Samstag, 18. Februar 2017

Song des Tages: We Don't Need You Anymore!




(Dead Kennedys: "Soup Is Good Food", aus dem Album "Frankenchrist", 1985)

"We're sorry, but you're no longer needed
Or wanted or even cared about here.
Machines can do a better job than you,
This is what you get for asking questions."

The unions agree: "Sacrifices must be made!
Computers never go on strike!
To save the working man
You've got to put him out to pasture!"

"Looks like we'll have to let you go,
Doesn't it feel fulfilling to know
That you – the human being – are now obsolete?
And there's nothing in hell we'll let you do about it!"

Soup is good food (WE DON'T NEED YOU ANYMORE!)
You made a good meal (WE DON'T NEED YOU ANYMORE!)
Now how does it feel (WE DON'T NEED YOU ANYMORE!)
To be shit out our ass and thrown in the cold like a piece of trash?

"We're sorry, you'll just have to leave,
Unemployment runs out after just six weeks.
How does it feel to be a budget cut?
You're snipped, you no longer exist!"

"Your number's been purged from our central computer,
So we can rig the facts and sweep you under the rug.
See our chart? 'Unemployment's going down'!
If that ruins your life, that's your problem!"

Soup is good food (WE DON'T NEED YOU ANYMORE!)
You made a good meal (WE DON'T NEED YOU ANYMORE!)
Now how does it feel (WE DON'T NEED YOU ANYMORE!)
To be shit out our ass and thrown in the cold?

"We're sorry, we hate to interrupt,
But it's against the law to jump off this bridge!
You'll just have to kill yourself somewhere else –
A tourist might see you and we wouldn't want that!"

"I'm just doing my job, you know – so say 'uncle'
And we'll take you to the mental health zoo.
Force feed you mind-melting chemicals,
'Til even the outside world looks great!"

In hi-tech science research labs
It costs too much to bury all the dead –
The mutilated disease-injected
Surplus rats who can't be used anymore!

So they're dumped (with no minister present)
In a spiraling corkscrew dispose-all unit
Ground into sludge and flushed away –
Aw geez ...

Soup is good food (WE DON'T NEED YOU ANYMORE!)
You made a good meal (WE DON'T NEED YOU ANYMORE!)
Now how does it feel (WE DON'T NEED YOU ANYMORE!)
To be shit out our ass and thrown in the cold like a piece of trash?

"We know how much you'd like to die,
We joke about it on our coffee breaks.
But we're paid to force you to have a nice day
In the wonderful world we made just for you!"

"Poor Rats", we human rodents chuckle –
"At least WE get a dignified cremation."
And yet, at 6:00 o'clock tomorrow morning,
It's time to get up and go to work.

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Anmerkung: Diesem ausgefeilten Statement von Jello Biafra ist nichts hinzuzufügen – es galt 1985 und es gilt heute in noch viel dramatischerem Maße. Ich empfehle, den Text genau zu studieren und die kapitalistische, faschistoide Menschenfeindlichkeit samt der beschworenen Egozentrik, die damals in den USA schon "normal" war, aber auch diesseits des Atlantiks durch interessierte, also korrupte Kreise semireligiös glorifiziert wurde (Thatcher, Kohl, Schröder & Konsorten sind ja nicht "vom Himmel gefallen"), mit der heutigen prekären, präfaschistischen Situation in Europa zu vergleichen: Nach dreißig Jahren "christlich-" und "sozialdemokratischer" Herrschaft unter tatkräftiger Beteiligung der "Liberalen", der "Grünen" und auch der "Linken" haben "wir" nun endlich auch das anglo-amerikanische Niveau jener Zeit erreicht – und in Teilen sogar weit übertroffen.

Trump oder irgendein anderer Kasper wird's richten und den amerikanischen Vorspung gewiss wieder herzustellen versuchen – auf dass die kapitalistische Perversion ins nächste logische Katastrophenkapitel wechsele.

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New Yorker Straßenarbeiter II



(Gemälde von Rainer Fetting [*1949] aus dem Jahr 1984, Öl auf Leinwand, unbekannter Verbleib)

Donnerstag, 16. Februar 2017

Zitat des Tages: Das Volk?


"Das Volk", verehrter Freund, wird nie gefragt;
im Westen nicht, und wohl auch kaum im Osten.
"Das Volk", verehrter Freund, steht wie gesagt
nicht zur Debatte, sondern stramm. Und Posten!

"Das Volk" ist allerorten nicht dafür,
war sogar allezeit bestimmt dagegen.
"Das Volk", das waren beispielsweise: Wir.
Und hat man damals uns vielleicht ...? Von wegen!

"Das Volk" will selbstverständlich Frieden. Klar.
Doch leider gibt es auch noch Generäle.
Und Rüstungsfabrikanten. Und, nicht wahr,
auch noch Politiker mit ohne Seele.

"Das Volk", das hätt' es freilich in der Hand,
in Ost und West, im Süden und im Norden,
mit einem Wort gesagt: in jedem Land
(auch ungefragt) zu hindern neues Morden.

"Das Volk" weiß nur noch nicht, wie man das macht.
Denn Pazifismus heißt statt dulden: Handeln!
Und daran hat bisher kein Mensch gedacht:
Die Kriegs- in Friedens-Schulen zu verwandeln.

Und darum, werter Herr, das wär kein Grund.
Doch hoffentlich gibt's bessres, uns zu sichern.
"Das Volk"; du lieber Gott. Der arme Hund ...
"Das Volk" hat er gesagt. – Dass wir nicht kichern!

(Heinz Hartwig, in: "Der Simpl", Nr. 21 vom November 1947)

Anmerkung: Dem satirischen Gedicht ist in der Originalveröffentlichung die folgende Vorbemerkung vorangestellt: "Der ehemalige Chefredakteur des 'Vorwärts', Friedrich Stampfer, erklärte, mit einem neuen Krieg sei nicht zu rechnen, da das Volk keinen Krieg wolle." – Dem ist heute das widerwärtige Gebrabbel der Stahlhelm-Uschi hinzuzufügen, die im Tagespropaganda-Interview kürzlich meinte: "Wir Europäer, wir Deutsche, wir müssen mehr tun für die eigene Sicherheit, wir müssen da mehr investieren. (...) Denn wenn wir sehen, wie viel Aufträge die Bundeswehr heute für unsere Sicherheit leistet – sei es in Afghanistan, im Irak, in Mali, aber auch im Mittelmeer bei der Flüchtlingshilfe [sic!] – dann weiß ich genau, dass wir das nur durchhalten, wenn auch dauerhaft mehr in die Bundeswehr investiert wird."

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Der Mensch und sein Werk



(Radierung von Karl Friedrich Brust [1897-1960], in: "Der Simpl", Nr. 11 vom September 1946)

Mittwoch, 15. Februar 2017

Zurück in die Höhle: Sozialer Wohnungsbau im Kapitalismus


Es ist eine bekannte systemimmanente und gängige Praxis im Kapitalismus, dass selbst Verwerfungen und Perversionen gerne genutzt werden, um Profit zu generieren. Die vollkommen abstruse, von jeglicher Sinnhaftigkeit befreite "Maßnahmen"-Industrie des Hartz-Terrors ist dafür ein gutes Beispiel: Da werden Menschen unter der Androhung des Entzugs der Existenzgrundlage gleich reihenweise in gänzlich sinnlose "Bewerbungs"-, "Fortbildungs"- oder "Beschäftigungs"-Maßnahmen oder gleich in die Zwangsarbeit ("Ein-Euro-Jobs") gezwungen, während die abzockenden "Anbieter" eben dieser Bullshit-"Maßnahmen" aus derselben Steuerkasse fürstlich bezahlt werden.

Dieses perverse, im Kapitalismus sehr logische Prinzip betrifft aber natürlich auch viele andere Bereiche des Lebens. Inzwischen verkauft die Propagandapresse beispielsweise gar die Reduktion des Wohnraumes, der verarmten Menschen zur Verfügung stehen solle, als begrüßenswerte "Innovation" – so als sei es ein massenhaftes "Phänomen" unserer Zeit (welches mit dem kapitalistischen Blödsinnsbegriff "Trend zum Minimalismus" bezeichnet wird), dass viele Menschen lieber in kleinen, grotesken Verschlägen anstatt in einigermaßen großen Wohnungen leben wollten (siehe "tiny houses"). Bei n-tv war kürzlich beispielhaft wieder einmal ein solches Pamphlet zu lesen:

Wohnen auf sechs Quadratmetern / (...) Bezahlbarer Wohnraum in Städten ist begrenzt – deswegen sollen die Dächer für die Idee eines Berliner Architekten-Duos herhalten. Wie Bausteine werden die Mini-Apartments auf vorhandenen Bauten platziert. Ein Raumwunder für alle Großstadt-Nomaden.

Der Artikel liest sich wie eine Reklameanzeige für staatlich verarmte Menschen. Und es wird nicht einmal mehr so getan, als gebe es keine Klassenunterschiede – stattdessen wird dem menschenfeindlichen Irrsinn noch die Krone aufgesetzt: Die "Mini-Wohnungen" sollen für 100 Euro im Monat "an Leute, die sich wohnen sonst oft nicht leisten können", vermietet werden, und: "In einem Gemeinschaftsraum sollen die Mieter zusammenkommen mit wohlhabenderen Bewohnern größerer Wohnungen im gleichen Haus."

Da wird gar nicht mehr gefragt, wieso es im kapitalistischen Paradies immer weniger "bezahlbaren Wohnraum" sowie zunehmend Menschen gibt, die sich das Wohnen "nicht mehr leisten" können – stattdessen werden passgenaue, zellenähnliche Gehege gezimmert und gleichzeitig ist sich die Bagage nicht zu blöde, auch noch das absurde Bild vom klassenübergreifenden "Miteinander" zu erbrechen, obgleich der Kapitalismus dies jedoch per definitionem ausschließt. Auf die Idee, "wohlhabendere" Bürger könnten in diesem perversen, auf den strikten Eigennutz zentrierten Konkurrenzsystem in breiter Masse ein gesteigertes Interesse daran haben, mit Habenichtsen "gemeinschaftliche Wohnräume" zu teilen, können nur zugekokste Reklametrottel oder zynische Menschenfeinde (was irgendwie dasselbe ist) kommen.

Wie lange wird es wohl noch dauern, bis das "bewährte" Nazi-Konzept der Ghettos und Konzentrationslager auch für Verarmte wieder aus der braunen Gruft gebuddelt wird? – Ich frage ja nur.

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Man wird bescheiden


"Ach, mit einer Hängematte ließe es sich schließlich in der Wohnung noch ganz bequem hausen!"

(Zeichnung von K.H. Böcher [1902-19??], in: "Der Simpl", Nr. 7 vom Juli 1946)

Dienstag, 14. Februar 2017

Realitätsflucht (36): BioShock 2


Heute führt mich die – angesichts der aktuellen Ereignisse immer drängender werdende – Realitätsflucht in die inzwischen schon legendäre Unterwasserstadt Rapture. Für spielaffine Menschen dürfte das ein alter Hut sein, für mich war es aber vor einiger Zeit das erste Mal, dass ich mich in die Tauchglocke begeben und diese fantastische Welt besucht habe. Das Spiel "BioShock 2" des amerikanischen Entwicklerstudios 2K Marin aus dem Jahr 2010 hat Maßstäbe gesetzt und gilt nicht ohne Grund als Meilenstein auf dem Gebiet der Computerspiele.

Eigentlich dürfte dieses Werk mich gar nicht interessieren, da es sich um ein Ballerspiel handelt – und mit Ballerspielen habe ich gemeinhin nichts am Hut. Das einzige weitere Spiel dieses Genres, das ich tatsächlich mit Genuss gespielt habe, war bislang "Black Mesa", also die überarbeitete "Mod"-Fassung von "Half Life", die kostenlos für jedermann verfügbar ist. Allerdings bietet "BioShock 2" ein gewisses Rollenspiel-Ambiente, das es in solchen Titeln vormals nicht gab; zudem ist das Thema außerordentlich aktuell und gesellschaftskritisch, so dass ich mich dazu entschlossen habe, es einfach mal auszuprobieren.

Zur Handlung will ich nicht viele Worte verlieren – dazu ist ohnehin schon viel geschrieben worden. Sie lässt sich herunterbrechen auf das groteske Szenario, dass einige Verrückte Ende der 50er Jahre die Idee hatten, ein "kapitalistisches Paradies" auf dem Meeresgrund zu errichten – und zwar mit allen logischen Konsequenzen, zu denen "genügend Geld" natürlich ebenso gehören wie eine massiv gesteigerte "Effizienz" der einzelnen Menschen durch genetische Veränderungen und entsprechende Drogen. Es verwundert also nicht weiter, dass in Rapture wirklich alles Geld kostet, die Wände mit Reklameplakaten vollgekleistert und auch verbale Werbebotschaften allgegenwärtig sind. Selbstverständlich endete dieses Experiment in der Katastrophe und Rapture versank im Chaos. Zehn Jahre nach der Gründung der Stadt ist sie nahezu menschenleer und nur noch von durch Drogen und Gentechnik völlig entstellten, gewalttätigen Kreaturen bevölkert, die im Spiel "Splicer" heißen und ständig auf der Suche nach dem nächsten Drogenschub (im Spiel "ADAM" genannt) sind.



Zu diesem Zeitpunkt startet das Spiel und man betritt in der Ego-Perspektive schweren Schrittes die finstere und dennoch faszinierende Unterwasserwelt von Rapture. Und was soll ich sagen: Das Werk hat mich von Beginn an gefesselt und bis zum Schluss nicht mehr losgelassen. Es gibt so vieles zu entdecken, zu tun und zu vermeiden (!), dass ich gar nicht in die Verlegenheit kam, mich zu fragen, ob es mir Spaß macht. Es gibt eine Unzahl von verschiedenen Waffen und eine noch größere Anzahl verschiedenster Munition, um die verschiedenen Gegnertypen erfolgreich auszuschalten – und gleichzeitig stehen ebenso viele höchst unterschiedliche "Sonderfertigkeiten" zur Verfügung, die der Spieler im Laufe der Handlung erwirbt (vom klassischen "Feuerball" bis zur Manipulation von Maschinen ist alles dabei), so dass zu keinem Zeitpunkt Langeweile aufkommt. Verbunden ist das Gemetzel mit einer rollenspielartig konzipierten, alles andere als flachen Geschichte, die sich stetig weiter enthüllt. Das gilt zumindest dann, wenn man sich in der grandios entworfenen Spielwelt aufmerksam umsieht und neben allerlei mehr oder weniger nützlichem Zeug (Munition, Waffen, Nahrung, Verbandskästen etc. sowie natürlich Geld, Geld, Geld ...) auch die überall verstreuten Tonbänder entdeckt, auf denen diese Geschichte fragmentarisch und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird.

Es ist nicht notwendig, den ersten Teil dieses Spieles zu kennen, um es genießen zu können. Auch diese Geschichte wird in "BioShock 2" nacherzählt, wenn man – wie gesagt – aufmerksam sucht.

Die Umsetzung ist den Entwicklern grandios gelungen. Die Grafik ist für das Jahr 2010 durchaus passabel, die Texte sowie die professionelle deutsche Synchronisation sind fantastisch, die Musik ist passend und eindringlich (und stellenweise gar nervenaufreibend). Auf meinem Win7/64-System gab es im gesamten Spielverlauf zwei unvermittelte Programmabstürze (was aber dank der Schnellspeicherfunktion, die man tunlichst sehr oft benutzen sollte, nicht weiter schlimm war). In diversen Spielberichten wird behauptet, das Werk sei in zehn bis zwölf Stunden zu bewältigen – diese Angabe kann ich nicht bestätigen, denn ich habe locker zehnmal so viel Zeit gebraucht. Das liegt vermutlich an meiner Spielweise, denn ich lasse keinen Winkel unentdeckt und stehe angesichts des großartigen Szenarios auch schonmal minutenlang vor einem Fenster oder an einem anderen Aussichtspunkt, um die faszinierende, wenn auch morbide Atmosphäre zu genießen.



Es gibt zwei Add-Ons zu diesem Spiel, von denen ich allerdings nur eines gespielt habe, nämlich "Minerva's Den". Dazu ist nicht viel zu sagen – man nimmt dort eine andere Rolle ein und erkundet ein neues Gebiet in Rapture – ansonsten tut man aber exakt dasselbe wie im Hauptspiel. Und das ist sehr gut so.

Ich habe das Spiel von der ersten bis zur letzten Minute genossen – selten zuvor war ich so traurig, als der Abspann einsetzte. Und mit hämischer, Faulfuß'scher Freude habe ich all die Bösewichte verbrannt, mit Blei vollgepumpt, mit Harpunenspeeren an die Wand genagelt, elektrischer Hochspannung ausgesetzt oder ihnen ein Explosivgeschoss in den Schädel geschickt. Als Pazifist macht dieses Spiel gleich doppelt so viel Spaß. :-) Ich bin sicher, dass mein erster Besuch in Rapture ganz sicher nicht mein letzter gewesen ist.


Musik des Tages: Awaken




(Yes: "Awaken", live auf dem Montreux Festival 2003; original aus dem Album "Going for the One", 1977)

High vibration, go on to the sun
Oh, let my heart dreaming past a mortal as me
Where can I be?

Wish the sun to stand still
Reaching out to touch our all being
Past all mortal as we, here we can be

Suns | High | Streams | Through
Awaken gentle mass touch

Strong | Dreams | Reign | Here
Awaken gentle mass touch

Star | Song | Age | Less
Awaken gentle mass touching

Workings of man, set to ply out historical life
Reregaining the flower of the fruit of his tree
All awakening, all restoring you

Workings of man, crying out from the fire set aflame
By his blindness to see that the warmth of his being
Is promised for his seeing, his reaching so clearly

Workings of man, driven far from the path
Rereleased in inhibitions so that
All is left for you

Master of images, songs cast a light on you
Hark through dark ties that tunnel us out of sane existence
In challenge as direct as eyes see young stars assemble

Master of light, all pure chance
As exists cross divided in all encircling mode
Oh closely guided plan, awaken in our heart

Master of soul, set to touch
All impenetrable youth, ask away
That thought be contact with all that's clear
Be honest with yourself
There's no doubt
No doubt

Master of time, setting sail
Over all our lands, and as we look
Forever closer, shall we now bid
Farewell ... farewell ...

High vibration, go on to the sun
Oh let my heart dreaming past a mortal as me
Where can I be?

Wish the sun to stand still
Reaching out to touch our all being
Past all mortal as we, here we can be

Like the time I ran away
Turned around and you were standing close to me


Montag, 13. Februar 2017

Obdachlosigkeit im kapitalistischen Paradies: Medienpropaganda


Es ist inzwischen kein Geheimnis mehr, dass in Deutschland die Obdachlosigkeit massiv zugenommen hat und dass diese unheilvolle Tendenz ungebremst andauert. Gelegentlich wird sogar in der Propagandapresse – auf Seite 17 in der Rubrik "Panorama" – darüber berichtet; dies allerdings oft in einer Weise, die mit dem Begriff "perfide" nur unzulänglich bezeichnet ist. Kürzlich war bei n-tv wieder einmal ein solches Beispiel zu finden. Unter der reißerischen Überschrift "Berlin wird Hauptstadt der Obdachlosen" war dort in ebenjener Boulevard-Rubrik zu lesen:

Die Zahl der Menschen ohne Wohnung erreicht in der Millionenmetropole Rekorde. Das Problem ist inzwischen überall sichtbar. Dahinter stecken dramatisch steigende Mieten, Wohnungsmangel und Einwanderung.

Der Text ist es nicht wert gelesen zu werden; zum Verständnis dieses Kommentars ist die Lektüre aber dennoch sinnvoll. Dort finden sich nämlich sämtliche Propagandamerkmale, die in Kapitalistan zu beachten sind, wenn ein so unschönes Thema, das am dünnen Glitzerlack der kapitalistischen Wohlfühl- und "Uns geht es so gut wie nie"-PR kratzen könnte, unbedingt medial behandelt werden muss. Ich zähle einige auf (und erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit):

  1. Es gibt keine belastbaren Zahlen zur Anzahl der Obdachlosen, sondern lediglich ominöse Schätzungen. Diese fallen entsprechend moderat aus.
  2. Obdachlose seien unsäglich faul – sie liegen "Tag und Nacht" einfach tatenlos herum, anstatt ihr "Glück zu schmieden".
  3. Der Staat sowie "private Stellen" kümmerten sich bereits – das Problem sei also gar nicht so schlimm.
  4. Obdachlose seien selbst schuld, wenn ihnen nicht geholfen wird – im Zweifel sind "viele" gleich "psychisch krank".
  5. Insbesondere "Osteuropäer" und "Flüchtlinge" seien schuld an der Misere – Deutsche tauchen in diesem perversen Argumentationsstrang gar nicht auf. In diesem Zusammenhang werden auch logische Brüche unverblümt zur Schau gestellt, wie etwa: "Sie kamen fast alle in die Bundesrepublik mit der Hoffnung auf Arbeit, mussten aber feststellen, nicht im Schlaraffenland gelandet zu sein. Wenn sie nie in Deutschland gearbeitet haben, besitzen sie keinerlei Ansprüche auf soziale Unterstützung (...). Etliche wollen dennoch nicht nach Hause, da das umfassende Hilfsangebot in der Bundeshauptstadt weit besser ist als in ihren Heimatländern." – Das Hilfsangebot ist so umfassend und gut, dass sie eben nun obdachlos sind.
  6. Das "Schlaraffenland" gilt in der medialen Lügenerzählung merkwürdigerweise dennoch weiterhin – allerdings nur für Deutsche. Für "Ausländer" ist es trotz der "umfassenden Hilfsangebote" ein Märchen.
  7. Schuld seien auch die "massiv gestiegenen Mieten" – wobei geflissentlich vermieden wird, die Ursachen dafür zu benennen. Auch die sinkenden, bestenfalls stagnierenden Löhne in Deutschland finden hier keine Erwähnung, ebenso wie die politisch inszenierten Gründe (u.a. "Agenda 2010") dafür. Mieten steigen eben, Löhne nicht – das ist in Kapitalistan ein Naturgesetz, das nicht in Frage gestellt werden darf.
  8. Es gebe einen "Wohnungsmangel". Unerwähnt bleiben dabei regelmäßig die Themen der Gentrifizierung und des (unterlassenen bzw. gar abgewickelten) sozialen Wohnungsbaus. Der "Wohnungsmangel" ist demnach vom Himmel gefallen oder bestenfalls "dem Markt" geschuldet – man kann also nichts dagegen tun. Leerstehende Häuser und Wohnungen, die es in Deutschland zuhauf gibt, finden hier ebenfalls keine sinnvolle Erwähnung. Wieso sollte man Obdachlosen auch in "unattraktiven" Städten eine Wohnung anbieten, wenn sie in Berlin, Köln oder Frankfurt doch im U-Bahn-Schacht hausen können?
  9. Ein wesentlicher Punkt wird regelmäßig nicht einmal am Rande erwähnt: Nämlich der unsägliche Hartz-Terror, durch den deutschlandweit Millionen von Menschen tagtäglich, ohne Unterbrechung, von Obdachlosigkeit bedroht sind – und niemand weiß, wieviele inzwischen tatsächlich ihr Dach über dem Kopf verloren haben, weil fleißige Menschenfeinde in den "Jobcentern" ihre sadistischen Vorlieben ausleben, indem sie "Sanktionen" verhängen und Menschen das "Existenzminimum" verweigern. Dazu gehören junge Menschen und Kinder ebenso wie Ältere, Kranke, Behinderte und Rentner. – Steinmeier findet das toll.

Diese Propaganda, die sich aus einem fiesen Mix aus Menschenfeindlichkeit, Rassismus, Unterschlagung und bizarrer Zurechtbiegung von Fakten zusammensetzt, beherrscht die Berichterstattung zu diesem Thema. Denn wir wissen ja: Es ging "uns" nie so gut wie heute – und wem es vielleicht doch nicht so gut geht, der ist eben selber schuld.

Es ist ein Skandal sondergleichen, dass es in diesem Land überhaupt einen einzigen Menschen gibt, der unfreiwillig obdachlos ist. Und der kapitalistische Staat forciert das, anstatt es rigoros zu unterbinden.

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Diesen kleinen Text widme ich der sehr netten, obdachlosen Person, mit der ich kürzlich vor den Pforten des Billig-Supermarktes, in dem ich meinen kärglichen Lebensmitteleinkauf tätigen wollte, ein längeres Gespräch führte. Es tut mir heute noch leid, dass ich nicht mehr als ein paar Zigaretten, ein paar Euro und meine Flaschenpfandbons abgegeben habe. Ich hätte mehr geben können – war aber viel zu ängstlich, weil erst Monatsanfang war.

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Garantierte Grundrechte


"Jeder hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung!"

(Zeichnung von Otto Nückel [1888-1955], in: "Der Simpl", Nr. 10 vom Juni 1947)