Schädel, lösche das Licht und drehe die Musikanlage weit auf - dann steht einer aufwühlenden geistig-emotionalen Reise in unbekannte Tiefen nichts mehr im Wege.

Mittwoch, 10. Juni 2015

Die dressierte Bevölkerung: Über "Selbstoptimierung" und pseudo-freiwillige Überwachung


Ein Gastbeitrag von Altautonomer.

Zum ersten Mal hörte ich von den Fitnessarmbändern, auch "Wearables" oder "Lifetracker" genannt, vor ca. einem halben Jahr. Ein Sportmediziner meinte damals, dass diese Dinger in den USA bereits wie frische Semmel ihren Massenabsatz gefunden hätten und dieser Trend in den nächsten Monaten auch nach Deutschland schwappen werde. Diese Information habe ich seinerzeit noch mit einer Handbewegung abgetan, weil ich dachte, das sei sowieso nur etwas für ambitionierte Freizeit- oder Hobbyleistungssportler und Triathleten.

Der Preis von rund 60 Euro ist für diejenigen, die ohne Smartphone heute nicht mehr leben können und mit ihrem Hüftgold nicht mehr leben wollen, durchaus akzeptabel. Das bekannteste Produkt darunter ist die "AppleWatch". Allein im ersten Halbjahr 2014 soll dieser Markt um 684 Prozent gewachsen sein.

Nun lese ich in der letzten Ausgabe des Magazins meiner gesetzlichen Krankenversicherung auf drei Seiten einen Jubelartikel (also schlichte Reklame) über derartige Armbänder. Mit der Teilnahme an einem Gewinnspiel kann man sogar eine "AppleWatch" erwerben. Dazu betätigt sich dort ein prominenter Professor einer renommierten Sporthochschule als wohlfeiles PR-Mietmaul und empfiehlt den Tracker für Anfänger.

Diese kleinen Geräte sind mit einer Menge winziger Chips und Sensoren ausgestattet, die neben der Pulsfrequenz (es gibt inzwischen einige Hersteller, deren Geräte dies auch ohne Brustgurt ermitteln können - der Puls wird direkt am Handgelenk durch optoelektrische Sensoren gemessen) und der Körpertemperatur auch das Schlafverhalten (Summton bei ausreichender Dauer), die täglich zu Fuß zurückgelegte Strecke einschließlich Schrittzähler, den Kalorienverbrauch und den Sauerstoffgehalt des Blutes messen und speichern. Der Nutzer wird bei entsprechender Aktivierung dieser Funktion aufgefordert, täglich einen bestimmten Umfang an körperlichen Aktivitäten zu absolvieren und bei Verspätungen oder Nichterreichen der gesteckten Ziele durch ein akustisches Signal - bis hin zu einem leichten Elektroschock - daran erinnert. Viele dieser Geräte sind mit einer GPS-Funktion ausgestattet, die Geschwindigkeiten und Streckenverläufe aufzeichnet: Sozusagen der Personaltrainer am Handgelenk. Die gesammelten Daten sendet das Gerät via Bluetooth an ein Smartphone und eine spezielle App wertet die Informationen aus. Google hat dafür sogar ein eigenes Betriebssystem entwickelt, das sogenannte "Android Wear".

Dabei liegt es auf der Hand, dass derart sensible Daten die Gier anderer Institutionen und Datenverwerter wecken. Der Romanautor Marc Elsberg hat in seinem 2014 erschienenen Thriller "ZERO" ("Sie wissen, wer du bist, wo du bist und was du als nächstes tun wirst") die Gefahren der freiwilligen Preisgabe von sehr persönlichen Daten zum Zwecke der Selbstoptimierung durch professionelle Vermarktungsunternehmen zum Gegenstand seiner Erzählung gemacht. Es sind nicht nur facebook, Twitter, NSA und BND, die einerseits auf freiwilliger Basis, andererseits heimlich unsere Daten absaugen und verwerten. Es sind auch die User selbst, die entweder ahnungslos, naiv oder egozentrisch und leistungsorientiert auch diesen "trendigen" Unsinn mitmachen. Nur am Rande sei erwähnt, dass die IT-Experten von Kaspersky-Lab davor warnen, dass die Geräte zudem leicht zu hacken seien.

Mit der elektronischen Gesundheitskarte wurden alle Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen zwangsweise zu gläsernen Patienten. Nun steht ein "Trend" auf der Matte, der viele Menschen nach dem alten, unsäglich dummen Motto "Ich habe doch nichts zu verbergen" dazu verleiten soll, freiwillig weitere intime Daten an Fremde weiterzugeben. In den USA haben einige Krankenkassen längst ein "Bonusprogramm" für Mitglieder entworfen, die sich dieser permanenten Überwachung freiwillig unterwerfen.

Die Barmer GEK und die AOK Nord sind mit mobilen Apps auf der Jagd nach den Fitness-Daten ihrer Mitglieder. Die Analyse der Fitness-Tracker spart diesen Konzernen langfristig Geld: Je mehr Versicherte ihre Daten preisgeben, desto präziser wird die Risikoanalyse der Krankenkassen. Auch die Schwenninger Krankenkasse ist an den Gesundheitsdaten ihrer Mitglieder sehr interessiert. Während die AOK Nordost einen "health score" ermittelt und keine Belohnungen anbietet, ist die "FIT2GO"-App der Barmer GEK mit dem eigenen Bonusprogramm verknüpft.

Für Arbeitgeber wäre es sicher interessant, ein Mitarbeiterranking nach Fitness-Status in Kombination mit der Krankenstatistik zu führen - selbstverständlich alles ganz freiheitlich-demokratisch nur auf der Basis der Freiwilligkeit. Niemand wird dazu gezwungen. Aber diejenigen, die sich womöglich weigern mitzumachen, machen sich doch sehr verdächtig ... der Begriff der "Freiwilligkeit" wird hier ganz bewusst ad absurdum geführt.

Die bisherige Krönung in der Produktpalette ist der "SexFit", der Fitnessmesser für den Schniepel:

"SexFit" wird mit einer kostenlosen Smartphone-App synchronisiert und bietet Informationen über den Kalorienverbrauch beim Knattern und die Stöße pro Minute. So wie andere Fitness-Gadgets erlaubt es auch "SexFit", die Daten in den sozialen Medien mit der ganzen Welt zu teilen. Im Extremfall könnte der Chef am nächsten Morgen auf seinem PC-Bildschirm sehen, wer am Vorabend nach der Betriebsfeier mit wem noch geschnackselt - oder es zumindest versucht - hat.

Dienstag, 9. Juni 2015

Zitat des Tages: Sonnenuntergang


Die letzten weißen Wolkenflotten fliehen.
Der Tag hat ausgekämpft
über dem Meer.
Wie eine rote Blutlache liegt es,
in der das Land wie Leichen schwimmt.
Vom Himmel tropft ein Eiter: Mond.
Es wacht kein Gott.

In Höhlen ausgestochner Sternenaugen
hockt dunkler Tod.
Und ist kein Licht.
Und alles Tier schreit wie am Jüngsten Tag.
Und Menschen brechen um
am Ufer.

(Oskar Kanehl [1888-1929], in: "Steh auf, Prolet! Gedichte", mit Illustrationen von George Grosz, Malik 1920; Erstdruck in: "Die Aktion", Jahrgang 4, 1914)


Montag, 8. Juni 2015

Song des Tages: Du bist schön




(Novalis: "Du bist schön", aus dem Live-Album "Novalis lebt!", 1993; ursprünglich aus dem Album "Neumond", 1982)

Wenn du auch öfter mal krank bist
ein wenig hässlich und klein
und beim Reden stotterst
im Rollstuhl sitzt mit gelähmten Beinen

Hast du auch Angst vor den Menschen
wie sie mit Blicken über dich reden:
"Mein Gott, wie arm!" - "Der ist bestimmt blöd!" -
"Eine Erlösung wär's für ihn, in den Tod zu geh'n!"

Wenn du auch das Tanzen nicht kennst
dich nackt deiner Hässlichkeit schämst
und meistens irgendeine Hilfe brauchst
weil eine Stufe deinen Weg verbaut

So kannst du fühlen, denken, wie wir auch
und willst ausgelassen und fröhlich sein
doch du musst immer darum kämpfen
dass dich die Hilflosigkeit nicht besiegt.

Ja, du bist schön, tief in dir drin
das ist viel mehr wert als ein Traumgesicht.
Kein Spiegel zeigt es, kein Messer zerschneidet es
eitel und vergänglich ist es nicht.

Wenn du dann gut gemeint ins Heim sollst
ist dir nach Sterben zumut
du fühlst dich abgeschoben, ein Schandfleck
aus aller Augen fort, isoliert.

Das versteh'n nicht mal deine besten Freunde
du hast Pflege, bist unter Gleichen, es geht dir gut
dann schließt dich deine Einsamkeit ein
du lebst unter uns - und bleibst allein.

Ja, du bist schön, tief in dir drin
das ist viel mehr wert als ein Traumgesicht
Kein Spiegel zeigt es, kein Messer zerschneidet es
eitel und vergänglich ist es nicht.