Samstag, 30. April 2011

Zitat des Tages: Die Hamletmaschine

Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis. Unter der Sonne der Folter. An die Metropolen der Welt. Im Namen der Opfer. Ich stoße allen Samen aus, den ich empfangen habe. Ich verwandle die Milch meiner Brüste in tödliches Gift. Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe. Ich ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. Ich begrabe sie in meiner Scham. Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Hass, die Verachtung, der Aufstand, der Tod. Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.

(Heiner Müller [1929-1995]: Die Hamletmaschine. Berlin 1977)

Der heutige Kapitalismus zerstört die Grundfesten der Demokratie

Einkommensverteilung ist nicht nur eine soziale Frage. Auch ökonomisch betrachtet spricht vieles für eine neue, gerechtere Ordnung. Der heutige Kapitalismus zerstört die Grundfesten der Demokratie. (...)

Insgesamt gilt: Wenn sich Einkommen immer stärker bei den reichsten zehn oder zwanzig Prozent der Bevölkerung konzentriert, während Löhne, Renten und Sozialleistungen stagnieren oder sinken, dann stagnieren auch Konsum, Investitionen und Wachstum. Zugleich fließt immer mehr Geld auf die Finanzmärkte. Das war vor Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 der Fall, und das ist heute so. (...)

Die wachsende Ungleichheit ist allerdings nicht nur Ergebnis falscher Politik, sondern vor allem Produkt der heutigen wirtschaftlichen Eigentums- und Machtverhältnisse. Der marktgläubige Wirtschaftsliberalismus sei deshalb fatal, hatte schon der Ökonom Walter Eucken gewarnt, weil er marktbeherrschende Oligopole entstehen lasse, deren enorme Macht fortan jede Politik verhindert, die sich gegen ihre Interessen richtet.

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Anmerkung: Dieser knappe Text Sahra Wagenknechts, den die Financial Times Deutschland dankenswerter Weise abgedruckt hat, sei jedem empfohlen, der beim üblichen neoliberalen Einheitsbrei der Massenmedien, die nicht müde werden, immer wieder von angeblich "sinkenden Arbeitslosenzahlen", "starkem wirtschaftlichem Wachstum" und ähnlichem Unsinn mehr zu berichten, schaurigen Hautausschlag bekommt.

Die Parallelen der heutigen zur fatalen Zeit von 1929 und danach beschränken sich indes nicht nur auf die wachsende Ungleichheit und die steigende Arbeitslosigkeit und Armut (auch bei vorhandener Arbeit) - es sind massenhaft Tendenzen auszumachen, die in genau dieselbe Richtung deuten, die die Welt damals eingeschlagen hat.

Der Kapitalismus in seiner Endphase zerstört in der Tat die Demokratie - das war früher so, das ist folgerichtig auch heute der Fall. Um Demokratie geht es im Kapitalismus aber nicht - der funktioniert in einer Diktatur sogar viel besser ("effizienter"). Demokratie, Menschenrechte, Freiheit ... das sind alles keine Ziele oder Werte des Kapitalismus, darum geht es nicht. Auch "Wohlstand für viele" oder gar "alle" ist kein Ziel des Kapitalismus und war es nie - allen Unkenrufen zum Trotz. Wenn hierzulande die Propagandapresse jubiliert, dass der Export neue Höchststände erreicht habe, geht das zwangsläufig einher mit der (auf Seite 10 versteckten oder nicht in einen ursächlichen Zusammenhang gebrachten) Nachricht, das Land XY lebe "über seine Verhältnisse", weil es mehr importiert als exportiert.

Der Überschuss des einen ist das Defizit des anderen - eine kleine logische Rechnung, die den Menschen aber nicht mehr erklärt wird.

Da kann nur noch ein Zitat von Heiner Müller den Zustand beschreiben und die Dramatik vor dem inneren Auge sichtbar machen: "Wir stecken bis zum Hals im Kapitalismus."

Tendenz: stark steigend.

Lesetipp: Sanktionen bei Arbeitslosengeld II-Empfängern

Auf der Seite sanktionsstudie.de können Sie die Masterarbeit eines Diplom-Sozialpädagogen zum Thema "Sanktionen bei Arbeitslosengeld II-Empfängern" lesen, die an Deutlichkeit und Brisanz kaum Wünsche offen lässt. Ein Zitat:

"Unkritisch wurde von Medien in den Jahren 2009/2010 immer wieder die Forderungen von Politikern wiedergegeben, dass angeblich 'arbeitsunwillige' Arbeitslosengeld II-Empfänger stärker zu bestrafen seien – dem Autor stellt sich schon die Frage, ob die betreffenden Politiker (vor allem aus den Reihen der CDU und der FDP) die Rechtsgrundlagen kennen und wenn ja, wie denn eine härtere Bestrafung aussehen soll, die umfassender ist als die komplette Streichung der Leistungen inklusive Kostenübernahme der Krankenversicherungsbeiträge."

Mir stellt sich bei diesem Thema vornehmlich die Frage, wie solche "Sanktionen auf 0" - also die komplette Verweigerung des Existenzminimums einschließlich der Miete und der Krankenversicherung - mit dem Grundgesetz und mit der Feststellung des Bundesverfassungsgerichtes vereinbar sein sollen:

Der Menschenwürdegrundsatz des Art. 1 und das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 gebieten, "jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu sichern, die für seine physische Existenz sowie für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind" (Leitsatz 1). Dieses Grundrecht ist unverfügbar und muss eingelöst werden.

Wie kann es sein, dass dieses angeblich unverfügbare "Grundrecht" durch den Hartz-Terror offensichtlich doch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft - also "verfügbar" - ist, die quasi willkürlich von irgendwelchen mehr oder minder qualifizierten behördlichen Mitarbeitern festgelegt werden können? - Ein ausdrücklich als solches bezeichnetes Existenzminimum, das an willkürliche Verordnungen einzelner Sachbearbeiter gekoppelt ist - das hätte sich die Redaktion der Titanic nicht besser ausdenken können. Das ist grotesk.

Entweder das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht sind eine Farce - oder die Hartz-Gesetze sind es. Der Schluss liegt nahe, für welche Antwort man sich zu entscheiden hat.