Samstag, 4. März 2017

Der redundante Einwurf (1): Gartenarbeit, oder: Das Trio der Kettensägen


Wann ist eigentlich die schauderhafte Zeit angebrochen, in der aus der einstmals friedlichen, besinnlichen, geradezu heilsamen Gartenarbeit ein lärmendes, unerträgliches Baustellen-Fiasko geworden ist? Seit nunmehr vier Stunden behelligen mich meine lieben Nachbarn mit multiplen Motorengeräuschen, die so laut sind, dass die jeweiligen Maschinenführer (es sind derer drei an der Zahl) den Lärm ohne Gehörschutz nicht zu ertragen vermögen – an die Nachbarn hat man dieses hilfreiche Schutzmittel jedoch nicht verteilt.

Ich weiß, dass ich mich hiermit in die altbekannte Kategorie "Und Oppa erzählt vom Kriech" begebe und mich gleichzeitig als dummer Spießer oute – aber trotzdem lief die Gartenarbeit zu meiner Zeit, als ich dazu von liebenden Eltern noch streng und unerbittlich gezwungen wurde und sie (die Gartenarbeit ebenso wie die Eltern) dafür hasste, weitestgehend geräuschlos ab und belästigte außer mir selber, der ich lieber Klavier spielen, lesen, schlafen oder Sex haben wollte, niemanden sonst. Heute ist selbst bei geschlossenen Türen und Fenstern (trotz Doppelverglasung) nicht einmal ein Telefonat im gartenabgewandten Teil der Wohnung möglich, weil man aufgrund des penetranten Lärms sein eigenes Wort nicht versteht.

So hat der Dichter und bekennende Gartenliebhaber Hermann Hesse diese Zeit beschrieben:

"Morgens so gegen die sieben" verlässt ein alter Mann seine Stube und tritt, wie er es schildert, "erst auf die lichte Terrasse". Er nimmt sich den "runden Korb für das Unkraut ..., Hacke und Spaten" und der "Gießkannen zwei, gefüllt mit sonnegewärmtem Wasser". Er ist zufrieden, denn: "schön in geraden Reihen ... stehn meine Tomaten, saftig und strotzend im Laub". Das Geheimnis: "Jegliche Wurzel umgab ich mit feuchtem, lockerem Torfmull, dem ich ein Gran Kunstdünger beimischte." Auch das Pfirsichbäumchen gedeiht prächtig: "Ich pflanzte es selber." / Der alte Mann wendet sich nun einer Weißdornhecke zu, hockt sich nieder, sitzt "kauernd wie ein Chinese, den Strohhut tief über den Augen". Er frohlockt: "Unter mir gehen die Leute." Sie "wähnen allein sich und ohne Zeugen, denn niemand vermöchte mich zu erspähn ... Vieles (von dem, was sie sagen) vernehm ich genau." Dann kommt "durch die Dschungel des Gartens ... unser Kater, mein Freund, mein Brüderchen" heran. Zärtlich miaut er", und der phantasievolle alte Mann muss an Löwen und Tiger denken.

Nichts könnte den Niedergang unserer Zeit besser illustrieren als diese offenkundige Diskrepanz zwischen dem "Gartenidyll" eines Hermann Hesse und der grausigen Baustellenrealität der Gegenwart. Es macht längst keinen Unterschied mehr, ob der Nachbar Betonfundamente aus seinem Garten mit dem Presslufthammer entfernt oder ob er die Rosen oder die Hecke schneidet oder schlicht den Rasen mäht. Das Ergebnis ist stets dasselbe: Es bringt einen Pazifisten wie mich dazu, mir in allen Details blumig auszumalen, wie ich ein Maschinengewehr auf dem Balkon aufbaue und die Lärmenden nacheinander (oder auch gleichzeitig, wenn sie günstig stehen) mit Blei vollpumpe.

Inzwischen sind fünf Stunden voller Lärm vergangenen und ein Ende des Kettensägentrios (oder welche Lärmwerkzeuge da auch immer benutzt werden) ist nicht abzusehen. Dies ist einer dieser Tage, an denen ich mir sehnlich eine Zeitmaschine herbeiwünsche, um dieses grauenhafte Jahrhundert – gesichtspalmierend und irre grüßend – für immer zu verlassen. So finster die Vergangenheit auch sein mag: Sie erscheint wie ein Paradies angesichts der drohenden, pechschwarzen Zukunft.



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Zitat des Tages: Über die Lügengesellschaft


Alles in dieser Stadt ist gegen das Schöpferische, und wird auch das Gegenteil immer mehr und mit immer größerer Vehemenz behauptet, die Heuchelei ist ihr Fundament, und ihre größte Leidenschaft ist die Geistlosigkeit, und wo sich in ihr Phantasie auch nur zeigt, wird sie ausgerottet. Salzburg ist eine perfide Fassade, auf welche die Welt ununterbrochen ihre Verlogenheit malt und hinter der das (oder der) Schöpferische verkümmern und verkommen und absterben muss.

Meine Heimatstadt ist in Wirklichkeit eine Todeskrankheit, in welche ihre Bewohner hineingeboren und hineingezogen werden, und gehen sie nicht im entscheidenden Zeitpunkt weg, machen sie direkt oder indirekt früher oder später unter allen diesen entsetzlichen Umständen entweder urplötzlich Selbstmord oder gehen direkt oder indirekt langsam und elendig auf diesem im Grunde durch und durch menschenfeindlichen architektonisch-erzbischöflich-stumpfsinnig-nationalsozialistisch-katholischen Todesboden zugrunde.

Wahrscheinlich ist in Internaten und vornehmlich in solchen unter den extremsten menschensadistischen und naturklimatischen Bedingungen wie in der Schrannengasse das Hauptthema unter den Lernenden und Studierenden, unter den Zöglingen kein anderes als das Selbstmordthema, alles andere also als ein wissenschaftlicher Gegenstand, ein solcher Gegenstand nicht aus der Studienmasse heraus, sondern aus dem ersten, alle gemeinsam am intensivsten beschäftigenden Gedanken heraus, und der Selbstmord und der Selbstmordgedanke ist immer der wissenschaftlichste Gegenstand, aber das ist der Lügengesellschaft unverständlich.

Die Lern- und Studierzeit ist vornehmlich eine Selbstmordgedankenzeit, wer das leugnet, hat alles vergessen. Wie oft, und zwar hunderte Male, bin ich durch die Stadt gegangen, nur an Selbstmord, nur an Auslöschung meiner Existenz denkend und wo und wie ich den Selbstmord (allein oder in Gemeinschaft) machen werden, aber diese durch alles in dieser Stadt hervorgerufenen Gedanken und Versuche haben immer wieder zurück in das Internat, in den Internatskerker geführt. Ein Geistlicher hat in einer solchen, dem Stumpfsinn des Katholizismus vollkommen ausgelieferten und von diesem katholischen Stumpfsinn vollkommen beherrschten Stadt, die dazu in dieser Zeit auch noch eine durch und durch nazistische Stadt gewesen ist, bei einem Selbstmörderbegräbnis nichts zu suchen.

Der ausgehende Herbst und das in Fäulnis und Fieber eingetretene Frühjahr haben immer ihre Opfer gefordert, hier mehr als anderswo in der Welt, und die für den Selbstmord Anfälligsten sind die jungen, die von ihren Erzeugern und anderen Erziehern alleingelassenen jungen Menschen, die lernenden und studierenden und tatsächlich immer nur in Selbstauslöschung und Selbstvernichtung meditierenden, für welche einfach noch alles die Wahrheit und die Wirklichkeit ist und die in dieser Wahrheit und Wirklichkeit als einer einzigen Fürchterlichkeit scheitern.

(Auszüge aus: Thomas Bernhard [1931-1989]: "Die Ursache. Eine Andeutung", Residenz Verlag 1975)



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Freitag, 3. März 2017

Musik des Tages: Element of Crime




(Element of Crime, live auf dem Rudolstadt Festival, 2016)

  1. Wenn der Morgen graut
  2. Immer so weiter
  3. Schwert, Schild und Fahrrad
  4. Mehr als sie erlaubt
  5. Rette mich (vor mir selber)
  6. Draußen hinterm Fenster
  7. Akkordeon
  8. Bitte bleib bei mir
  9. Liebe ist kälter als der Tod
  10. Am Ende denk' ich immer nur an dich
  11. Über dir der Mond
  12. Dunkle Wolke
  13. Immer da, wo du bist, bin ich nie
  14. Wenn der Wolf schläft, müssen alle Schafe ruh'n
  15. Kaffee und Karin
  16. Lieblingsfarben und Tiere
  17. Weißes Papier
  18. Delmenhorst
  19. Über Nacht

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Über Nacht

Über Nacht kamen die Wolken
Und ich hab's nicht mal gemerkt
Schon sind am ersten Straßenbaum
Die ersten Blätter verfärbt

Ich will immer soviel erleben
Und verschlafe doch nur die Zeit
Und kaum dass ich einmal nicht müde bin
Ist der Sommer schon wieder vorbei

Über Nacht kamen die Vögel
Und bildeten einen Verein
Der verzieht sich bald ans Mittelmeer
Und lässt uns im Regen allein

Ich will immer so gern berauscht sein
Und werde doch immer nur breit
Und kaum dass ich einmal nüchtern bin
Ist der Sommer schon wieder vorbei

Über Nacht kam die Erinnerung
An längst vergangenes Glück
Und voller Wehmut stell' ich mir
Die Uhr eine Stunde zurück

Ich will dich so gerne vergessen
Und bin dazu doch nicht bereit
Und kaum dass ich dich einmal wiederseh'
Ist der Sommer schon wieder vorbei

(Element of Crime: "Die schönen Rosen", 1996)


Donnerstag, 2. März 2017

CSU: "Auf, auf, ins Vierte Reich!"


Meine lieben Freunde von der CSU, die das "C" in ihrem Parteinamen wohl nur deshalb führen, weil das viel naheliegendere "N" zur Zeit der Parteigründung (1945/46) selbst in Bayern noch ein wenig "verpönt" war, machen ihrer braunen Gesinnung wieder mal alle Ehre und zimmern fleißig am Gerüst des dystopischen Terrorstaates. Aktuell geht es wieder einmal um die Zementierung des faschistoiden "Pre-Crime"-Prinzips, wie bei Zeit Online nachzulesen ist:

Die [bayrische] Staatsregierung hat einen Gesetzentwurf erarbeitet, der erstmals vorsieht, Gefährder zeitlich unbegrenzt präventiv in Haft zu nehmen. Das wäre deutschlandweit einmalig – und ein Tabubruch, wie Experten glauben.

Nun muss man – anders als Zeit-Redakteure oder bayrische Landtags-"Oppositionelle" suggerieren – gewiss kein "Experte" sein, um in diesem Vorhaben nicht nur einen Tabubruch, sondern einen eindeutig verfassungsfeindlichen Angriff auf die inzwischen geradezu absurd anmutende Simulation des "freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates" zu entdecken. Wie im Text schon angedeutet, befindet sich dieses Land aber längst auf dem braunen Weg, denn schon jetzt ist es nach geltendem Recht legal, einen Menschen, der von irgendwem als "Gefährder" identifiziert wurde (im Zweifel beruht das stets auf ominösen, ungenannten und natürlich ungeprüften "Geheimdiensterkenntnissen"), bis in privateste Details hinein zu "observieren", zu gängeln und bis zu vierzehn Tagen zu inhaftieren.

Die CSU wäre aber nicht die stolze, stinkende Vorzeigekloake Deutschlands neben der AfD, wenn sie diese Praxis nicht mühelos unterbieten könnte. Eine "zeitlich unbefristete Inhaftierung von Gefährdern" gab es in Deutschland schon einmal und es ist bekannt, wohin das vor 80 Jahren geführt hat. Auch die Berichterstattung in den Kuhmedien erinnert mich stark an jene Zeit, kurz bevor der nationalsozialistische Maulkorb verhängt wurde: Der verlinkte Text bei Zeit Online liest sich, als ginge es darin um eine Diskussion über Schachstrategien am Kaffeetisch, nach der man brav zur Tagesordnung übergeht und sich nächste Woche wieder trifft, um die jüngsten Bundesligaergebnisse ebenso heiß zu diskutieren.

Allein der Begriff "Gefährder", der in den Medien und der Politik heute wie selbstverständlich – und stets ohne Anführungszeichen! – benutzt wird, ist schon so grotesk, dass er starke physische Schmerzen verursacht, wenn man versucht darüber nachzudenken. Sind umweltverschmutzende und global agierende ausbeuterische Industrien, Waffenfabrikanten, kriegslüsterne PolitikerInnen, elitäre Superreiche oder verfassungsfeindliche Gesetze nicht viel eher als "Gefährder" auszumachen? Auf diese zielt der nationalchristlich-soziale Vorstoß jedoch einmal mehr nicht.

Es gehört nicht sonderlich viel Fantasie dazu, die eigentliche Strategie der kapitalistischen Bande hinter diesem vorgeschobenen Terror-Bingo auszumachen. Selbstverständlich gehört das Fischen im rechtsextremen Wählerbecken auch dazu, wie im verlinkten Text erwähnt – aber das eigentliche Ziel wird auch dort nicht genannt. Auch das kennen wir zur Genüge aus der Vergangenheit: Die perfiden, menschenfeindlichen und terroristischen Absichten der Nazis waren zwar wohlbekannt, spielten in den Massenmedien der 30er Jahre aber kaum eine Rolle.

Da soll mir nochmal jemand den üblen Knopf ans Knie nageln, dass sich Geschichte nicht wiederhole. Nazis und Kapitalisten – was ja dasselbe ist – bleiben ebenso lernresistent wie die angeschlossene Presse.

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Ob Nazi oder nicht, auch der letzte Wähler wird von der CSU herausgefischt

(Zeichnung von Max Radler [1904-1971], in: "Der Simpl", Nr. 8 vom April 1948)

Dienstag, 28. Februar 2017

Mediale Propaganda, oder: Matschepampe im Schädel


Man stelle sich folgendes Szenario vor: Ein Mensch steht am Herd, legt seine rechte Hand flach auf eine Kochplatte und stellt den entsprechenden Regler sodann auf die maximale Stufe. Schon nach kurzer Zeit verspürt er eine zunächst wohlige Wärme, die sich allerdings flugs zur schmerzhaften Hitze steigert, so dass er sehr schnell vor der Wahl steht, die Hand entweder wegzuziehen oder sich schwere Verbrennungen zuzuziehen.

Das klingt arg nach Kindergarten und Sandkastenphilosophie, ich weiß – aber es ist dennoch exakt dasselbe Szenario, das von den Massenmedien der kapitalistischen Welt und deren Erklär-Experten tagaus, tagein als gleichsam unumstößliche "Wahrheit" verkündet wird wie eine religiöse Litanei, wobei der Teil bezüglich der Verbrennungen meist weggelassen oder beschönigt wird. Bei n-tv las ich vor einiger Zeit exemplarisch:

Laut von Oxfam zusammengestellten Daten besitzen die acht reichsten Menschen der Welt – allesamt Männer – gemeinsam ein ähnlich großes Vermögen wie die gesamte ärmere Hälfte der Menschheit. Das reichste Prozent der Menschheit besitzt demnach seit 2015 mehr als der gesamte Rest.

Ei der daus, denkt sich der geneigte, vielleicht sogar hoffnungsfrohe Leser, hat die Presse vielleicht endlich begriffen, dass das kapitalistische System wohl doch nicht der Weisheit letzter Schluss ist? – Aber nein, hier kann gleich wieder Entwarnung gegeben werden, denn wie gewohnt fehlt in diesen Berichten stets die Ursachenanalyse und erst recht das logische Fazit. Im zitierten Beispiel wird gar die "Entwicklungsorganisation Oxfam", von der die Daten stammen, vorgeschoben, um die "Gründe" für diesen katastrophalen Zustand zu benennen:

Die Organisation macht für die Ungleichheit politische und unternehmerische Fehlentwicklungen verantwortlich. Sie fordert, dass Staaten stärker kooperieren anstatt gegeneinander in einen Wettbewerb um die niedrigsten Unternehmenssteuern zu treten. Gleichzeitig sollen sie unternehmerisches Handeln fördern, das sich weniger auf Kapitalgeber und stärker auf Arbeiter und Umweltkosten konzentriert.

Da bleibt kein Auge trocken und kein Hirn intakt: Der Begriff "Fehlentwicklungen" sowie die Forderungen nach "weniger Wettbewerb" im selben Atemzug mit dem "unternehmerischen Handeln" wirken in diesem Zusammenhang wie ein robuster, laufender Sahnequirl, der den LeserInnen in den zuvor geöffneten Schädel gehalten wird. Merken die Figuren, die bei "Oxfam" solche Klopper heraushauen, sowie die Papageien in den Presseagenturen und Medienhäusern, die den Mist munter verbreiten, eigentlich nicht, was sie da tun? Lässt man ihnen keine Wahl? Oder tun sie es gar aus Überzeugung?

Anders gefragt: Gibt es auf diesem Höllenplaneten tatsächlich vereinzelt Menschen, die allen Ernstes glauben, dass die kapitalistische Katastrophe – die im Übrigen nicht nur aus der "ungleichen Verteilung" von Reichtum bzw. Privatbesitz besteht, sondern weitaus größere gesellschaftliche, soziale, ökologische und natürlich auch ökonomische Dimensionen umfasst – tatsächlich auf "politischen und unternehmerischen Fehlentwicklungen" beruht? Dies implizierte ja – um zum Eingangsbeispiel zurückzukehren –, dass es im "Normalfalle" gar nicht zur Verbrennung der Hand käme. – Die logischen Brüche in diesem irrwitzigen Kauderwelsch, das ich nur als dümmliche Propaganda werten kann, sind dermaßen offensichtlich, dass es mir ein völliges Rätsel ist, wieso diese ständig wiederkehrenden Litaneien nicht ein großes, schallendes Gelächter im Land verursachen.

Und morgen lesen Sie bei n-tv & Co., wie Sie es spielend leicht fertigbringen, ein wohliges Gefühl zu entwickeln, wenn Sie entspannt in der Badewanne sitzen und den auf Hochtouren laufenden Föhn beherzt ins duftende Wasser werfen.

Wenn der Dachstuhl brennt, nützt weder Beten noch den Fußboden Scheuern. Immerhin ist Beten praktischer.

(Karl Kraus, in "Aphorismen", 1915)

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Ich habe noch fünfzehn Pfennig



(Lithografie von Honoré Daumier [1808-1879], aus der Serie "Emotions parisiennes" aus den Jahren 1839-42, unbekannter Verbleib)

Montag, 27. Februar 2017

Öffentlich-rechtliches Bildungs-TV: "Die Degradierung des Menschen"


Wer hier öfter mitliest, weiß vermutlich bereits, dass ich kein TV schaue und mich entsprechend auch nicht damit auskenne, welche Auswüchse die Boulevardisierung und Trashisierung des Fernsehens inzwischen angenommen hat. Ich bekomme so etwas immer nur fragmentarisch (beispielsweise durch fernsehkritik-tv, wo ich sporadisch mal reinschaue), durch Freunde und Bekannte oder aber durch Medienberichte mit. Durch Zufall bin ich kürzlich auf einen Beitrag bei Zeit Online gestoßen, in dem eine "neue Show" des öffentlich-rechtlichen, also durch Zwangsgebühren finanzierten Senders ZDFneo kritisiert wird, nämlich das Format "Bist Du 50.000,- wert?".

Allein der Titel lässt mich schon an finsterste RTL-Kloaken denken, aber hier handelt es sich eben nicht um werbefinanziertes, "privates" Trash-TV, sondern um "Bildungsfernsehen" aus dem "seriösen" Hause ZDF, das inzwischen nicht mehr davor zurückschreckt, Gerichtsvollzieher zur Zwangsvollstreckung loszuschicken (ohne gerichtlichen Beschluss, versteht sich, denn der "Beitragsservice" kann einfach so rechtskräftige, vollstreckbare "Bescheide" erlassen – Gerichte würden da nur stören).

Jedenfalls las ich dort, während ich mir, wahrscheinlich irre blickend, mit einer Motorsäge entsetzt den Kopf kratzte:

Der Ablauf in Kürze: In einem Studio sitzen fünf sogenannte Juroren, ihnen werden Filmchen von sechs Kandidaten vorgespielt, in denen diese immer mehr von sich preisgeben: Sorgen und Hoffnungen, Schicksalsschläge und die Routinen ihres Alltags. Sie müssen, anders als in den einschlägigen Talentshows, nicht mit einem Liedchen oder Tänzchen reüssieren, sondern "einfach nur sie selbst sein", wie es heißt. Nach jeder Runde wählt die Jury per einfacher Mehrheit einen Kandidaten raus beziehungsweise entscheidet, so der Moderator, "wer nicht 50.000,- wert ist". (...)

Wer es zugelassen hat, dass dieses wahnwitzige Potpourri aus Assessment-Center, Milgram-Experiment und Heidi Klums sadistischen Fantasien an die Öffentlichkeit gerät, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass meine Hoffnung, einer der Kandidaten würde sich die Maske vom Gesicht reißen und sich als Günter Wallraff offenbaren, der die miesen Methoden der Casting-Industrie anprangert, jäh zerbrochen ist. Auch um eine TV-Satire des wiederauferstandenen Wolfgang Menge handelt es sich leider nicht, dazu ist diese Sendung zu schlecht. Sie hat keine zweite Ebene. Sie ist genau das, was sie von ihren Kandidaten verlangt: einfach nur sie selbst. Sie ist ein Arschloch.

Der gesamte Text ist sehr zur Lektüre empfohlen. Wenn die Sendung auch nur ansatzweise so gruselig war, wie sie dort beschrieben ist – ich habe sie, wie gesagt, nicht gesehen und beabsichtige auch nicht, das via Internet nachzuholen –, ist im deutschen TV nun endgültig die Endzeit angebrochen und das Niveau nähert sich dem amerikanischen Original der allgemeinen Verblödung und wüsten Verrohung immer mehr an. Wie kann man auf die völlig absurde Idee kommen, ein solches Konzept zu entwickeln, auszuarbeiten, zu produzieren und auszustrahlen, ohne auf der Stelle aufgrund eines Gehirnschlags zum goldenen Kalb ins Jenseits zu reisen? Wenn jetzt schon zu "Unterhaltungszwecken" die faschistoide Frage gestellt wird, ob irgendwer einen bestimmten Geldbetrag "wert" sei und die Antwort, die in der Mehrheit schlicht "Nein!" lautet, gleich mitgeliefert wird, ist nicht nur eine letzte Grenze überschritten, sondern ein bedeutender Damm gebrochen, den man so ohne weiteres nicht wieder flicken kann. – Der Autor schreibt weiter:

In der Jury sitzen Zeitgenossen, deren kalte Lust, mit der sie die Kandidaten aussortieren, mich an unbehauste Kinder erinnert, die aus purer Langeweile auf dem Spielplatz Schwächere quälen. Ihr Versuch, diese Lust hinter militanter Servicefreundlichkeit zu verstecken ("Daaanke dir!" – "Tuuut mir leid!" – "Alles, alles Guuute!"), macht das Ganze noch unerträglicher. Der Moderator Jochen Schropp befindet sich offenbar in einem Dauerzustand trancehaften Aufsagens von schwachsinnigen Einzeilern, die ihm berufsmüde Redakteure auf die Karteikarten geschrieben haben, und kann deshalb gar nicht überreißen, wofür er sein hübsches Gesicht hergibt. Und der Diplom-Psychologin, die diesem "Show-Experiment" eine Anmutung von Wissenschaftlichkeit verleihen soll, traue ich jederzeit zu, dass sie mit ihrer Zunge ein Insekt fängt.

Es ist ein Bonmot am Rande, dass dieser Beitrag ausgerechnet im Zeit-Ressort "Kultur" erschienen ist. Ist diese Einordnung nun Satire – oder glaubt man in der Redaktion dieser Zeitung tatsächlich, dass das Fernsehen in der kapitalistischen Endzeit in irgendeiner Form etwas mit Kultur zu tun habe – vielleicht analog zu der irrwitzigen Annahme, die hiesige Presse sei eine "vierte Gewalt"? Man weiß so unglaublich wenig.

Ist dem Verfasser während der Arbeit an seinem Text vielleicht auch kurz die Frage durch den Kopf gegangen, ob die ZDF-Einkommensmillionäre Kleber, Gottschalk, Illner & Co. all die zwangseingetriebenen Gebühren auch "wert" sind – oder ist ein solch frevlerischer Gedanke in jenen Kreisen bereits demselben Gossenniveau geschuldet, aus dem dieses unsägliche "Show"-Format stammt?

Ich spreche dankbar siebzehn "Ave Diabolas", dass ich mir diesen grotesken TV-Schrott seit längerer Zeit nicht mehr zumute – auch wenn ich leider nach wie vor dafür zahlen muss.

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Revolverpresse



(Holzschnitt von Karl Rössing [1897-1987], in "Simplicissimus", Heft 20 vom 12.08.1929)