Freitag, 1. März 2013

Schöne neue EU: Haftgrund Asylantrag


Politisch Verfolgte genießen Asyl – und können in Zukunft europaweit in Gefängnisse gesteckt werden. Das sieht eine Richtlinie der Europäischen Kommission vor, die noch in diesem Jahr beschlossen werden soll.

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Anmerkung: Dazu passt auch wunderbar diese Meldung (via daMax):

"Die EU-Kommission hat ihre Pläne für ein Ein- und Ausreisesystem nach US-Vorbild und ein Vorzugsprogramm für Vielreisende konkretisiert. Der am Donnerstag von Innenkommissarin Cecilia Malmström in Brüssel vorgestellte Verordnungsentwurf "Smart Borders" sieht vor, dass Ausländer sich künftig mit allen zehn Fingerabdrücken bei der Einreise in die EU von der Grenzkontrolle registrieren lassen müssen. Außerdem sollen Zeitpunkt und Ort der Einreise und Ausreise von Drittstaatsangehörigen erfasst werden. (...) / Das neue elektronische System soll die zulässige Dauer eines Kurzaufenthalts automatisch berechnen und einen Warnhinweis an die nationalen Sicherheitsbehörden erzeugen, wenn der Betreffende bis zum Ablauf der Aufenthaltsdauer nicht ausgereist ist, insbesondere bei Kurzzeitvisa."

Wir steuern da mit Vollgas auf den totalen Überwachungs- und Abschottungsstaat zu, der Orwell'sche Maßstäbe sogar übersteigt. Konkret bedeuten diese Maßnahmen, dass nicht mehr "nur" Flüchtlinge auf dieselbe Stufe mit Kriminellen gestellt werden, sondern generell sämtliche Ausländer aus Nicht-EU-Staaten, die euphemistisch "Drittstaaten" genannt werden. Und dieses Pack faselt allen Ernstes etwas von "Reisefreiheit", während es an solchen "Richtlinien" bastelt! Da stehen mir sämtliche Haare zu Berge.

Die Schwarzgeld-Bande in Deutschland ist in dieser Hinsicht allerdings etwas gespalten: Einerseits gefällt diesen ElitehüterInnen der menschenverachtende Umgang mit Flüchtlingen und anderen "undeutschen" Personen sehr und sie versuchen ihn ständig zu verschlimmern - andererseits beschwören sie weiterhin den angeblichen "Fachkräftemangel" und wollen Sklaven, die zu Niedrigstlöhnen Schwerstarbeit verrichten, in weitaus größerem Umfang als bisher ins Land holen. Anders formuliert heißt das nichts anderes, als dass Menschen aus "Drittstaaten" jederzeit sehr gern nach Deutschland kommen dürfen - sofern sie ihre Menschenrechte samt der Würde an der Grenze abgeben, Sklavenarbeit für einen Appel und ein Ei verrichten und im Fall der Arbeitslosigkeit, Krankheit oder des Renteneintritts nicht die "üppigen Sozialsysteme" der Bankenrepublik Deutschland zum Schmarotzen benutzen, sondern gefälligst wieder verschwinden.

Dieses Land und diese EU bzw. deren neoliberalen Zerstörer werden mir allmählich so widerlich, dass mir die unflätigen Worte dafür ausgehen.

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Weltangst



(Zeichnung von Alfred Kubin [1877-1959], in "Simplicissimus", Heft 4 vom 22.04.1934)

Dienstag, 26. Februar 2013

Zitat des Tages: Biedermann und die Brandstifter. Eine Burleske


Eines Morgens kommt ein Mann, ein Unbekannter, und du kannst nicht umhin, du gibst ihm eine Suppe und ein Brot dazu. Denn das Unrecht, das er seiner Erzählung nach erfahren hat, ist unleugbar, und du möchtest nicht, dass es an dir gerächt werde. Und dass es eines Tages gerächt wird, daran gebe es keinen Zweifel, sagt der Mann. Jedenfalls kannst du ihn nicht wegschicken, du gibst ihm Suppe und Brot dazu, wie gesagt, und sogar mehr als das: Du gibst ihm recht. Zuerst nur durch dein Schweigen, später mit Nicken, schließlich mit Worten. Du bist einverstanden mit ihm, denn wärest du es nicht, müsstest du sozusagen zugeben, dass du selber Unrecht tust, und dann würdest du ihn vielleicht fürchten. Du willst auch nicht dein Unrecht ändern, denn das hätte zu viele Folgen. Du willst Ruhe und Frieden, und damit basta! Du willst das Gefühl, ein guter und anständiger Mensch zu sein, also kommst du nicht umhin, ihm auch ein Bett anzubieten, da er das seine, wie du eben vernommen, durch Unrecht verloren hat. Er will aber kein Bett, sagt er, kein Zimmer, nur ein Dach über dem Kopf; er würde sich, sagt er, auch mit deinem Estrich begnügen. Du lachst. Er liebe die Estriche, sagt er. Ein wenig, noch während du lachst, kommt es dir unheimlich vor, mindestens sonderbar, beunruhigend, man hat in letzter Zeit gar viel von Brandstiftung gelesen; aber du willst Ruhe, wie gesagt, und also bleibt dir nichts anderes übrig als keinen Verdacht aufkommen zu lassen in deiner Brust. Warum soll er, wenn er will, nicht auf dem Estrich schlafen? Du zeigst ihm den Weg, den Riegel, die Vorrichtung mit der Leiter und auch den Schalter, wo man Licht machen kann. Allein in deiner schönen Wohnung eine Zigarette rauchend, denkst du mehrere Male genau das gleiche: Man muss Vertrauen haben, man soll nicht immer gleich das Schlimmste annehmen, wenn man einen Menschen nicht kennt, und warum soll der gerade ein Brandstifter sein! Immerhin nimmst du dir vor, ihn morgen wieder auf den Weg zu schicken, freundlich, ohne dass ein Verdacht ihn kränken soll. Du nimmst dir nicht vor, kein Unrecht zu tun; das hätte, wie gesagt, zu viele Folgen. Du nimmst dir nur vor, freundlich zu sein und ihn auf freundliche Weise wegzuschicken. Du schläfst nicht immer in dieser Nacht; es ist schwül und die Geschichten von wirklichen Brandstiftern, die dir so beharrlich einfallen, sind zu läppisch, ein Schlafpulver gibt dir die verdiente Ruhe ... Und am anderen Morgen, siehe da, steht das Haus noch immer! - Deine Zuversicht, dein Glaube an den Menschen, selbst wenn er im Estrich wohnt, hat sich bewährt. Es drängt dich nicht wenig, edel zu sein, hilfreich und gut; beispielsweise mit einem Frühstück. Von Angesicht zu Angesicht, so während ihr den gemeinsamen Kaffee trinkt und jeder sein Ei löffelt, schämst du dich deines Verdachtes, kommst dir schäbig vor, und jedenfalls ist es unmöglich, ihn wegzuschicken. Wozu solltest du! Nach einer Woche, wie er noch immer in deinem Estrich wohnt, hast du vollends das Gefühl, jede Angst überwunden zu haben, und auch als er eines Tage seinen Freund bringt, der ebenfalls in deinem Estrich schlafen möchte, kannst du zwar zögern, aber nicht widersprechen. Zögern; denn es ist einer, der schon einmal, Gott weiß warum, im Gefängnis gesessen hat und eben erst entlassen worden ist. Ihn allein hättest du nie in deinen Estrich gelassen, das ist selbstverständlich. Er ist auch viel frecher als der erste, das macht vielleicht das Gefängnis, und ganz geheuer ist es dir nicht, zumal er, wie er ganz offen gesteht, wegen Brandstiftung gesessen hat. Aber gerade diese Offenheit, diese unverblümte, gibt dir das Vertrauen, das du gerne haben möchtest, um Ruhe und Frieden zu haben; am Abend, da du trotz ehrlichem Gähnen nicht schlafen kannst, liest du wieder einmal das Apostelspiel von Max Mell, jene Legende, die uns die Kraft des rechten Glaubens zeigt, ein Stück schöner Poesie; mit einer Befriedigung, die das Schlafpulver fast überflüssig macht, schläfst du ein ... Und am andern Morgen, siehe da, steht das Haus noch immer! - Deine Bekannten greifen sich an den Kopf, können dich nicht verstehen, fragen jedesmal, was die beiden Gesellen in deinem Estrich machen, und liegen dir auf den Nerven, so dass du immer seltener an den Stammtisch gehst; sie wollen dich einfach beunruhigen. Und ein wenig, unter uns gesagt, ist es ihnen auch gelungen; jedenfalls hast du den beiden Gesellen etwas aufgelauert und nicht ohne Erfolg; allein die Tatsache, dass sie kleine Fässlein auf deinen Estrich tragen, kann deinen Menschenglauben nicht erschüttern, zumal sie es in aller Offenheit machen und auf deine scherzhafte Frage, was sie denn mit diesen Fässlein wollten, sagen sie ganz natürlich, sie hätten Durst. In der Tat, es ist Sommer, und im Estrich, sagst du dir, muss es sehr heiß sein. Einmal, als du ihnen im Wege gestanden, ist ihnen ein Fässlein von der Leiter gefallen, und es stank plötzlich nach Benzin. Einen Atemzug lang, gib es zu, warst du erschrocken. Ob das Benzin sei? hast du gefragt. Die beiden, ohne ihre Arbeit einzustellen, leugneten es auch in keiner Weise, und auf deine eher scherzhafte Frage, ob sie Benzin trinken, antworteten sie mit einer so unglaublichen Geschichte, dass du, um nicht als Esel dazustehen, wirklich nur lachen konntest. Später jedoch, allein in deiner Wohnung, lauschend auf das Rollen der munteren Fässlein, die nach Benzin stinken, weißt du allen Ernstes nicht mehr, was du denken sollst. Ob sie deine edle Zuversicht wirklich missbrauchen? Eine Weile, dein Feuerzeug in der Hand, die feuerlose Zigarette zwischen den trockenen Lippen, bist du entschlossen, die beiden Gesellen hinauszuwerfen, einfach hinauszuwerfen. Und zwar noch heute! Oder spätestens morgen. Wenn sie nicht von selber gehen. Ganz einfach ist es nämlich nicht, im Gegenteil; wenn sie keine Brandstifter sind, tust du ihnen sehr unrecht, und das Unrecht macht sie zu bösen Menschen. Böse gegen dich. Das willst du nicht. Das auf keinen Fall. Alles. Nur kein schlechtes Gewissen. Und dann ist es immer so schwierig, die Zukunft vorauszusehen; wer keine Tatsachen sehen kann, ohne Schlüsse zu ziehen, und wer sich alles bewusst macht, was er im Grunde weiß, mag sein, dass er manches voraussieht, aber er wird keinen Augenblick Ruhe haben; ganz zu schweigen von den Ahnungen. Die Tatsache, dass sie Benzin in deinen Estrich tragen, was heißt das schon? Der eine, der Freund, hat nur gelacht und gesagt, sie wollen die ganze Stadt anzünden. Das kann ein Scherz sein oder eine Aufschneiderei. Wenn sie es ernst meinten, würden sie es niemals sagen. Dieser Gedanke, je öfter du ihn wiederholst, überzeugt dich vollkommen; das heißt, er beruhigt dich. Und der andere sagte sogar: Wir warten nur auf einen günstigen Wind! Es ist läppisch, sich von solchen Reden einschüchtern zu lassen; zu unwürdig. Einen Augenblick denkst du an Polizei. Aber wie du, um dich nicht durch falschen Alarm lächerlich zu machen, dein Ohr an die Zimmerdecke legst, was keine ganz einfache Veranstaltung gekostet hat, ist es vollkommen still. Du hörst sogar, wie einer schnarcht. Und überhaupt kommt die Polzei nicht in Frage; schon weil du selber strafbar wärest, dass du solche Leute in deinem Hause hast, wochenlang, ohne sie anzumelden.

Aber vor allem sind es natürlich die menschlichen Gründe, die dich von solchen Schritten abhalten. Warum sagst du den beiden Gesellen nicht einfach und offen, du möchtest kein Benzin in deinem Estrich haben? Offenheit ist immer das beste. Und dann, plötzlich, musst du selber lachen, dass dir dieser Einfall jetzt erst kommt: sie werden doch dein Haus nicht anzünden, wenn sie selber im Estrich sind! Immerhin kletterst du, schon im Pyjama, noch einmal auf den Sessel, auf die Kommode und den Schrank. Er schnarcht wirklich. Eine halbe Stunde später ruhest auch du ... Und am andern Morgen, siehe da, steht dein Haus noch immer! –

Die Sonne scheint, der Wind hat gedreht, die Wolken ziehen über die Dächer der Stadt, und gesetzt den Fall, es wären wirklich böse Gesellen, gerade dann ist es nicht einfach, sie einfach hinauszuwerfen; nicht ratsam; denn solange du ihr Freund bist, werden sie wenigstens dich verschonen. Freundschaft ist immer das beste! Und wenn du an diesem Morgen hinaufgehst und sie zum Frühstück bitten willst, so ist das nicht Tücke, nicht Berechnung, sondern eines jener herzlichen Bedürfnisse, die man plötzlich hat und die man, wie du mit Recht sagst, nicht immer unterdrücken soll. Die Leiter zum Estrich ist bereits gezogen, die Türe offen, du musst nicht einmal klopfen. Der Estrich, den du aus Rücksicht schon lange nicht mehr besucht hast, ist voll von kleinen Fässlein, und der eine, der Freund, der aus dem Gefängnis, steht eben an der Dachluke, hält den nassen Finger hinaus, um die Windrichtung festzustellen; der andere ist leider schon ausgegangen, komme aber wieder.

Mit deinem Frühstück ist es also nichts. Er komme aber bestimmt im Laufe des Tages, sobald er, wie der Freund in seiner immer etwas scherzhaften Art sagt, die erforderliche Holzwolle beisammen habe. Holzwolle? Es fehlte nur noch, dass er von einer Zündschnur redete. Einen Augenblick bist du wieder etwas verwirrt, etwas betreten, was du allerdings nicht zeigen willst. Im Grunde, das weißt du, kann kein Mensch so frech sein, wie dieser sich den Anschein gibt, nur weil er meint, du fürchtest ihn.

Ein für allemal entschlossen, dich nicht zu fürchten, entschlossen, deine Ruhe und deinen Frieden zu erhalten, tust du, als hättest du nichts gehört, und im übrigen, was das Frühstück betrifft, kann das ja auch ein andermal sein. Deine freundschaftliche Geste ist schon als solche nicht wertlos. Vielleicht zum Abendbrot. Mit Vergnügen, sagt der Kauz, sofern sie Zeit hätten und nicht arbeiten müssten; das hänge vom Wind ab. Er ist wirklich ein Kauz. Und natürlich bist du nun nicht wenig neugierig, ob sie tatsächlich zum Abendessen kommen, ob sie deine Freundschaft überhaupt wollen. Vielleicht hättest du deine Freundschaft schon früher bekunden sollen. Aber lieber jetzt, sagst du, als zu spät! Mit Recht vermeidest du ein allzu besonderes, ein auffälliges Abendessen; immerhin holst du einen Wein aus dem Keller, um ihn für alle Fälle kühl zu stellen. Leider kann man am Abend, als sie gegen neun Uhr endlich kommen, nicht mehr auf der Terrasse sitzen; es ist zu windig.

Ob er Holzwolle gefunden habe? fragst du, um dem Gespräch bald eine persönliche Note zu geben. Holzwolle? sagt er und schaut den Freund an, wie man einen Verräter anschaut. Dann, Gott weiß warum, musst du selber lachen, und schließlich lachen sie auch. Holzwolle, nein, Holzwolle habe er nicht gefunden, aber etwas anderes, Putzfäden aus einer Garage. Gefunden: dass das nichts anderes heißt als gestohlen, daran kannst du nicht zweifeln. Überhaupt haben sie sehr eigene Ansichten betreffend Recht und Unrecht.

Nach der ersten Flasche, du hast den Wein nicht umsonst gekühlt, erzählst du, dass du auch schon Unrecht begangen hast. Da sie schweigen, erzählst du mehr und mehr, indem du, ihre Freundschaft ist es dir wert, die zweite Flasche entkorkst. Offensichtlich fühlen sie sich wie zu Hause; der Freund, der Frechere, dreht deinen Rundfunk an, um den Wetterbericht zu hören.

Dann wünschen sie nur noch eines: Streichhölzer. Nichts wäre verfehlter, als wenn du jetzt wieder zusammenzucktest; auf Verdacht ist keine Freundschaft aufzubauen. Wozu Streichhölzer? Es gelingt dir, jedes beleidigende Zittern zu vermeiden und Zigaretten anzubieten, als ginge dir nichts durch den Kopf, und dann, das ist kein schlechter Einfall, bietest du Feuer mit deinem eigenen Feuerzeug, das du nachher wieder in die Tasche steckst. Das Gespräch geht weiter, das heißt, sie hören zu, sehen dich an und trinken Wein. Dein ehrliches Geständnis, wieviel Unrecht du begangen hast, rührt sie nicht mehr, als es die Höflichkeit verlangt; überhaupt wirken sie sehr geistesabwesend.

Eine dritte Flasche, die du schon zwischen den Knien hast, lehnen sie ab. Da du sie trotzdem öffnest, wirst du sie allein trinken müssen. Nur beim Abschied, als du gewisse Hoffnungen ausdrückst, dass die Menschen einander näher kommen und einander helfen, bitten sie dich nochmals um Streichhölzer. Ohne Zigaretten. Du sagst dir mit Recht, dass ein Brandstifter, ein wirklicher, besser ausgerüstet wäre, und gibst auch das, ein Heftlein mit gelben Streichhölzern, und am andern Morgen, siehe da, bist du verkohlt und kannst dich nicht einmal über deine Geschichte wundern.

(Max Frisch [1911-1991]: Biedermann und die Brandstifter. Eine Burleske. In: "Tagebuch 1946-1949")


Anmerkung: Ich spare mir an dieser Stelle jeden Interpretationsansatz dieses von Frisch mehrfach verarbeiteten Stoffs (ein Hörspiel und ein Drama folgten dieser ersten Prosaversion später), da ich finde, dass der Text für sich selber spricht. Für Interessierte gibt es aber im Netz einige verfügbare Beispiele - in einer gut sortierten Bibliothek allerdings noch wesentlich mehr.

Der alltägliche Rassismus


Die Gesellschaft ist nicht ausreichend sensibilisiert, was die Diskriminierung von Sinti und Roma angeht. Das zeigt Hans-Peter Friedrichs Versuch, Roma im Eilverfahren aus dem zu Land jagen. Anmerkungen zum Holocaust-Gedenktag. (...)

[Die negativen Stereotype über den Juden oder den "Zigeuner"] sind der Schatten von jenen Eigenschaften, die die Mehrheit an sich selbst nicht wahrhaben möchte. Für Hitler verkörperten Sinti und Roma ein "Gegenbild zur Herrenrasse". Die Vorurteile haben überlebt – auch wenn sie heute subtiler in Erscheinung treten. Im Gegensatz zum Bürgerlichen stehen "Zigeuner" für das Vorzivilisatorische und Wilde, also das Arbeitsscheue und Sittenlose.

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Anmerkung: In die Riege der "alltäglichen Rassisten", die sich quer durch die gesamte neoliberale Einheitspartei zieht, hat sich auf Seiten der "Sozialdemokratie" zu Thilo Sarrazin ein weiterer bemerkenswerter Lokalpolitiker, diesmal aus Bremen, gesellt, der mit erfrischenden Formulierungen wie diesen aufgefallen ist: "Es muss erstaunen, dass eine so hoch entwickelte Stadt wie Bremen ihre Liebe zu Roma und Sinti entdeckt, die, sozial und intellektuell, noch im Mittelalter leben, in einer uralten patriarchalischen Gesellschaft. (...) Es ist ein Patriarchat, dessen Männer keine Hemmungen haben, die Kinder zum Anschaffen statt zur Schule zu schicken, ihren Frauen die Zähne auszuschlagen und sich selber Stahlzähne zu gönnen. Viele der jungen Männer schmelzen sich mit Klebstoffdünsten das Gehirn weg."

Zu solchen Ergüssen, die in rechtsradikalen Kreisen sicherlich mit stehenden Ovationen und hochgereckten rechten Armen gefeiert würden, fällt mir - abgesehen vom Griff zur Kotztüte - nicht mehr viel ein. Ich bin aber davon überzeugt, dass nicht wenige Menschen ganz ähnlich denken willkürliche Vorurteile hegen und pflegen, sich das Aussprechen aber (noch) nicht so recht getrauen. Auch der Innenminister H.P. Friedrich gehört zur illustren Runde dieser selbsternannten "Herrenmenschen": "Mit Eilverfahren an der Grenze will Friedrich die Roma wieder aus dem Land jagen, die zuvor aus erbärmlichen Verhältnissen fliehen mussten", berichtet die Frankfurter Rundschau. Da wächst zusammen, was zusammen in den Abfall gehört - egal ob SPD oder CSU. Inwiefern dieser Antiziganismus heute allerdings "subtiler" sein soll als vor 90 Jahren, wie die FR meint, erschließt sich mir nicht. Oder ist nach der Meinung des Autors alles "subtiler", was nicht direkt zu Konzentrationslagern und Vernichtung führt?

Ich darf an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass es derartige negative Stereotype natürlich auch in Bezug auf viele andere menschliche Gruppen gibt - die alltägliche Hetze gegen Muslime, Türken, Schwarze, Erwerbslose und viele andere zeigt das ja deutlich. Es bereitet mir große Sorge, dass es inzwischen fast schon selbstverständlich auch innerhalb der Politik wieder solche Spinner gibt, die ihren rechtsradikalen gedanklichen Unrat ungefiltert in die Welt posaunen. Der Schritt von der verbalen zur "handfesten" Diskriminierung samt aller böser Folgen ist ein verdammt kleiner.

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"Der Mensch ist ein politisches Geschöpf, das am liebsten zu Klumpen geballt sein Leben verbringt. Jeder Klumpen hasst die andern Klumpen, weil sie die andern sind, und hasst die eignen, weil sie die eignen sind. Den letzteren Hass nennt man Patriotismus."

(Kurt Tucholsky: Der Mensch. In: "Die Weltbühne", Nr. 24 vom 16. Juni 1931)