Samstag, 26. März 2016

Tief im Westen: Osterimpressionen


Das verlängerte Osterwochenende ist traditionell die Zeit, in der der gemeine Deutsche christlich-abendländischer Prägung zum ersten Mal nach den frostigen Wintertagen wieder der geliebten Gartenarbeit und dem geselligen Zusammensein im Freien frönt - an diesem ehernen Gesetz können auch kühle Temperaturen und ein nasskaltes Wetter nichts ändern. Das gilt zumindest für die westdeutschen Provinz.

Auf dem Weg von meiner Haustüre zum Supermarkt treffe ich nun also wieder vermehrt auf die diversen Grüppchen meiner lieben Nachbarn, die sich - allem wetterbedingten Unbill zum Trotz - vermehrt in ihren Gärten aufhalten und sich sogar auf der Straße wieder zu kleinen Versammlungen zusammenfinden, um die jüngsten Ereignisse des Weltgeschehens zu diskutieren. Letzteres vermutete ich jedenfalls, als ich noch jung und naiv war. Heute weiß ich es freilich besser.

Gestern näherte ich mich einem ebensolchen Grüppchen von Menschen, von denen ich - glücklicherweise - monatelang nichts mitbekommen habe, weil sie sich im Winterquartier ihrer Behausungen verschanzt hatten, und aufgrund der regen Kommunikation erhoffte ich wider besseren Wissens beim Näherkommen, dass man sich dort empathisch und temperamentvoll beispielsweise über die Folgen der aktuellen Kriege, an denen auch Deutschland beteiligt ist, über die asoziale Ausbeutung der Menschen durch die Superreichen oder den aufblühenden, politisch und medial forcierten Faschismus in dieser Gesellschaft unterhält.

Deutschland wäre indes nicht Deutschland, wenn es nicht auch diesmal meine Hoffnungen vollends enttäuscht hätte. Ich erinnere mich gut, dass ich mich schon vor 30 Jahren regelmäßig völlig erstaunt gefragt habe, worüber sich diese Menschen so angeregt und teilweise äußerst emotional unterhalten - die schnöde Antwort ist bis heute dieselbe geblieben: Beim Vorbeigehen und nach der geheuchelten, freundlichen Begrüßung schnappte ich auch diesmal die wichtigsten Themen auf, zu denen Schlagworte wie die folgenden zählten (die Auswahl ist unvollständig, aber dennoch repräsentativ):

"Nachbar XY hat seine Hauswand doch tatsächlich ockerfarben statt weiß gestrichen - welch ein Skandal!" - "Flüchtlinge ausweisen!" - "Kriminelle Ausländer!" - "Die faulen Arbeitslosen!" - "Mein neues Smartphone ist der Knaller!" - "Grillen wir heute, auch wenn's regnet?" - "Wenn die Asylanten nicht wären, hätten wir auch keine Schlaglöcher in der Straße!"

Und so weiter und so fort. Einmal mehr bestätigt sich hier, dass die meisten Menschen in diesem Land ihr Gehirn offenbar nur deshalb besitzen, damit sie im Badezimmer nicht versehentlich ins Waschbecken kacken - für weitere Aktivitäten wird es partout nicht genutzt.

An Ostern beginnt die Zeit, in der diese GesellInnen aus ihren Winterquartieren kriechen und sich hingebungsvoll der Pflege ihrer naturfernen Gärten, der Politur ihrer lächerlichen Kutschen und generell der Aufhübschung ihrer bürgerlichen Fassaden widmen, selbst wenn diese klar erkennbar im Begriff sind, einmal mehr im Nichts zu zerbröseln. Da kann man nur in den Wunsch des alten Hölderlin einstimmen:

Ich suchte unter diesem Volke nichts mehr, ich war genug gekränkt, von unerbittlichen Beleidigungen, wollte nicht, dass meine Seele vollends unter solchen Menschen sich verblute.

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Sommerzeit


"Jetz' woll'n se in Berlin d'Uhr wieder um a Stund vorruck'n, dass's so ausschaut, als wenn de Diplomat'n früher aufg'stand'n wär'n!"

(Zeichnung von Wilhelm Schulz [1865-1952], in "Simplicissimus", Heft 1 vom 02.04.1918)

Donnerstag, 24. März 2016

Musik des Tages: Stabat mater




  1. Stabat Mater dolorosa (Chor und alle Solisten)
  2. Cujus animam (Tenor)
  3. Quis est homo (Sopran und Mezzosopran)
  4. Pro peccatis (Bass)
  5. Eja, Mater (Bass und Chor)
  6. Sancta Mater (alle Solisten)
  7. Fac ut portem (Mezzosopran)
  8. Inflamatus (Sopran und Chor)
  9. Quando corpus morietur (Chor und alle Solisten)
  10. In sempiterna saecula. Amen (Chor)

(Gioachino Antonio Rossini [1792-1868]: "Stabat mater" für Sopran, Mezzosopran, Tenor, Bass, Chor und großes Orchester aus den Jahren 1832/42; Sopran: Patrizia Ciofi, Mezzosopran: Vivica Genaux, Tenor: Arturo Chacón-Cruz, Bass: Mirco Palazzi; Orchestre Philharmonique de Radio France; Leitung: Myung-Whun Chung, 2014)

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Passion 1932



(Zeichnung von Erich Schilling [1885-1945], in "Simplicissimus", Heft 52 vom 27.03.1932)

Dienstag, 22. März 2016

Zitat des Tages: Vormittag


Den grünen Rasen sprengt ein guter Mann.
Der zeigt den Kindern seinen Regenbogen,
Der in dem Strahle auftaucht dann und wann.
Und die Elektrische ist fortgezogen

Und rollt ganz ferne. Und die Sonne knallt
Herunter auf den singenden Asphalt.
Du gehst im Schatten, ernsthaft, für und für.
Die Lindenbäume sind sehr gut zu dir.

Im Schatten setzt du dich auf eine Bank;
Die ist schon morsch; – auch du bist etwas krank –
Du tastest heiter, dass ihr nicht ein Bein birst.

Und fühlst auf deinem Herzen deine Uhr,
Und träumst von einer schimmernden Figur
Und dieses auch: dass du einst nicht mehr sein wirst.

(Ernst Blass [1890-1939], in: "Die Straßen komme ich entlang geweht", Richard Weissbach 1912)

Anmerkung: Der komplette Band ist beim "Projekt Gutenberg" online abrufbar - die Lektüre lohnt sich, wie immer, sehr.

Montag, 21. März 2016

Die Rückkehr des Faschismus: Leseempfehlung 2.0


Heute möchte ich zum bösen Thema aus der Überschrift gleich zwei Leseempfehlungen loswerden. Die erste betrifft einen Text von Fridolin Schley, der ausgerechnet bei ZEIT-Online erschienen ist, wo ich ansonsten beim Lesen eher selten bis über die ersten Absätze eines Textes hinauskomme, bevor ich entnervt wegklicke - im Feuilleton ist aber selbst dort gelegentlich noch etwas Raum für die kläglichen Reste humanistischen Denkens, die es in dieser verkommenen Weltruine noch gibt.

Schley lässt sich dort - freilich viel zu abschweifend und bieder-bürgerlich eingenordet - über den wieder erstarkenden Faschismus in Deutschland und im Rest der "westlichen Welt" aus. Es bedarf einer gewissen Nervenstärke, das trotz der gelegentlichen Ausfälle ins Lächerliche ganz zu lesen; unterm Strich aber halte ich diesen Text - gerade der stupiden bürgerlich-gesetzten Zielgruppe wegen - für ziemlich wichtig und möchte insbesondere, aber nicht einzig, den Schluss hier herausheben. Dort schreibt der Autor:

Vor ein paar Tagen bin ich nachts schweißgebadet aus dem Schlaf aufgeschreckt. Ich weiß nicht mehr, was ich geträumt hatte, aber ich weiß, dass meine Furcht mit dem Erwachen nicht verschwand, sondern ich wie erstarrt verharrte und ohne zu atmen nach draußen horchte, vollkommen sicher, dass sich von dort etwas mit großer Geschwindigkeit näherte, vielleicht ein Angriff, vielleicht ein Sturm. Meine Freundin, die von meinem schnellen Hochschrecken neben mir aufgewacht war, fragte verschlafen "Was hast du, was ist denn da?", und nach einem längeren Moment, in dem ich weiter nur reglos in die Stille lauschte, flüsterte ich: "Ich weiß es nicht, aber ich glaube, es geht los."

Auch den Rest des Textes sollte man sich trotz aller Längen und Nebensächlichkeiten sehr aufmerksam durchlesen.

Ins gleiche Horn stößt wieder der aktuelle Gärtner in seiner Titanic-Kolumne. Dazu muss ich indes gar nicht viel schreiben, denn der Mann redet - ohne Herumgeschwurbel - wie immer für sich selbst:

Und so es des Kieler Gastronomen Onuegbu gutes Recht ist, "Mohr" für harmlos (oder selbstironisch) zu halten, gibt es eine halbe Million Afrodeutsche, die lieber Menschen als Mohren sind und es vermutlich präferieren, dass Leute wie ich, wenn es schon sonst keiner tut, die Grenze des Sagbaren ziehen, als dass es der nächstbeste "Beistrichjunge" (Gremliza) tut, der für das legitime Recht der Mehrheit streitet, die Minderheit so zu nennen, wie es der Mehrheit passt. / Auf gut muttersprachlich: fürs Recht auf Gewalt.

Gärtner zitiert in seinem Text Victor Klemperer, der in seinem sprachwissenschaftlichen Werk "LTI – Notizbuch eines Philologen" (publiziert 1947) detailliert die Sprache der Nazis dokumentiert und analysiert hat ("Lingua Tertii Imperii" = "Sprache des Dritten Reiches"). Auch dieses Werk sei jedem sehr ans Herz gelegt. Es verwundert nicht weiter, dass die heutige Sprache (nicht bloß die der AfD und NPD, sondern aller kapitalistischer Blockparteien inklusive der stürmisch begleitenden Medien) sich dort wiederfinden lässt.

Der Faschismus ist wieder da in Deutschland und Europa. Anders als vor 90 Jahren gibt es heute allerdings keine ernstzunehmenden politischen Kräfte mehr, die ihm entgegentreten könnten - eine düstere Prognose des Ausgangs dieser humanistischen Groteske dürfte also nicht allzu schwer fallen.

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Nach Einschmelzung der Denkmäler


"Das war mal Goethe!"

(Zeichnung von Eduard Thöny [1866-1950], in "Simplicissimus", Heft 9 vom 28.05.1918)