Montag, 13. Februar 2017

Obdachlosigkeit im kapitalistischen Paradies: Medienpropaganda


Es ist inzwischen kein Geheimnis mehr, dass in Deutschland die Obdachlosigkeit massiv zugenommen hat und dass diese unheilvolle Tendenz ungebremst andauert. Gelegentlich wird sogar in der Propagandapresse – auf Seite 17 in der Rubrik "Panorama" – darüber berichtet; dies allerdings oft in einer Weise, die mit dem Begriff "perfide" nur unzulänglich bezeichnet ist. Kürzlich war bei n-tv wieder einmal ein solches Beispiel zu finden. Unter der reißerischen Überschrift "Berlin wird Hauptstadt der Obdachlosen" war dort in ebenjener Boulevard-Rubrik zu lesen:

Die Zahl der Menschen ohne Wohnung erreicht in der Millionenmetropole Rekorde. Das Problem ist inzwischen überall sichtbar. Dahinter stecken dramatisch steigende Mieten, Wohnungsmangel und Einwanderung.

Der Text ist es nicht wert gelesen zu werden; zum Verständnis dieses Kommentars ist die Lektüre aber dennoch sinnvoll. Dort finden sich nämlich sämtliche Propagandamerkmale, die in Kapitalistan zu beachten sind, wenn ein so unschönes Thema, das am dünnen Glitzerlack der kapitalistischen Wohlfühl- und "Uns geht es so gut wie nie"-PR kratzen könnte, unbedingt medial behandelt werden muss. Ich zähle einige auf (und erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit):

  1. Es gibt keine belastbaren Zahlen zur Anzahl der Obdachlosen, sondern lediglich ominöse Schätzungen. Diese fallen entsprechend moderat aus.
  2. Obdachlose seien unsäglich faul – sie liegen "Tag und Nacht" einfach tatenlos herum, anstatt ihr "Glück zu schmieden".
  3. Der Staat sowie "private Stellen" kümmerten sich bereits – das Problem sei also gar nicht so schlimm.
  4. Obdachlose seien selbst schuld, wenn ihnen nicht geholfen wird – im Zweifel sind "viele" gleich "psychisch krank".
  5. Insbesondere "Osteuropäer" und "Flüchtlinge" seien schuld an der Misere – Deutsche tauchen in diesem perversen Argumentationsstrang gar nicht auf. In diesem Zusammenhang werden auch logische Brüche unverblümt zur Schau gestellt, wie etwa: "Sie kamen fast alle in die Bundesrepublik mit der Hoffnung auf Arbeit, mussten aber feststellen, nicht im Schlaraffenland gelandet zu sein. Wenn sie nie in Deutschland gearbeitet haben, besitzen sie keinerlei Ansprüche auf soziale Unterstützung (...). Etliche wollen dennoch nicht nach Hause, da das umfassende Hilfsangebot in der Bundeshauptstadt weit besser ist als in ihren Heimatländern." – Das Hilfsangebot ist so umfassend und gut, dass sie eben nun obdachlos sind.
  6. Das "Schlaraffenland" gilt in der medialen Lügenerzählung merkwürdigerweise dennoch weiterhin – allerdings nur für Deutsche. Für "Ausländer" ist es trotz der "umfassenden Hilfsangebote" ein Märchen.
  7. Schuld seien auch die "massiv gestiegenen Mieten" – wobei geflissentlich vermieden wird, die Ursachen dafür zu benennen. Auch die sinkenden, bestenfalls stagnierenden Löhne in Deutschland finden hier keine Erwähnung, ebenso wie die politisch inszenierten Gründe (u.a. "Agenda 2010") dafür. Mieten steigen eben, Löhne nicht – das ist in Kapitalistan ein Naturgesetz, das nicht in Frage gestellt werden darf.
  8. Es gebe einen "Wohnungsmangel". Unerwähnt bleiben dabei regelmäßig die Themen der Gentrifizierung und des (unterlassenen bzw. gar abgewickelten) sozialen Wohnungsbaus. Der "Wohnungsmangel" ist demnach vom Himmel gefallen oder bestenfalls "dem Markt" geschuldet – man kann also nichts dagegen tun. Leerstehende Häuser und Wohnungen, die es in Deutschland zuhauf gibt, finden hier ebenfalls keine sinnvolle Erwähnung. Wieso sollte man Obdachlosen auch in "unattraktiven" Städten eine Wohnung anbieten, wenn sie in Berlin, Köln oder Frankfurt doch im U-Bahn-Schacht hausen können?
  9. Ein wesentlicher Punkt wird regelmäßig nicht einmal am Rande erwähnt: Nämlich der unsägliche Hartz-Terror, durch den deutschlandweit Millionen von Menschen tagtäglich, ohne Unterbrechung, von Obdachlosigkeit bedroht sind – und niemand weiß, wieviele inzwischen tatsächlich ihr Dach über dem Kopf verloren haben, weil fleißige Menschenfeinde in den "Jobcentern" ihre sadistischen Vorlieben ausleben, indem sie "Sanktionen" verhängen und Menschen das "Existenzminimum" verweigern. Dazu gehören junge Menschen und Kinder ebenso wie Ältere, Kranke, Behinderte und Rentner. – Steinmeier findet das toll.

Diese Propaganda, die sich aus einem fiesen Mix aus Menschenfeindlichkeit, Rassismus, Unterschlagung und bizarrer Zurechtbiegung von Fakten zusammensetzt, beherrscht die Berichterstattung zu diesem Thema. Denn wir wissen ja: Es ging "uns" nie so gut wie heute – und wem es vielleicht doch nicht so gut geht, der ist eben selber schuld.

Es ist ein Skandal sondergleichen, dass es in diesem Land überhaupt einen einzigen Menschen gibt, der unfreiwillig obdachlos ist. Und der kapitalistische Staat forciert das, anstatt es rigoros zu unterbinden.

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Diesen kleinen Text widme ich der sehr netten, obdachlosen Person, mit der ich kürzlich vor den Pforten des Billig-Supermarktes, in dem ich meinen kärglichen Lebensmitteleinkauf tätigen wollte, ein längeres Gespräch führte. Es tut mir heute noch leid, dass ich nicht mehr als ein paar Zigaretten, ein paar Euro und meine Flaschenpfandbons abgegeben habe. Ich hätte mehr geben können – war aber viel zu ängstlich, weil erst Monatsanfang war.

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Garantierte Grundrechte


"Jeder hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung!"

(Zeichnung von Otto Nückel [1888-1955], in: "Der Simpl", Nr. 10 vom Juni 1947)

7 Kommentare:

Martin Däniken hat gesagt…

Bei den öffentlicch-rechtlichen wie auch bei den privaten TV-Sendern gab es in den letzten Wochen den Trend Aussenreportagen unter oder mit Obdachlosen zumachen und mal ne Nachrt draussen im Schlafsack zuverbringen...
War nett gemeint aber hatte dann einen starken bis totalen Fremdschäm-,Ekelfaktor!

Ralf hat gesagt…

Anonym Martin Däniken : Ich zweifele sehr stark das das nett gemeint war....

dieschlandraetin hat gesagt…

Schauerliche Berichterstattung, da hast de recht!
Klingt fast immer so, als wären diese Zustände, Naturgesetzen unterworfen,
an die man sich eben gewöhnen muss. Denn "Das ist dann eben einfach so!". Mit den kranken Auswüchsen des Kapitalismus, der da immer weiter munter vor sich hin wuchert, hat das rein gar nix zu tun.

Troptard hat gesagt…

Hallo Charlie,

der kleingedruckte Absatz zu Deinem Text hat mir besonders gut gefallen.

Das sind diese menschenfreundlichen Gesten, die es braucht, und die ich nicht nur von Christenmenschen erwarte, sondern ebenso von Menschen, die sich irgendwie in diesen verlorenen Haufen von Linken ausserhalb der parlamentarischen Linken einordnen.
Aber zu Deinem Text noch etwas Grundsätzliches und nicht als Kritik daran gedacht:

Im linken Diskurs hat sich etwas eingeschlichen, dass die heutigen sozialen Verwerfungen weitgehend als besonderes Resultat des sog. Neoliberalimus darstellen und als Resultat eines entfesselten Finanzkapitalismus.

Die relativ kurze Phase eines krisenfreien Kapitalismus von 20 Jahren nach dem II. Weltkrieg und mit Staatsinterventionen à la Keynes werden dafür genommen, dass Kapitalismus steuerbar und diese Steuerbarkeit nur die Frage eines politischen Willens sei, und damit die brutalen sozialen Verwerfungen vermeidbar, regulierbar sind.

Wenn man ein wenig von den Krisen im Kapitalismus verstehen will, so sollten diese Krisen als Überakkumulation von Kapital und damit als Überproduktionskrisen verstanden werden. Um diese Krisen zu lösen braucht es nicht nur einer massenhaften Entwertung der Ware Arbeitskraft, der Lohnarbeit, sondern auch von Kapital, von spekulativem und nicht konkurrenzfähigem.

Dass ist bisher vermieden worden. Der Staat und seine Zentralbanken haben bisher dafür gesorgt, dass die massenweise Entwertung von Kapital vermieden worden ist und weiterhin darauf gesetzt wird, durch Entwertung der Lohnarbeit und Zerschlagung des Sozialstaates, diese Entwertung vermeiden zu können.

Für die Menschen, die jünger sind als ich und nicht aus meinem empirischen Schatz schöpfen können: Zunächst einmal gab es da an den Mietwohnblocks, diese Schilder: Betteln und Hausieren verboten: Und ein typischer Spruch den ich als Kind von den Erwachsenen noch in Erinnerung habe ist, wenn sie an die Türen klopften: Nein, wir geben Nichts!"

Und die Bauchläden, die sich von Tür zu Tür gearbeitet haben, mit den bescheidenen Waren darin , die Scherenschleifer mit ihren Schleifsteinen, oft Kriegsversehrte mit amputierten Beinen oder Armen.

Nein! Kapitalismus ist nicht etwas, was man sich als Fortsetzung wünschen sollte.
Er wird nie das werden, was sich der Mensch von ihm, wie auch immer noch erhoffen will.







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m hat gesagt…

Das "nett gemeint" war auch eher sarkastisch gemeint,,,
Weil es gibt durchaus Menschen in den Sendeanstalten,die gut sind!
Aber sie arbeiten in diesem Schweinesystem(das ist ja so 70er).
Was Obdachlosigkeit angeht...
Ich bin der festen Überzeugung,das es Menschen gibt,die so aus dem System fallen oder gefallen sind,das nur die Strasse ihnen ein Biotop bietet.
Das widerspricht meinem Gefühl,das man eigentlich jeden helfen kann und muss.
Da ich auch selber eine Zeitlang ofW war,hat sich diese Illusion verlaufen?!
Ich habe gelernt,das es Menschen gibt,die nicht (rein)passen.

Charlie hat gesagt…

@ Troptard: Danke für die treffende und wichtige Ergänzung. Man kann Dein Fazit gar nicht oft genug wiederholen, bis es auch endlich der Letzte verinnerlicht hat:

"Kapitalismus ist nicht etwas, was man sich als Fortsetzung wünschen sollte. Er wird nie das werden, was sich der Mensch von ihm, wie auch immer noch erhoffen will."

Liebe Grüße!

flurdab hat gesagt…

Tja, Männer und Weiber.
Die Kipping von den Linken hat dazu eine Anfrage gestellt.

http://www.katja-kipping.de/de/article/1191.das-haus-nahles-wei%C3%9F-nichts-%C3%BCber-das-schicksal-der-hartz-iv-totalsanktionierten.html

Resultat: 7.000 Totalsanktionen je Monat. 84.000 im Jahr.
Keine Ahnung was mit den Menschen passiert!

Das gefährlichste im "Kaputalismus" was dir passieren kann ist, das du deinen Konsumentenstatus verlierst.

Grüße