Donnerstag, 26. Mai 2016

Realitätsflucht (30): Fall of Setarrif


Über das Hauptspiel "Arcania" habe ich mich hier vor einiger Zeit schon ausführlich ausgelassen - jetzt habe ich auch endlich das Add-on "Fall of Setarrif", das eigentlich gar kein Add-on, sondern - wie so oft - ein künstlich herausgetrennter Teil des Hauptspieles ist - durchspielen können. Das schaurige Pseudofinale von "Arcania", das ich in meiner Rezension aus dem vorigen Jahr bemängelt habe, wird hier nachgeholt.

Es versteht sich von selbst, dass fast sämtliche Berichte, die im Netz zu finden sind, dem Spiel ungenügende Noten ausstellen - was aber, wie schon in der ursprünglichen Rezension angemerkt, größtenteils auf dem fatalen Irrtum beruht, es handele sich hier um ein Spiel aus der "Gothic"-Reihe. Das ist indes Unsinn.

"Fall of Setarrif" führt die Geschichte aus "Arcania" konsequent an ihr Ende und macht dabei - sofern man eben kein "Gothic" erwartet - eine Menge Spaß. Es bleibt dabei, dass das Spiel viel zu einfach ist, was man aber durch die einstellbare Schwierigkeitsstufe ("leicht", "normal", "schwer" oder "gothic" [sic!]) ausgleichen kann. Doch selbst ein Grobmotoriker wie ich hat es bis auf wenige Ausnahmen problemlos geschafft, das Spiel im "schweren" Modus bis zum Ende durchzuspielen. Ein solches Erfolgserlebnis ist für Opas wie mich gar nicht hoch genug zu bewerten.

Ansonsten gibt es nicht viel dazu zu sagen - man schnetzelt sich halt genretypisch durch Horden von Bestien, Untoten, Monstern, Dämonen und ähnlichem Viehzeug und hat dabei doch hin und wieder Spaß, wenn der politisch inkorrekte Humor in diversen Dialogen auftritt:

Du hast keinen Sack - Du hast nur ein Säckchen.

"Fall of Setarrif" ist auch ohne das Hauptspiel installier- und spielbar. Es gibt nur vereinzelte Bugs, die eher lustig sind; das Spiel läuft unter Windows 7 einwandfrei (der peinliche Fauxpas des Hauptspieles, das nur dann startet, wenn die Soundqualität auf 48.000 Hz heruntergeschraubt wird, wird hier nicht wiederholt). Die deutsche Vertonung ist professionell und - erkennbar - dieselbe wie beim Hauptspiel. Dasselbe gilt für die Musik - das brandenburgische Staatsorchester hat die wundervollen Plagiate der romantischen Musik aus dem 19. Jahrhundert perfekt eingefangen.

Wer der Schnauze voll von der unsäglichen Realität unserer untergehenden Zeit und Spaß an solchen Fluchtszenarien hat, sollte sich dieses Spiel nicht entgehen lassen.


Zitat des Tages: Offener Brief an Angestellte


Vorgesetzte muss es geben.
Angestellte müssen sein.
Ordnung ist das halbe Leben.
Brust heraus und Bauch hinein!

Vorgesetzte tragen feiste
Bäuche unter dem Jackett.
Feist ist an dem Pack das meiste,
und sie gehn nur quer ins Bett.

Sie sind fett aus Überzeugung.
Und der bloße Anblick schon
zwingt uns andre zur Verbeugung.
Korpulenz wird Religion!

In den runden Händen halten
sie Zigarren schussbereit.
Jede ihrer Prachtgestalten
wirkt, als wären sie zu zweit.

Manche sagen (wenn auch selten),
sie verstünden unsre Not.
Und wir kleinen Angestellten
schmieren uns den Quatsch aufs Brot.

Atemholen sei nicht teuer,
sagen sie, und nahrhaft auch!
Und dann hinterziehn sie Steuer
und beklopfen sich den Bauch.

Nagelt ihnen auf die Glatzen
kalten Braten und Coupons!
Blast sie auf, und wenn sie platzen!
Gibt es schönre Luftballons?

Lasst sie steigen und sich blähen,
über Deutschland, hoch im Wind!
Bis sie alles übersehen,
weil sie Aufsichtsräte sind.

Wenn sie eines Tags verrecken,
stopft sie aus und weckt sie ein!
Tiere kann man damit necken,
Kinder kann man damit schrecken,
aber euch? Ich hoffe: Nein!

(Erich Kästner [1899-1974], in: "Lärm im Spiegel. Gedichte", mit Illustrationen von Rudolf Großmann, C. Weller 1929)


Mittwoch, 25. Mai 2016

Flatter und die faulen Hartzies


Über die angebliche Dummheit, Lethargie und Passivität der versammelten Horde der Opfer des Hartz-Terrors in diesem furchtbaren Land, denen es ja laut offizieller Propaganda "gut" gehe, ist schon viel geschrieben worden. Entsetzt habe ich nun aber zur Kenntnis nehmen müssen, dass selbst linke Blogger, denen ich ein Mindestmaß an Empathie zugetraut habe, in exakt dieselbe Kerbe hauen und die Opfer-Täter-Verkehrung geradezu mit Wollust zelebrieren.

Der ansonsten oft geschätzte flatter versteigt sich in den Kommentaren zu seinem jüngsten Beitrag zur folgenden Aussage:

Es ist ja wie gesagt nicht so, als hätte ich noch kein Jobcenter von innen gesehen - eine Konsequenz daraus ist btw. die, nie nicht einen Antrag zu stellen -, es gibt aber ja so viele Hartzer und noch mehr von Hartz Bedrohte und 'Prekäre', dass abzüglich der Deprimierten noch genügend Potential bleibt. Auch die Deprimierten schreibe ich übrigens nicht ab. Hätten sie eine Lobby, könnten sie durchaus erwachen. Das Problem ist vordergründig, dass deren Stammvetretung, Sozen und Gewerkschaften, ihre eifrigsten Peiniger sind. Ein Albtraum. Deshalb frage ich hier nach Möglickeiten massenhafter Organisation. Woanders geht das ja.

Das saß schon, aber es geht leider noch schlimmer, denn flatter legt nach einem allzu berechtigten Veto nach:

"Das ist ein Luxus, den man sich wohl irgendwie leisten können muss...?" - Ja, man muss im Zweifelsfall körperlich fit genug sein, um sich seinen Lebensunterhalt durch Klauen und Abzocken zu verdienen. / "zudem haben sie einfach keine Zeit für sowas, sie sind vollauf damit beschäftigt ..." - So, haben sie nicht? Weil sie ganz wichtig[e] Jobs machen müssen, von denen sie nicht leben können? Fernsehn gucken? Seite drei lesen? Glaube ich nicht.

- um dann in der gruseligen Rhetorikfrage zu enden, ob die Kritik an dieser grobsinnigen Situationsbeschreibung lediglich der "Glitzerlack für die Friedhofsbank" sei.

Puh. Das saß. Wenn derlei Schmonzes aus der Springer-Presse oder von den Schlips-Borg der "Tagesschau" auf mich einprasselt, kann ich das ja einordnen und routinemäßig unter dümmlicher Propaganda abheften - aber hier? Wenn ausgerechnet der "Feynsinnige", der ansonsten oft so gute Texte schreibt, hier ins selbe Horn stößt und dumpfe, neoliberale, menschenverachtende Propaganda zum Besten gibt, wie sie übler auch die kapitalistische Presse nicht hinbekäme, ist der "Glitzerlack für die Friedhofsbank" tatsächlich - wieder einmal - selbstgemacht, während die Herrschaft amüsiert zuschaut.

Ich tue das nicht gerne, muss aber hier einmal aus meinem ganz persönlichen Nähkästchen plaudern, um den Irrsinn dieser gruseligen Pauschalbewertungen ersichtlich zu machen: Momentan stehe ich wieder einmal - und das ist keine Ausnahmesituation, sondern in immer wiederkehrender Endlosschleife die Regel - vor der Wahl,

  1. mir entweder genug Lebensmittel für die nächsten zwei Wochen zu kaufen, oder
  2. die Telekom zu bezahlen, damit ich auch weiterhin Telefon und Internet zur Verfügung habe, oder
  3. dem örtlichen Energiekonzern Kohle zu überweisen, damit mir der Zugang zur Stromversorgung nicht gekappt wird.

Es darf nun wild gemutmaßt werden, mit welchen hochphilosophischen Fragen ich mich - nicht nur ausnahmsweise - alltäglich herumplage und wieso da zunehmend weniger Raum für konstruktive Beiträge im Blog oder gar bezüglich der "Organisation der Prekären" bleibt.

Lieber Herr flatter, wenn Du tatsächlich in der Lage bist, dem staatlichen Hartz-Terror einfach dadurch zu entgehen, indem Du keinen Antrag stellst, ist das wunderschön für Dich und stellt Dich in eine Reihe mit den Schlips-Borg, die genau das ja beabsichtigen, geht aber an der Realität der meisten Menschen völlig vorbei. Es ist kein Zufall, dass die Rate der Suizide im hartz-terrorisierten Westen ebenso stetig zunimmt wie die Organisation der Abgehängten sich auflöst. Einige Gründe dafür nennst Du sogar, lässt aber die wesentlichsten außen vor. Auch der stärkste Charakter wird durch kontinuierliche Existenzangst letzlich geschliffen und auf die existenziellen Fragen nach Brot, Wohnung und rudimentärer sozialer Teilhabe durch das Internet zurückgeworfen - und all das ist kein Zufall, sondern beabsichtigte und geplante Konsequenz des Hartz-Terrors.

Es geht nicht darum, den Schwächsten, den Abgehängten und Aussortierten mangelnde Organisation, dümmlichen Fernsehkonsum und Lethargie vorzuwerfen. Anzuklagen sind hier vielmehr die sogenannten Mittelschichtler, die sich noch in der Kotspur des Kapitals eingerichtet zu haben glauben; die ihre SUV-Panzer durch die Straßen steuern und ihrem Nachwuchs durch private Nachhilfe zu einem besseren Start in das Leben im Haifischbecken verhelfen möchten, während sie Arme bis hin zur Obszönität und faschistischen Menschenfeindlichkeit verachten.

Ich habe meine Wahl getroffen und verbringe den Rest dieses Monats ohne frische oder gar gesunde Lebensmittel, hoffe auf die Kulanz der Telekom und verschulde mich lieber, um dem Stromkonzern auch weiterhin seine Ausschüttungen an die Aktionäre zu ermöglichen, damit ich wenigstens noch elektrisches Licht in der Wohnung habe. Man könnte das auch "Glitzerlack für den Untergang des faulen Charlie" nennen.

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Sklavenmarkt



(Gemälde von Jean-Léon Gérôme [1824-1904] aus den Jahren 1870/80, Öl auf Leinwand, Sterling and Francine Clark Art Institute, USA)

Montag, 23. Mai 2016

Buchempfehlung: Die Kuppel der Hoffnung


Den Beginn des heute gar nicht mehr so furchtbar utopischen Romans "Die Kuppel der Hoffnung", den der sowjetische, nicht unumstrittene Autor Aleksandr Kazancev im Jahre 1980 (dt. 1984) veröffentlicht hat, zieren gleich mehrere bedenkenswerte Vorbemerkungen und Zitate - ich konzentriere mich hier jedoch auf das Zitat Goethes, das dem unmittelbaren Beginn des vom Autor als "Traumbuch" bezeichneten Science-Fiction-Romans, nämlich dem ersten Kapitel ("Ein Feind des Hungers - Unser tägliches Eiweiß") vorangestellt ist:

Es gibt nur wenige Menschen, deren Fantasie auf die Wahrheit der realen Welt gerichtet ist. Gewöhnlich ziehen sie es vor, in unerforschte Länder zu entweichen und in Verhältnisse, von denen sie nicht die geringste Vorstellung haben und welche die Fantasie auf die wunderlichste Weise ausschmücken kann.

Dies ist in der Tat das Programm dieses ungewöhnlichen Romans, der sich mit dem Hunger in der Welt, seiner Bekämpfung und damit - wen wundert's angesichts der Herkunft des Autors und der Zeit der Entstehung - selbstverständlich auch mit den bösen Auswirkungen des Kapitalismus beschäftigt: Kazancev hat nämlich eine sehr genaue Vorstellung vom Thema seines Romanes und präsentiert dem geneigten Leser ein profundes Wissen über Zusammenhänge und Selbstverständlichkeiten, die unseren heutigen Massenmedien ferner sind als die übernächste Galaxie.

Im Klappentext heißt es:

"Den Wissenschaftlern aller Länder ist klar, dass es keine Raumfahrt, keinen Flug zu den Sternen geben wird, solange die Probleme der Erde nicht gelöst sind, allen voran Problem Nummer eins: der Hunger. Auf nationaler Ebene jedoch lässt es sich nicht lösen, internationale Zusammenarbeit ist dazu nötig, und die Forscher müssen dem Zugriff und dem Einfluss der Getreidemultis und anderer Privatinteressen entzogen sein, die mit dem Hunger der Welt ihre Geschäfte machen.

Einer Gruppe internationaler Wissenschaftler gelingt es, die UNO für ein gigantisches Projekt zu interessieren und es in Angriff zu nehmen: Eine Forschungsstation im Eis der Antarktis, geschützt durch eine riesige Kuppel, in der Forscher aus allen Ländern der Erde (...) an der Herstellung künstlicher Nahrung auf der Basis von Kasein, Soja-Öl und Candida-Hefen arbeiten sollen.

Doch was als geschütztes Refugium geplant war, erweist sich als verletzliches Gebilde, das die Gegner des Projekts mit allen Mitteln zu sabotieren und zu vernichten bestrebt sind: Die Kuppel der Hoffnung."

Wir können heute, 36 Jahren nach der Erstveröffentlichung dieses Buches, allenthalben verfolgen, wie "Getreidemultis und andere Privatinteressen" den Hunger in der Welt geflissentlich zu ihrem eigenen Profit zementieren und ausbauen - sogar gänzlich ohne ein ehrgeiziges, wenn auch nicht unumstrittenes Projekt wie die "Kuppel der Hoffnung".

Der Roman regt in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken an - beispielsweise ob es tatsächlich eine Lösung sein kann oder sollte, künstliche Nahrung, wie sie heute ja schon vielfach industriell produzierte Grusel-Realität im Sog des Profitzwangs ist, zu präferieren - und bietet darüber hinaus viel Spielraum für gedankliche Alternativen zum zerstörerischen Kapitalismus. Auch über den Schluss des "Traumbuches" kann man trefflich streiten - aber ich will nicht spoilern und verrate hier nichts weiter.

Fakt bleibt aber: Im Jahre 2016 gibt es nichts, das auch nur annähernd eine Bezeichnung wie "Kuppel der Hoffnung" verdiente - heute müssen wir uns längst wieder mit Begriffen wie "Szenario der möglichst wenigen Toten" oder "Wenn schon Hunderttausende Hunger leiden und sterben, soll das wenigstens nicht vor meiner Haustür geschehen" zufrieden geben. Und der grausige Abgrund rückt unaufhaltsam näher, für uns alle.

Und die "Elite" schlemmt und lacht weiter in ihren Luxusvillen an den schönsten, für alle anderen Menschen selbstredend verbotenen Orten dieses sterbenden, schreienden, traumlosen Planeten.



(Aleksandr Kazancev [1906-2002]: "Die Kuppel der Hoffnung", 1980, dt. Heyne 1984)