Freitag, 5. Mai 2017

Das Ende der Solidarität: "Unterm Strich zähl' ICH"


Ich erinnere mich noch gut (und äußerst ungern) an die Zeit, als eine gute Freundin Anfang der 90er Jahre in den Fängen der Osho-Sekte (vormals Bhagwan) feststeckte und ich verzweifelt darum bemüht war, sie aus diesem esoterischen, furchtbaren und zerstörerischen Sumpf wieder hinauszubegleiten. Damals begegnete mir zuerst die auch heute in solchen Kreisen übliche Geisteshaltung, die u.a. in einem Sinnspruch wie diesem zum Ausdruck kommt: "Wenn jeder nur an sich selber denkt, ist doch an alle gedacht!"

Diese zutiefst egoistische Weltsicht ist heute allerdings auch jenseits ominöser Sektenkreise weit verbreitet und muss sogar als kapitalistischer Gesellschaftskonsens angesehen werden, der – gerade auch von den Massenmedien – stetig befeuert und proklamiert wird. Eine perfide Reklamebotschaft wie "Unterm Strich zähl' ich" ist symptomatisch für diesen krankhaften Zustand.

So verwundert es nicht weiter, dass inzwischen selbst mit diesem ekelhaften Prinzip Geschäfte gemacht werden. Offensichtlich gehört das menschenfeindliche Prinzip "Jeder ist sich selbst der Nächste" längst auch zur grausigen "deutschen Leitkultur", wie sie nicht nur Thomas "die Misere" in die Welt erbricht.

Vor kurzem war auf Zeit Online ein Text zu lesen, der dies auf erschreckende Weise illustriert. Unter dem Titel "Eine Tupperparty für Apokalyptiker" berichtet die Autorin Friederike Oertel dort:

Benjamin fährt mit einem Fluchtrucksack U-Bahn, hortet zu Hause Wasserkanister und ein Notradio. Er trainiert für Katastrophen und verdient damit sogar Geld. Warum? / (...) Es ist eine Tupperparty für Apokalyptiker: Viel Theorie, keine Praxis, Teilnahmegebühr 60 Euro und die Gadgets können direkt im Anschluss bei ihm bestellt werden. Fünfzehn Leute sind gekommen: Eine Anwältin ist im Internet auf den Kurs gestoßen. Sie hat den Thriller Blackout gelesen, in dem der österreichische Schriftsteller Marc Elsberg die Folgen eines europaweiten Stromausfalls beschreibt. Nun will sie wissen, was zu tun ist, wenn das Ende naht. Ein Teilnehmer Mitte 30 sucht die extreme Naturerfahrung, ein Pärchen spürt eine diffuse Bedrohung, fühlt sich vom Staat im Stich gelassen und will die Vorsorge nun selbst in die Hand nehmen. Eine ältere Dame in rosa Tweedblazer mustert ein Pulver, aus dem man Omelett zubereiten kann und erkundigt sich nach dem Preis. Eine Monatsration mit getrocknetem Gemüse, Pumpernickel und Vollmilchpulver kostet 279 Euro. Die Rettung in postapokalyptischen Zeiten hat ihren Preis.

Die Lektüre lohnt sich. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, welchen Stellenwert der pure Egoismus – im Zweifel stets auch auf Kosten anderer, möglicherweise völlig unbeteiligter Personen – im Weltbild des "modernen Menschen", der im Kapitalismus leben muss, inzwischen einnimmt. Das kommt in Sätzen wie diesen zum Ausdruck: "Auch ein Fluchtrucksack ist gepackt. Darin: robuste Kleidung, Seile, Messer, eine Machete – die braucht er, falls er sich den Weg freikämpfen muss." – Hier wird nicht einmal mehr ansatzweise die Möglichkeit angedacht, dass Menschen im Falle einer tatsächlichen Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes vielleicht doch besser überleben können, wenn sie gemeinschaftlich handeln und sich gegenseitig helfen, anstatt auf einzelkämpferischen Egoismus zu setzen. Die Filmindustrie der vergangenen Jahrzehnte hat hier freilich ebenso fleißig an der rückhaltlosen Auflösung jedweder Solidarität mitgestrickt wie die Politik und die politischen Medien.

Jemand wie der im Text vorgestellte Benjamin mag in diesem Szenario vielleicht nur eine "Geschäftsidee" sehen, mit deren Hilfe er auf relativ einfache Weise persönlichen Profit generieren kann – die beteiligten Firmen tun das jedoch in jedem Fall. Dennoch ist hier eine Tendenz klar erkennbar, die das kapitalistische Prinzip des "The winner takes it all" (das logischerweise impliziert, dass die überwiegende Mehrheit der "loser" nichts bekommt und somit – in diesem Szenario – schlicht krepiert) zu einem perversen "Gesetz" erhöht, welches noch weit hinter die Steinzeit zurückfällt.

Benjamin hat allerdings auch nichts dagegen, wenn die Katastrophe ausbleibt: Im Anschluss an seinen Kurs können sich die Teilnehmer für ein Survival-Training im Wald anmelden. Auf dem Programm stehen Feuer machen, Wasser filtern, Nahrungssuche, das Schlachten eines Kaninchens – Pfadfinden für Erwachsene. Solange die Apokalypse ausbleibt, ist Preppen für ihn vor allem ein gutes Geschäft.

Ein Sinnbild für diese gruselige Geisteshaltung ist der zum Sterben zurückgelassene, bis zur Nacktheit ausgeplünderte, frierende und weinende alte Mann im Ausnahmefilm "The Road", an dem auch die beiden "Helden" dieser Geschichte achtlos und unsolidarisch vorübergehen und ihn damit dem sicheren Tod überlassen. Dieser großartige Film, den ich trotz mancher Widersprüchlichkeiten nur wiederholt empfehlen kann, weil er nicht irgendeinen Idealzustand, sondern das heute wahrscheinlichste Szenario des kapitalistischen, egoistisch motivierten Unterganges auf die Leinwand bringt, in dem es selbstredend kein hollywoodtypisches Happy End gibt, zeigt das Dilemma sehr gut auf. – Ich höre schon die Einwände: Wenn es doch so wahrscheinlich ist, dass kapitalistisch (a-)sozialisierte Menschen sich im Fall der Fälle so schrecklich verhalten, wieso soll dann die Vorbereitung darauf falsch sein?

Dem halte ich entgegen: Wer sich menschenfeindlich verhält, wird stets auch nur Menschenfeindlichkeit erfahren. Es ist dringend an der Zeit, die Solidarität neu zu entdecken und dem kapitalistischen Terror des Eigennutzes endlich wieder den Stinkefinger zu zeigen. Und das müssten insbesondere junge Menschen, die anders ticken als Benjamin, tun. Nur – wo sind sie?

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"Bedaure, ich bin im Verein gegen Bettelei!"

(Lithographie von Honoré Daumier [1808-1879] aus dem Jahr 1844, aus der Serie "Les philantropes du jour"; unbekannter Verbleib)

Mittwoch, 3. Mai 2017

Zynismus 4.0: Tolle Tipps für Zwangsverarmte


Die Systempresse wird nicht müde, den kapitalistischen Terror schönzureden. Gelegentlich kommen dabei auch wahre Stilblüten heraus, wie beispielsweise dieser Text aus der Redaktion von n-tv, in dem RentnerInnen, die im kapitalistischen Glitzerparadies aus unerfindlichen, aber selbstverständlich stets eigenverantwortlichen Gründen in bitterer Armut vor sich hin vegetieren, "nützliche Tipps" präsentiert werden, wie sie trotz der mageren Rente dennoch ein gut funktionierendes Rädchen im Konsumterror bleiben können:

Nicht selten müssen ältere Menschen jeden Cent zweimal umdrehen. Vielen ist das unangenehm und sie ziehen sich zurück. Dabei kann es helfen, offen mit dem Thema umzugehen. Zum Beispiel gibt es auf Nachfrage oft Rabatte für Senioren.

Das muss man sich, wie so oft in dieser Zeit, auf der Zunge zergehen lassen: Hier wird einmal mehr nicht mehr nach den Ursachen für Altersarmut gefragt – diese wird einfach als gleichsam gottgegeben vorausgesetzt – und erst recht wird dieser grausige Zustand nicht mehr kritisiert oder gar skandalisiert. Die Armut ist einfach da, und anstatt etwas dagegen zu tun, empfiehlt man den Betroffenen lieber (ich fasse das mal zusammen):

  1. Man solle lernen, über die eigene Armut zu sprechen und selbstbewusst damit umzugehen. – Das tut so weh, dass ich mir ganz selbstbewusst einen Schraubenzieher ins Knie stechen will.
  2. Man solle ein Haushaltsbuch führen – denn bekanntermaßen können Arme mit Geld nicht umgehen (sonst wären sie nach kapitalistischer Unlogik ja nicht arm) und müssen daher schriftlich festhalten, dass sie zu wenig zum Leben haben.
  3. Man solle Geschenke für die buckelige Verwandtschaft und Freunde lieber "selber machen", anstatt sie zu kaufen. So lasse sich eine Menge Geld einsparen. – Mein Schädel ist spätestens an dieser Stelle geplatzt wie ein prall mit Wasser gefüllter Luftballon, den jemand vom Eiffelturm heruntergeworfen hat.
  4. Man solle sich Bücher leihen, anstatt sie zu kaufen. – Ich frage mich, welche Bücher hier wohl gemeint sind – denn philosophische, politische, literarisch hochwertige und vor allem aktuelle Werke können damit nicht abgedeckt sein, denn die gibt es in den immer weniger werdenden öffentlichen Bibliotheken, die zudem nur BewohnerInnen größerer Städte noch zugänglich sind, kaum noch. Wer Utta Danella lesen möchte, kann diesem Ratschlag freilich folgen.
  5. Es gibt "Rabatte" für Senioren, wenn es um die Freizeitgestaltung – Schwimmbäder, Zoo, Theater etc. – geht. Die nimmt freilich kein Rentner in Anspruch, egal ob er arm ist oder nicht, sondern er muss erst von der Propagandapresse darauf hingewiesen werden, sonst merkt es niemand. Die "Bildungsrepublik" lässt grüßen.
  6. Man solle seinen Hausrat durchsuchen und alles, was nicht mehr "benötigt" wird, auf Flohmärkten verkaufen. Das ist der vielleicht kreativste und perverseste Vorschlag von allen, denn wer braucht schon das dumme Gemälde an der Wand, das man einst von den lieben Eltern geerbt hat oder den antiken Tisch aus besseren Zeiten, der mindestens 100 Euro im Verkauf bringt? Schließlich kann man sich auch die BLÖD-"Zeitung" an die Wand hängen und an einem Sperrmüllbrett, das auf leeren Sprudelkästen liegt, ebenso komfortabel sitzen und das kärgliche Mahl einnehmen.

Ich weiß nicht, was ich widerlicher finde: Die kritikfreie Selbstverständlichkeit, mit der heute über Altersarmut mitten im "besten aller möglichen Systeme" gesprochen wird, oder doch eher die Impertinenz und tiefschwarzpädagogische Art und Weise, in der hier nutzlose und zynische Tipps zum Besten gegeben werden. Wer von der so genannten "Grundsicherung" leben muss – egal ob als Rentner oder als junger Mensch – kann sich weder ein aktuelles Buch, noch einen Theater-, Opern- oder Konzertbesuch leisten; gesellschaftliche, kulturelle und soziale Teilhabe findet schlichtweg nicht mehr statt. Die existenziellen Fragen dieser Millionen von Menschen in Deutschland drehen sich darum, was es nächste Woche zu essen gibt, wie die nächste Stromrechnung bezahlt werden soll, woher eine warme Winterjacke bezogen werden kann oder was um alles in der Welt geschehen soll, wenn die Brille, die man so dringend benötigt, zerbricht – um nur wenige Beispiele von so vielen zu nennen.

Dies sind die grandiosen Erfolge des kapitalistischen Terrors, der uns dennoch weiterhin brav und stur erzählt, "uns" gehe es so gut wie nie zuvor. Wer wählt doch gleich CDU, SPD, Grüne, FDP, AfD oder die Linkspartei? Ach, genau die Opfer dieser Politik? Ja, brat mir doch einer eine(n) Storch!

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Wiedergutmachung


"Alle durch die Nürnberger Gesetze Geschädigten erhalten 1 kg Erbsen. Papier ist mitzubringen."

(Zeichnung von K.H. Böcher [1902-19??], in: "Der Simpl", Nr. 9 vom August 1946)

Sonntag, 30. April 2017

Zitat zum "Tag der Arbeit"


Ich möchte [...] in vollem Ernst erklären, dass in der heutigen Welt sehr viel Unheil entsteht aus dem Glauben an den überragenden Wert der Arbeit an sich, und dass der Weg zu Glück und Wohlfahrt in einer organisierten Arbeitseinschränkung zu sehen ist. [...] Hätte man nach Kriegsende die wissenschaftliche Organisation, die geschaffen worden war, um die Menschen für die Front und die Rüstungsarbeiten freizustellen, beibehalten und die Arbeitszeit auf vier Stunden herabgesetzt, dann wäre alles gut und schön gewesen. Statt dessen wurde das alte Chaos wiederhergestellt; diejenigen, deren Leistungen gefragt waren, mussten viele Stunden arbeiten, und der Rest durfte unbeschäftigt bleiben und verhungern. Warum? [...]

Der Gedanke, dass die Unbemittelten [Besitzlosen, Anm.d.Kap.] eigentlich auch Freizeit und Muße haben sollten, hat die Reichen stets empört. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war ein fünfzehnstündiger Arbeitstag für den Mann das Normale; Kinder arbeiteten zuweilen ebenso lange und sehr häufig zwölf Stunden täglich. [...] Ich höre noch eine alte Herzogin sagen: "Was wollen denn die Habenichtse mit Freizeit anfangen? Arbeiten sollen sie!" So offen äußern sich die Leute heute nicht mehr, aber die Gesinnung ist noch die gleiche geblieben und hat weitgehend unsere chaotische Wirtschaftslage verschuldet. [...]

Guten Mutes zu sein, ist die sittliche Eigenschaft, deren die Welt vor allem und am meisten bedarf und Gutmütigkeit ist das Ergebnis von Wohlbehagen und Sicherheit, nicht von anstrengendem Lebenskampf. Mit den modernen Produktionsmethoden ist die Möglichkeit gegeben, dass alle Menschen behaglich und sicher leben können; wir haben es statt dessen vorgezogen, dass sich manche überanstrengen und die andern verhungern. Bisher sind wir noch immer so energiegeladen arbeitsam wie zur Zeit, da es noch keine Maschinen gab; das war sehr töricht von uns, aber sollten wir nicht auch irgendwann einmal gescheit werden?

(Auszüge aus: Bertrand Russell [1872-1970]: "Lob des Müßiggangs", London 1935)