Samstag, 9. Januar 2016

Lesetipp: Auflösung. Ein Nekrolog auf den Humanismus


Zum Wochenende möchte ich einen dringenden Lesetipp loswerden, der dabei hilft, so manche dunkle Gedankenwolke zu erhellen und die aktuellen Katastrophen und Untergangsszenarien im sich auflösenden Europa ein wenig besser zu verstehen. Dieser Text von Rainer Trampert sei jedem ans Herz gelegt, der sich verzweifelt fragt, warum diese Welt heuer einmal mehr - wie stets begleitet von populistischen, allzu schrillen, grotesk-stumpfsinnigen Erklärungsversuchen, die allesamt nichts mit der Realität zu tun haben - am Abgrund hängt.

Das ist keine leichte und erst recht keine erfreuliche Lektüre - aber sie hilft ungemein beim Verständnis. Ich könnte gleich abschnittsweise aus diesem Text zitieren, und auch wenn in wenigen Detailfragen durchaus die eine oder andere Kritik angebracht ist, beschränke ich mich hier auf das Fazit des Verfassers und hoffe, dass auch der sehr lesens- und bedenkenswerte, äußerst informative Rest von möglichsten vielen Menschen gelesen wird. Trampert resümiert:

Durch die historischen Niederlagen und Deformationen der kommunistischen, anarchistischen, sozialistischen und emanzipatorischen Visionen und Kämpfe fehlt heute das Korrektiv, das die religiös-fanatischen, nationalen, marktkonformen, ethnischen, tribalen, männerkultigen, rassistischen und faschistischen Wucherungen bremsen könnte.

Linke haben mitgeholfen, sich zu demontieren. Postmodern Gewordene ersetzten die Kritik an der Klassengesellschaft durch den Konsum und den positiven Geist, Linkskeynesianer erzählten, ein böser Neoliberalismus sei über die Menschheit gekommen. Demnach müsste es vorher einen guten Kapitalismus gegeben haben, zum Beispiel den in den "sozial-staatlichen keynesianisch geprägten sozialdemokratischen Jahrzehnten nach 1945" (Altvater), zu dem auch Helmut Kohl mit seiner geistig-moralischen Wende zurück wollte. In der Krise flüchteten Linke sich in die Kritik der Finanzen, adelten so die Ausbeutung und Entfremdung der Menschen im Mehrwertbetrieb und schoben alle Schuld auf New York, Finanzen, Banken, Spekulanten und benutzten auch all die anderen antisemitisch konnotierten Begriffe.

Hier ist prägnant zusammengefasst, was all die kurzsichtigen, durch ihren jeweiligen (durchaus unterschiedlichen) Tellerrand eingesperrten Pseudokritiker des kapitalistischen Wahnsinns - von "Pegida" über "Propagandaschau", "Ken Jebsen" und "Nachdenkseiten" bis hin zu den aktuellen politischen Karikaturen von den Grünen, der SPD und der Linkspartei - eint. Selbst den esoterischen Realitätsverweigerern bzw. Sektierern ist ein kleiner Nebensatz gewidmet.

Ich habe zwar wenig Hoffnung, dass dieser gute Text, der auch in der Jungle World erschienen ist, die richtigen bzw. eigentlich erforderlichen LeserInnen finden wird, möchte aber trotzdem meinen bescheidenen Beitrag zur Verbreitung leisten. Wenn auch nur ein Depp der "Pegida"-, "Jebsen"- oder "Propagandaschau"-Fraktion oder ein Fanboy/-girl der "Nachdenkseiten", des "Spiegelfechters" oder der Linkspartei zum eigenständigen Denken und Verstehen auch jenseits des individuellen Horizontes angeregt wird, wäre schon etwas - wenn auch nicht viel - gewonnen.

Das rassistische Hohlkopfvirus erlebt momentan quer durch alle genannten Fraktionen eine widerwärtige Renaissance, die ich selbst in meinen schlimmsten Albträumen nicht für möglich gehalten habe.

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Der letzte Demokrat


"Der liebste Platz, den ich auf Erden hab', das ist die Rasenbank am Elterngrab."

(Zeichnung von Karl Arnold [1883-1953], in "Simplicissimus", Heft 27 vom 05.10.1931)

Musik des Tages: Sinfonie Nr. 4 in e-moll




  1. Allegro non troppo
  2. Andante moderato
  3. Allegro giocoso – Poco meno presto – Tempo I
  4. Allegro energico e passionato – Più Allegro

(Johannes Brahms [1833-1897]: "Sinfonie Nr. 4 in e-moll", Op. 98; Chamber Orchestra of Europe, Leitung: Bernard Haitink, 2011)


Mittwoch, 6. Januar 2016

Brüllwitz des Tages: Wie pseudolinke Esoteriker aktive Spaltung betreiben


Der folgende Beitrag ist eine Satire, die nur von satirefähigen Menschen verstanden werden kann.

Wer in dieser finsteren Zeit wieder einmal herzlich lachen möchte, sei auf diesen erfrischenden Beitrag unserer esoterischen Freunde vom Blog "Jenseits der Realität" verwiesen. Dort wird, wie überwiegend gewohnt, nicht auf eigene Ergüsse, sondern auf andere Kotztüteninhalte Bezug genommen, um diese fleißig zu bewerben. Im aktuellen Fall handelt es sich um einen zum Himmel schreienden Beitrag aus dem grenzdebilen katholischen Umfeld der hirnbefreiten Webseite publik-forum.de.

Eigentlich sind damit bereits alle Kriterien für eine bitterböse Satire erfüllt - allerdings meinen die Esos das, wie immer in solchen Fällen, leider ernst. Der Blogger Volker vom frei-blog musste das nun am eigenen Leib erfahren, denn auf seine Kritik, die er dort als einer der ganz wenigen noch anbringen darf (Ketzer wie ich und viele, viele andere sind dort längst gesperrt und dürfen sich nicht mehr äußern), antwortete Holdger Platta, der Stiefelknecht des Chef-Voodoo-Agitators Faulfuß, gar höchstpersönlich. Es ist äußerst witzig zu lesen, wie der verwirrte, alte Mann dort den aktuellen Papst zu einem "antikapitalistischen Revoluzzer" verklärt ("Er hat 'Kapitalismus tötet' gesagt - er ist einer von den Guten!!!"), aber noch viel witziger sind seine Versuche, den vom "rechten Weg" abgekommenen, bedauernswerten Volker - zunächst in der standesgemäßen dritten Person, denn mit Fußvolk gibt man sich im Regelfall nicht ab - wieder heim ins Reich führen zu wollen:

Schade, daß Volker derart unkritisch unguten Vorbildern folgt! Dieses Bedauern ist ernst gemeint, nicht vorgetäuscht.

Der arme Volker wusste freilich nicht, worauf sich der platt plärrende Platta da bezog, so dass dieser gleich noch einmal nachlegen musste:

Ich hatte es freilich anders gemeint: daß Du Dich objektiv in eine ungute Tradition zu anderen Kommentatoren begibst, wenn Du einfach mal so auf einen Autor mit seinem Artikel draufhaust, ohne wirkliches Argument und ohne wirklichen Beleg, in die zeitlich-qualitative Nachfolge also derartiger Kommentarschreiber, die permanent nur negativ bewerten, bewerten, bewerten ‚können‘, ohne je Argumentation und Belege vortragen zu können (manche von ihnen – das meint ganz ausdrücklich Dich oder Deinen Kommentar nicht! – bis in die persönliche, durch nichts gerechtfertige oder zu rechtfertigende, Diffamierung hinein).

Da war die ungesagte Katze aus dem Sack und jeder - mit Ausnahme der unbeteiligten LeserInnen, also der überwältigenden Mehrheit der dumm glotzenden Mitlesenden - wusste, welchen schmählich bösen Kritiker des heiligen Weges der einzig wahrhaft Erleuchteten Herr Plattfuß da meinte. Ich musste breit grinsen an dieser Stelle (ganz ohne Drogeneinfluss, ich schwöre). Und weil Platta ja Transparenz und Offenheit über alles liebt, fügte er gar zum Schluss hinzu:

Und Du weißt ja selber sehr genau, wen ich da meine, und daß ich mich nie gescheut habe, diese Leutchen wieder und wieder beim Namen zu nennen!

Da war bei mir der päpstliche Ofen endgültig aus und der Lachpegel am teuflischen Maximum. Das muss man erst einmal schaffen: keine Namen zu nennen und sich hernach wild damit zu brüsten, doch stets Namen genannt zu haben. :-)

Als Fazit dieses herzerfrischenden Blogpostings samt Kommentaren können wir also festhalten:

  1. Der Papst ist ein Guter! Er hat zwar nicht das Geringste dafür getan, das kapitalistisch verursachte Elend dieser Welt auch nur leicht anzukratzen, aber er hat gesagt, dass es übel sei!
  2. Volker ist dumm und merkt nicht, welchen bösen Schurken er auf den Leim geht, wenn er anderswo als bei "Jenseits der Realität" kommentiert und liest.
  3. Charlie ist die pure Essenz Luzifers, der niemals Argumente benutzt, sondern stets nur böswillig die reinen, hellen Heiligen beschmutzt. Man nimmt seinen finsteren Namen niemals öffentlich in den Mund (so viel Schmutz erträgt kein hochsensibler Eso), behauptet aber stets, das dennoch getan zu haben.

Genau so, liebe Pegida- und Propagandaschaugesellen, geht erfolgreiche Spaltung! Von den zwielichtigen Brüdern Platta und Faulfuß könnt ihr noch eine Menge lernen!

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Der Angeklagte hat das Wort!



(Lithografie von Honoré Daumier [1808-1879], in: "La Caricature", 1835)

Zitat des Tages: Konjunktur


So gut ging es uns noch nie. Unaufhörlich
werden die Mieten gesenkt. Ohne Unterlass
fallen die Preise. Die Schrippen
werden immer größer.

In Säcken schleppen wir am Zahltag
unseren Lohn nach Hause. Zum Frühstück
trinken wir Sekt. Wir fahren Rolls Royce und essen
den Kaviar pfundweise.

In unseren Super-Jets fliegen wir nach Feierabend
für ein paar Stunden zu den Bahamas. Die ewigen Diamanten
hängen unseren Frauen schon
zum Halse heraus.

Bald wissen wir nicht mehr, wohin
mit unserem Geld. Demnächst werden wir
einen Fonds gründen müssen zur Unterstützung
notleidender Millionäre.

(Volker von Törne [1934-1980], in: Born / Delius / von Törne: "Rezepte für Friedenszeiten. Gedichte", Aufbau 1973; geschrieben 1969)



Anmerkung: Das ständige, wohl tatsächlich bis in alle Ewigkeit stetig wiederholte kapitalistische Märchen vom "So gut ging es uns noch nie"-Mythos macht sich auch in dieser fast 50 Jahre alten, satirischen Gedichtform sehr gut. - "Wenn da nur nicht diese fiesen Flüchtlinge, Arbeitslosen, Kranken, Alten und sonstigen Sozialschmarotzer wären, die uns unsere Millionen klauen wollen, könnten wir glatt zufrieden sein", sagt sich da der dumpfdeutsche Lohnsklave und unterschreitet damit mühelos die intellektuelle Leistung einer Kaulquappe.

Es ist wahrlich ein Wunder, dass diese degenerierte Spezies überhaupt so lange überlebt hat.

Montag, 4. Januar 2016

Verfassungspatriot oder Verfassungsfeind: Zur jüngeren Geschichte Deutschlands


Ein Gastbeitrag des Altautonomen

Linke verweisen - angesichts des hierzulande deutlich in Richtung eines totalitären Überwachungs- und Repressionsstaates driftenden Trends - in einigen Medien- und Blog-Kommentarspalten immer wieder gern auf die verfassungsrechtlich verbrieften Rechte wie z.B. die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, das Recht auf Widerstand und die unantastbare Würde des Menschen (letztere ist auch eine gern genutzte Vokabel der "politischen Elite", wenn es darum geht, Bundeswehr- bzw. Kriegseinsätze zu rechtfertigen).

Das Grundgesetz der BRD zeigt sich - einschließlich der daraus resultierenden Gesetze, Verordnungen und Satzungen - aber immer mehr als genau das Instrument, mit dem sich das kapitalistische Herrschaftssystem seine Privilegien mehr und mehr zu Lasten der Mehrheit sichert. Wer mit den Augen der 80er Jahre einen analytischen Blick auf die heutigen Zustände des "wiedervereinigten" Deutschlands wirft, wird mit Entsetzen festellen, dass die Verfassung im Kern nicht mehr das Papier wert ist, auf dem sie einst geschrieben wurde.

Zum Thema "Geschichte und Zukunft der antideutschen Linken" gab es im Jahr 2010 eine im Rahmen einer Veranstaltungsreihe geführte Podiumsdiskussion des Bündnisses "...ums Ganze", aus der ich das Statement von Thomas Ebermann hier einmal mit eigenen Worten wiedergeben und zur Diskussion stellen möchte (das komplette Gespräch ist 2 1/2 Stunden lang):

In den 80er Jahren war es nur schwer denkbar, dass Deutschland einst aus rein nationalem Interesse wieder Kriege führen wird. Wer so etwas prognostizierte, wäre als Spinner belächelt und nicht nur von Linken nicht ernst genommen worden. Das nach 1945 postulierte "Nie wieder Krieg!" wurde aber inzwischen der Lächerlichkeit preisgegeben. Einsatzbefehle erteilt das Parlament heute innerhalb weniger Tage.

Es gab so etwas wie einen "linksliberalen deutschen Stolz", als Lehre aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus - und teilweise auch unter dem Druck der Alliierten - ein vergleichsweise humanes Asylrecht in die Verfassung aufgenommen zu haben. (In einem Gastbeitrag bei Klaus Baum habe ich versucht zu begründen, warum auch sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge historisch betrachtet als politisch Verfolgte gelten.) Dieses Recht wurde nach 1989 total geschliffen. Niemand unter den Linken hätte in den 80er Jahren auch nur im Geringsten vermutet, dass eine humane und humanistische Katastrophe im Umgang mit Flüchtlingen, wie sie heute beispielsweise mit dem Begriff "Lampedusa" öffentlich verknüpft ist, einmal Realität werden könnte. Heute haben wir ein Asylrecht, das auf dem Grund des Mittelmeeres die Leichen der Geflohenen stapelt. Hätte ein Linker vor der "Wiedervereinigung" so etwas an die schwarze Wand der Zukunft gemalt, wäre er einfach nur ausgelacht worden. Kassandra wäre dagegen eine Heilsversprecherin gewesen.

Bis Ende der 80er Jahre gab es in Deutschland faktisch keine Zwangsarbeit (Reichsarbeitsdienst), wie man sie aus der Zeit des Nationalsozialismus kannte. Niemand, der Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe bekam, wurde zur Arbeit gezwungen. Auch dies war nach 1945 die verfassungsrechtliche Umsetzung einer wichtigen Lehre aus dem Faschismus: Niemand, der staatlich alimentiert wurde, war zu einer "Gegenleistung" verpflichtet. Selbst bis in die CDU hinein war die feste Überzeugung gewachsen, dass es so etwas wie Zwangsarbeit nie wieder geben dürfe. Und nach der Jahrtausendwende waren es ausgerechnet die SPD und die Grünen, die mit der "Agenda 2010" - in trauter Kontinuität zum "alternativlosen" Thatcherismus und sogenannten "Lambsdorff-Papier" - den Arbeitszwang, selbst bei drohendem oder bereits vollzogenem Entzug des lächerlich geringen Existenzminimums (staatlich verordneter Hungertod?), wieder einführten.

Auch anhand weiterer Beispiele aus dem Grundgesetz (allgemeiner Gleichheitsgrundsatz, Rechtsstaatlichkeit, Einsatz der Bundeswehr ausschließlich zu Verteidigungszwecken im Angriffsfall etc.) lassen sich die vorgenannten, seinerzeit als alarmistisch und übertrieben angesehenen Prognosen anhand der heutigen Realität schlüssig belegen.

Verfassungspatriotismus ist heute die Identifikation mit dem Nationalstaat in seiner heutigen Verfasstheit [und damit eine typisch kapitalistische Perversion bzw. Degeneration - Anm.v.Charlie].