Samstag, 6. Juni 2015

Es ist Kapitalismus, schaltet das Hirn ein!


Der Kollege vom Blog Fliegende Bretter, dessen Texte ich ansonsten zuweilen sehr schätze, hat unter dem Titel "Es ist Sommer, zieht euch was über!" einen Rant veröffentlicht, der exemplarisch und leider eindrucksvoll belegt, wohin die kapitalistische, stets wertend-einteilende Konditionierung der beherrschten Menschen letzlich führen muss, wenn man ihr so unkritisch erliegt, wie es dem Autor - ebenso wie einem wahrscheinlich recht großen Teil unserer lieben Mitmenschen - in diesem Beispiel offenbar ergangen ist. Lest den Text selbst.

Ich finde, der Autor begibt sich mit diesem Text nicht nur auf verdammt dünnes Eis, sondern ist bereits heillos eingebrochen und kommt aus dieser üblen Nummer kaum mehr heraus.

Wieso sollte irgendjemand seinem Empfinden bzw. seinen Kategorien, was "schön" oder "präsentabel" sei, wohl folgen? Allein die Vorstellung ist doch schon so hanebüchen, dass sie sich von selbst verbietet. Wenn jemandem ein Anblick - aus welchen Gründen auch immer - nicht gefällt, dann schaue man halt weg! Anderen gefällt's womöglich, aber auch das ist letztlich nicht wichtig, denn auf sein Aussehen hat ein Mensch nunmal weitestgehend keinen Einfluss, auch wenn die kapitalistische Doktrin uns das immer wieder vorgaukeln will, was im heutigen - und übrigens bereits sehr alten - Irrsinn der Modewelt, der "Schönheitschirugie" und ähnlichem Quatsch seinen widerwärtigen Ausdruck findet.

"Schönheitsideale" im Allgemeinen und "Modelfiguren" im Besonderen sind nichts weiter als dämlicher, temporärer und willkürlich austauschbarer Bullshit. Ich finde es erschreckend, dass der Autor auf diesen lächerlichen Zug aufspringt und sich allen Ernstes über das Aussehen bestimmter Menschen echauffiert und es somit als "weniger wertvoll" als das anderer Menschen klassifiziert. Wo ist da genau der Unterschied zu einer wertenden Einteilung von Menschen beispielsweise nach ihrer Hautfarbe, ihrer Haarfarbe, Größe oder auch Nasenform?

Noch erschreckender finde ich allerdings, dass in diesem Text ausgerechnet die erzkonservativen Heuchler der Religioten zum "korrigierenden" Maßstab genommen werden, die bekanntlich ausnahmslos von allen Menschen verlangen, sich "züchtig zu bedecken". Katholizismus und Islam geben sich in diesem Fall übrigens gar nicht viel - je nach regionaler Ausprägung des religiösen Wahns.

Man mag es vielleicht kaum glauben, aber auch Menschen, die nicht dem eigenen subjektiven "Schönheitsideal" entsprechen, können von anderen als "schön" empfunden werden und sich sogar selbst, sofern sie charakterstark genug sind und sich nicht zu sehr manipulieren lassen, exakt so mögen, wie sie nun einmal sind. Auch so etwas wie Erotik und sexueller Spaß soll - so habe ich es mal raunen gehört - in Kreisen außerhalb der Modebranche und sogar jenseits der Jugend vorkommen.

Aber mal im Ernst: Meint der Autor das tatsächlich so, wie es da steht? Dicke, Alte, Kranke, körperlich Versehrte, Behinderte und sowieso alle, die seinem wohlgefälligen Auge nicht in den sexuell arg getrübten Blick passen, sollen sich gefälligst verhüllen, um seiner merkwürdigen Vorstellung von "Ästhetik" keine Gewalt anzutun? Ja, geht's noch? Ich bin völlig fassungslos und hätte ihm eine derartige dumpfe Blamage wirklich nicht zugetraut.

Mensch, die unübliche Hitze dieser Tage lässt wohl so manches Hirn unfreiwillig kochen. Dazu nur ein kurzer Dialog, der selbstverständlich in einen viel größeren Kontext, den ich hier aber nicht ausbreiten will, gehört, mit meiner jüngsten, körperbehinderten Tochter, nachdem sie einmal abends nach der Schule wieder zuhause angekommen war:

J. (eher erbost als traurig): "Boah, der XY hat mich heute schon wieder 'Krüppel' genannt!"
Ich: "Weißt du noch, was wir besprochen haben?"
J.: "Na klar! Ich hab' ihm gesagt, dass seine geistige Verkrüppelung viel schlimmer ist."
Ich: "Und, was hat er erwidert?"
J.: "Nix. Ich glaub', er hat das gar nicht verstanden." (Daraufhin lachte sie mich kurz strahlend an und befasste sich wieder mit wichtigeren Dingen.)

P.S.: Es ist kein gutes Zeichen, dass ein anderer kritischer, keineswegs beleidigender oder sonstwie unpassender Kommentar drüben beim Kollegen inzwischen wortlos gelöscht wurde.

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Schönheit, dich will ich preisen



(Aquarell von George Grosz [1893-1959] aus dem Jahr 1920, in: "Ecce Homo", Malik 1923)

Kurzfilm des Tages: The Saga Of Biorn, oder: Die böse Rache der Religioten




Anmerkung: Diese geniale Filmchen aus Dänemark dürfte jedem geneigten Rollenspieler ein äußerst fettes Grinsen ins Gesicht zaubern - ebenso wie es die üblichen Verdächtigen aus den mittelalterlichen, religiotischen Kreisen wild erbosen wird. Das Werk macht also alles richtig, und wer des Englischen halbwegs mächtig ist, sollte es sich dringend ansehen: Dies ist exakt die Art des Humors, die jedem religiösen Wahn den Wind komplett aus allen verfaulten Segeln nimmt und ihn als den lächerlichen Popanz entlarvt, der er naturgemäß ist.

Folgen wir also dem aufrichtig strebenden, aber glücklosen Wikinger Björn auf seinem ambitionierten Weg, endlich "ehrenhaft" ins jenseitige "Valhalla" zu gelangen, um in alle Ewigkeit in Ruhe saufen, fressen und anderen wikingergemäßen Späßen nachgehen zu können. Man sollte dieses Meisterwerk vor jedem christlichen Gottesdienst in allen Kirchen weltweit zeigen. Die Resonanz wäre sicherlich ... revolutionär.

Mittwoch, 3. Juni 2015

Song des Tages: Red Sector A




(Rush: "Red Sector A", aus dem Live-Album "Clockwork Angels Tour", 2013; ursprünglich aus dem Album "Grace Under Pressure", 1984)

All that we can do is just survive
All that we can do to help ourselves is stay alive

Ragged lines of ragged grey
Skeletons, they shuffle away
Shouting guards and smoking guns
Will cut down the unlucky ones

I clutch the wire fence until my fingers bleed
A wound that will not heal, a heart that cannot feel
Hoping that the horror will recede
Hoping that tomorrow we'll all be freed

Sickness to insanity
Prayer to profanity
Days and weeks and months go by
Don't feel the hunger, too weak to cry

I hear the sound of gunfire at the prison gate
Are the liberators here? Do I hope or do I fear?
For my father and my brother it's too late
But I must help my mother - stand up straight!

Are we the last ones left alive?
Are we the only human beings to survive?



Anmerkung: Ich hätte ja viel lieber die originale Studio-Version dieses wunderbar bedrückenden Songs der kanadischen Altmeister des bombastischen Rock mit progressivem Einschlag hier verlinkt, da sie einfach besser klingt und gerade der Gesang deutlich klarer und damit überzeugender ist, aber leider ist diese 30 Jahre alte Aufnahme im Netz nicht legal aufzufinden. Und auch diese Live-Version darf aus den bekannten, irrsinnigen Copyright-Bullshit-Gründen hier im Blog nicht wiedergegeben werden - zum Ansehen müsst ihr also auf den Youtube-Link klicken. Heute darf dieser Song, der eigentlich die Eindrücke der Mutter des Sängers Geddy Lee anlässlich ihrer Befreiung aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen zum Inhalt hat, jedenfalls vollkommen zu Recht als inoffizielle Klagehymne der Opfer des rechtsfreien US-amerikanischen Terrorsystems der Folterlager gelten.

Schade ist auch, dass es von den Soli des Ausnahmedrummers Neil Peart, die er gerade zu diesem Song in Live-Shows immer wieder gerne zum Besten gibt, lediglich verwackelte Handyvideos gibt, die des Anschauens nicht wert sind. Wer sich dennoch ein Bild von den spielerischen Fähigkeiten dieses Virtuosen machen möchte, kann das beispielsweise hier tun. Ich persönlich habe schon viele Schlagzeuger aus dem Bereich der Rockmusik live erlebt - Peart aber übertrifft sie alle.

Montag, 1. Juni 2015

Männer, Sex und Kapitalismus: Vom Irrsinn der "Erotikchats"


Es gab einmal eine Zeit, in der meine finanzielle Situation als "selbstständig" tätiger Musiker und Journalist äußerst prekär war. "Selbstständig" war indes auch damals schon lediglich meine andauernde Geldnot, während die "Arbeitgeber", für die ich umfangreich tätig war, stets recht gut verdient haben. Aber das soll heute nicht mein Thema sein.

Ich möchte stattdessen aus einem anderen zwielichtigen Bereich der kapitalistischen Wirtschaft berichten, in dem es ebenso betrügerisch zugeht wie im gesamten Rest dieser profitorientierten Farce - nämlich aus der Blase der sogenannten Erotikchats.

Ich bin seinerzeit über diverse Umwege zu diesem "Job" gekommen, den ich aus reiner Geldnot einige Jahre innehatte und der sich wie folgt beschreiben lässt: Auf einer vorgeblich als "Erotikchat" ausgewiesenen Website ist man als Operator dafür da, eine Vielzahl von "sexwilligen Damen" für die sich vereinzelt einfindenden Herren zu spielen. Für die Erstellung der "Profile" jener fiktiven Damen einschließlich geklauter Fotos ist der jeweilige Operator zuständig (es handelt sich dabei um bis zu 1.000 und mehr Scheinprofile), und je nach Tageszeit werden entsprechend viele (tagsüber) oder auch wenige (nachts) davon "eingeloggt", um den Anschein eines echten Chats - so absurd das Außenstehenden auch erscheinen mag - zu erwecken.

Da kann der zahlungswillige Heinz_58 mal locker mit der natürlich sehr willigen Sina_19 in Kontakt treten und auch die extremsten, absurdesten Sexfantasien zunächst virtuell ausleben - stets aber mit dem Hintergedanken, dass es sich bei jenen Damen um reale Personen handelt, die letzten Endes ebenso an einem realen Treffen interessiert sind wie der zahlende Chatter. Die Preise für einen solchen Fakechat bewegen sich dabei in sehr gehobenen Sphären - hier nur ein Beispiel:

15 EUR für 30 Chatminuten
30 EUR für 60 Chatminuten
42 EUR für 100 Chatminuten
100 EUR für 250 Chatminuten
187 EUR für 500 Chatminuten
315 EUR für 1.000 Chatminuten
570 EUR für 2.000 Chatminuten
822 EUR für 3.500 Chatminuten
950 EUR für 5.000 Chatminuten
1.450 EUR für 10.000 Chatminuten


Es versteht sich von selbst, dass der jeweilige Operator, der den sexhungrigen Herren diese absurden Unsummen durch seine Arbeit abschwätzt, lediglich mit einem lächerlichen Almosen im Cent-Bereich "entlohnt" wird: Für eine Vollzeit-Tätigkeit (also ca. 40 Stunden pro Woche) erhält man, je nach Kundenandrang, zwischen 100 und 300 Euro monatlich. Diese Entlohnung erfolgt natürlich "schwarz", denn angestellt wird in diesen "Chats" niemand. Stattdessen existiert dort eine perverse Hierarchie von Scheinselbstständigkeiten: Den "erfolgreicheren" älteren Hasen und Häsinnen wird die Verantwortung für einen oder mehrere "Chats" anvertraut; diese wiederum beschäftigen mehrere Personen, die die jeweiligen "Chats" im Schichtdienst rund um die Uhr betreuen - natürlich ebenfalls als Scheinselbstständige. Am Ende eines Monats erhält der prekär Augebeutete eine Mail vom Betreiber, in der detailliert ausformuliert ist, wie die "Rechnung", die er für seine Tätigkeit an den Betreiber zu schreiben hat, auszusehen hat, um an seine paar albernen Kröten zu kommen.

Es gibt von ein und demselben Betreiber nicht nur drei oder vier, sondern hunderte dieser Fakechats, die sich zunehmend auf bestimmte, immer extremere sexuelle Vorlieben konzentrieren, und ein Operator betreut dabei mehrere dieser Fakeplattformen gleichzeitig - zu meiner Zeit waren das immerhin fünf "Chats", inklusive der jeweils zu erstellenden Damenprofile, zur selben Zeit.

Dabei werben diese Fakechats mit lächerlichen Slogans wie "Kontakt-Chat No. 1", "Anonymes Kennenlernen ohne Hemmungen", "Single-Treff und Kontaktbörse für den besonderen Anspruch", "Mehr als Chatten" und ähnlichem Bullshit. Ein wesentliches Merkmal dieser widerlichen Abzocke ist es eben, den zahlenden Herren möglichst authentisch vorzugaukeln, dass die Damen, mit denen sie im jeweiligen Chat in Kontakt treten, nicht nur an "dirty talk", sondern eben auch an realen Treffen zum Ausleben eben jener Absonderlichkeiten interessiert sind. Das ist glatter Betrug in mehrfacher Hinsicht, nicht nur am Kunden, sondern auch am Mitarbeiter - Kapitalismus wie er leibt und lebt, eben.

Allerdings möchte ich den Skandal doch ein wenig eindämmen, denn wenn Gestalten wie Heinz_58 tatsächlich glauben, dass eine blutjunge Frau wie Sina_19 ein wie auch immer geartetes Interesse daran hat, sich mit dem alten Sack zu treffen, um wild mit ihm zu poppen, ihn anzupinkeln, ihn in Windeln zu wickeln oder ihm eine Gurke oder etwas noch Größeres in den Arsch zu rammen (was nicht ausnahmsweise, sondern regelmäßig der Fall war), dann hat der Realitätsverlust absurde Dimensionen angenommen, die nicht mehr in Worten fassbar sind. Ich könnte hier ganze Romane aus dem Nähkästchen der sexuellen Fantasien der älteren Generation dieses Landes ausplaudern ... aber ich verkneife mir das an dieser Stelle besser. Viel erschreckender fand ich während dieser widerlichen Tätigkeit, dass es mindestens ebenso viele jüngere bis sehr junge Männer gibt, die ganz ähnlichen Fantasien nachhängen bzw. diese kopieren (was erst einmal nicht weiter verwerflich ist) und bereit sind, für den "Verfügbarkeitschat" ordentlich Kohle abzudrücken, in dem es nach der Bezahlung für jede auch noch so absurde Fantasie sofort die passende "Dame" - oder manchmal auch den passenden Herrn - gibt. Der Kapitalismus hat sich längst in die tiefste Psyche der Menschen gegraben und sie nachhaltig vergiftet - und es dürfte so gut wie unmöglich sein, ihn dort wieder herauszubekommen.

Es bleibt eine Randnotiz, dass der Großteil der Männer - unabhängig vom Alter -, die in diesen Chats nach zunächst virtuellen, dann aber bitte auch realen Kontakten suchen, verheiratet oder sonstwie in einer Partnerschaft gebunden sind. Ein nicht unübliches Beispiel war hier der alte, verbeamtete Sack (50), der seine Gattin extra in den Wellness-Urlaub ins tiefste Bayern geschickt hat, um zuhause freie Bahn für seine 18jährige "Chatbekanntschaft" zu haben. Allein für die wiederholte Verabredung zu diesem "Termin", der natürlich nie zustande kam, hat er innerhalb einiger Monate mehrmals knapp 1.000 Euro Chatgebühren verbraten (von denen sein virtuelles, sich prostituierendes - und keineswegs 18jähriges - Gegenüber, wie gesagt, nur einige herabrieselnde Brotkrumen-Cents erhalten hat).

Nun höre ich schon die empörten Stimmen, die sich echauffieren: Wie kann man denn naive, sexhungrige Menschen bloß derartig abzocken? Das ist doch skandalös! - Denen entgegne ich einfach: Stimmt - aber ihr alle, die ihr im kapitalistischen System arbeiten müsst, tut doch nichts anderes - und je näher eure Tätigkeit dem Vertrieb ist, desto näher seid ihr höchstpersönlich exakt demselben perversen Betrug. It's simply capitalism - face it.

Dennoch ist mir dieses finstere Kapitel meiner Geschichte heute sehr peinlich - obwohl es mich seinerzeit vor der drohenden Obdachlosigkeit gerade noch bewahrt hat. Heute könnte ich das nicht mehr tun, und das nicht nur wegen der vielen Kontakte zu den Irren und Perversen dieses Landes und den damit verbundenen widerlichen Dialogen: Sogar ein Mensch in akuter Geldnot kann zuweilen das Richtige lernen. Und trotzdem bleiben schnöde Habgier und purer Egoismus weiterhin die zentralen, allseits geförderten und zur religiösen Monstranz aufgeblähten Elemente dieser kapitalistisch konditionierten und damit unweigerlich dem Untergang geweihten Menschheit.

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Entgötterte Welt


"Amor ist tot. Es lebe das Schwein!"

(Zeichnung von Karl Arnold [1883-1953], in "Simplicissimus", Heft 1 vom 01.04.1921)

Zitat des Tages: Kleiner Bahnhof


Die handgeschriebenen
Abfahrtszeiten
vom Regen verwischt.
Selten, dass jemand
aus- oder einsteigt.

In den Schwellen Sprünge –
Vergessenes,
das wiederkehrt.
Löwenzahn
und Reklame am Drahtzaun.

Unsere Hinfälligkeit
wie die Ebene groß,
die man von hier sieht.

(Walter Helmut Fritz [1929-2010], in: "Bilder + Zeichen", Hamburg 1958)