Mittwoch, 21. September 2011

Volker Pispers: "Deutschland geht es gut"

Der neoliberale Irrsinn in Deutschland - gestern und heute

Hinweis: Den nachfolgenden Text habe ich bereits vor fünf Jahren geschrieben. Ich zerre ihn deshalb aus dem Archiv, weil ich jüngst den Tucholsky-Text wiedergelesen habe, aus dem ich dort zitiere - und weil er, wie ich finde, leider aktueller ist denn je.

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In den Redaktionen, an die der unten stehende Text geschickt wurde, ist er bislang ignoriert worden – ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Die Rolle der Medien in diesem groß angelegten, umfassenden Angriff auf soziale und gesellschaftliche Errungenschaften der letzten 100 Jahre könnte perfider kaum sein. Es liegt doch auf der Hand, was passieren wird, wenn Unternehmen und Reiche sich nicht mehr am "Solidarsystem" (das es faktisch fast nicht mehr gibt – der SPD, CDU, FDP und den Grünen sei's gedankt) beteiligen. Der Zusammenbruch der Systeme ist da vorprogrammiert – das erkennt sogar ein Laie. Offenbar ist aber genau das beabsichtigt - wiederum wegen der kurzfristigen Gewinne, die die Versicherungswirtschaft daraus ziehen kann. Mittel- bis langfristig aber wird das auch auf die Wirtschaft katastrophale Auswirkungen haben. Wir sind ja heute schon so weit, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung sich all die tollen Dinge, die da täglich in der Werbung angepriesen werden, überhaupt nicht mehr leisten kann. Welcher Arbeitslose ist wohl mit 345 Euro monatlich in der Lage, sich ein neues Auto, einen dieser tollen neuen Fernseher oder eine "private Rentenversicherung" zu kaufen? Dasselbe gilt für all die Menschen, die mit Hunger- und Niedriglöhnen auskommen müssen – und die längst nicht mehr größtenteils aus "unteren sozialen und/oder bildungsfernen Schichten" stammen.


Kurt Tucholsky schrieb 1931: "Wer soll sich denn das noch kaufen, was sie da herstellen? Ihre Angestellten, denen sie zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel geben, wenn sie sie nicht überhaupt auf die Straße setzen? Die kommen als Abnehmer kaum noch in Frage. Aber jene protzen noch: dass sie deutsche Werke seien, und dass sie deutsche Kaufleute und deutsche Ingenieure beschäftigen – und wozu das? 'Um den Weltmarkt zu erobern!' So schlau wie die deutschen Kaufleute sind ihre Kollegen jenseits der Grenzen noch alle Tage. Es setzt also überall jener blödsinnige Kampf ein, der darin besteht, einen Gegner niederzuknüppeln, der bei vernünftigem Wirtschaftssystem ein Bundesgenosse sein könnte. (...) Der unbeirrbare Stumpfsinn, mit dem diese Kapitalisten ihre törichte Geldpolitik fortsetzen, immer weiter, immer weiter, bis zur Ausblutung ihrer Werke und ihrer Kunden, ist bewundernswert. Alles, was sie seit etwa zwanzig Jahren treiben, ist von zwei fixen und absurden Ideen beherrscht: Druck auf die Arbeiter und Export. / Für diese Sorte sind Arbeiter und Angestellte, die sie heute mit einem euphemistischen und kostenlosen Schmeichelwort gern 'Mitarbeiter' zu titulieren pflegen, die natürlichen Feinde. Auf sie mit Gebrüll! Drücken, drücken: Die Löhne, die Sozialversicherung, das Selbstbewusstsein – drücken, drücken! Und dabei merken diese Dummköpfe nicht, was sie da zerstören. Sie zerstören sich den gesamten inneren Absatzmarkt." (vgl. hier) – Es wird einem angst und bange, wenn man darüber nachdenkt. Die Warnschüsse der Aufstände in den USA und Frankreich reichen offenbar nicht aus, um diesen Irrweg zu verlassen.

Und die meisten Medien spielen dieses große Theaterstück geflissentlich mit – auch sie sind ja größtenteils in der Hand der "großen Wirtschaft". So kommt es, dass sogar Medienwissenschaftler nun zu dem Schluss gelangen: "Die Wahrnehmung der Bürger ist im realen, sozialen Leben eine völlig andere als die, welche sie von den etablierten Medien präsentiert bekommen. Dies führt dann zu einer wachsenden Entfremdung und Distanz und letztlich zu einer Politik- und Demokratieverdrossenheit – wobei sich die Verdrossenheit auf die Art bezieht, mit der die Demokratie real praktiziert wird, und nicht auf die Demokratie als Staatsform an sich. (...) (Das) wird ähnliche Auswirkungen wie im Ostblock vor 1989 haben. Dort gab es die zensierten Medien der Partei, die alles schöngezeichnet haben. Und dann gab es das, was in den Medien nicht vorkam, was die Bürger aber am eigenen Leibe erlebt haben. Bitterfeld in der ehemaligen DDR beispielsweise. Darüber hatte Monika Maron ihren Roman „Flugasche“ verfasst und daraufhin erhebliche Schwierigkeiten mit der Staatsmacht bekommen, denn offiziell gab es ja kein Umweltschutzproblem in der DDR. / Und das gleiche werden wir jetzt auch erleben: Seit Jahren werden die Reformen gepredigt, werden die „Agenda 2010“ und „Hartz IV“ als Lösungen verkauft. Gleichzeitig verlieren zunehmend Menschen aus der Mittelschicht ihre Beschäftigung und müssen ihre Wohnungen verlassen, die ihnen dann (nach den Maßstäben von Hartz IV) nicht mehr zugestanden werden. Das führt zu einem stärker werdenden Misstrauen gegenüber der Oligarchie aus Staat, Wirtschaft, Verbänden und etablierten Medien. Daraus kann sich ein Protestwählertum ergeben ..." (Prof. Dr. Christoph Werth; vgl. hier) ... oder auch etwas noch viel schlimmeres.

Wer heutzutage noch einen halbwegs sicheren Job hat, der noch dazu einigermaßen angemessen bezahlt wird, kann heilfroh sein. Selbstverständlich ist all das in diesem Land längst nicht mehr. Und die große Koalition wütet und zerstört munter weiter – ohne Rücksicht und vor allem ohne Weitsicht für die Konsequenzen dieser umfassenden Zerstörung, die sie "alternativlose Reformen" nennt. Es ist schier unbegreiflich, wieso die Bevölkerung diesem perversen Treiben einfach tatenlos zusieht. Früher oder später wird es jeden treffen (mit Ausnahme derer, die wirklich viel Geld besitzen – wobei auch das angesichts eines jederzeit möglichen Börsenzusammenbruchs unsicher ist). Die alleinigen Gewinner solcher Strategien sind multinationale Konzerne, die eine Region, die sie abgegrast haben, einfach verlassen und sich eine neue "Melkkuh" suchen können, wie sie das jetzt beispielsweise mit China und Indien tun. Auch dort profitiert nicht etwa der Großteil der Bevölkerung in Form von mehr Wohlstand, sozialer Sicherheit etc. vom "großen Aufschwung" – ganz im Gegenteil. Es sind auch dort nur einzelne Personen und Unternehmen, die sehr reich werden – die überwältigende Mehrheit der Menschen versinkt in verstärkter Armut, totaler Abhängigkeit und sozialem Elend.

Wo also bleibt der Aufschrei der Menschen, auch hierzulande? Sind wir denn wirklich schon so indoktriniert und geistig vernebelt, dass uns der klare Blick auf die wirklichen Fakten (nicht auf die Medien!) und das eigene Denken nicht mehr möglich sind? Wie kommt es, dass nicht beispielsweise jeder durch Nachdenken erkennt: Aha – jeder soll also für seine Rente "privat vorsorgen" – was ja nichts anderes heißt, als dass die Rentenbeiträge der Bürger weiter massiv steigen, die Anteile der Arbeitgeber aber nicht ... und gleichzeitig sollen Versicherungsunternehmen auch noch Gewinne machen, sich also einen weiteren Teil vom Kuchen abschneiden. All diese "Privatisierungen" – egal, ob sie nun die Rente, die Gesundheit, den öffentlichen Wohnungsbestand, staatliche Institutionen oder was auch immer betreffen – zielen allesamt in dieselbe Richtung: Der Bürger soll – sofern er es kann, ansonsten bleibt er eben außen vor – mehr bezahlen, der Staat und die Wirtschaft weniger – und gleichzeitig sollen auch noch Gewinne für die Wirtschaft anfallen, denn sonst würde sich ja kein Unternehmen dort engagieren. Und das alles angesichts stagnierender bzw. real sinkender Löhne, einem sich (gewollt) massiv ausbreitenden Niedriglohnsektor und Massenarbeitslosigkeit – inmitten einer Phase, in der die Wirtschaft die größten Gewinne seit Bestehen der BRD einfährt.

Und Kurt Beck stellt sich nun hin und fordert "mehr Anstand" von den Arbeitslosen – man müsse nicht "alles mitnehmen, was gesetzlich geht". Kann es wirklich noch grotesker zugehen? Eigentlich kann man darauf nur noch mit schwarzem Humor reagieren – wie es beispielsweise hier geschehen ist: "Als nächstes werden wir davon hören, dass er selbst (Kurt Beck) zum Beispiel seinen Steuerberater nicht mehr benötigt, um Steuern zu sparen, sondern aus lauter Anstand eben so viel wie möglich zahlt und auch auf Rückzahlungen verzichtet. Denn man muss ja nicht alles mitnehmen, was die Gesetze ermöglichen." (Vgl. hier)

Man könnte noch stundenlang weiter schreiben, Beispiele aufzählen und deutlich machen, wie absurd, kurzsichtig und vor allem gefährlich dieser neoliberale Irrweg ist, der indes unverdrossen und stoisch immer weiter verfolgt wird. Offenbar stimmt der furchterregende Satz Erich Kästners tatsächlich, der in den 30er Jahren gesagt hat, dass in Deutschland ein Weg offenbar erst bis zum bitteren Ende gegangen werden müsse, bevor zumindest ein Teil der Verantwortlichen erkennt, dass es sich um eine Sackgasse handelt – der Rest "knallt stur mit dem Kopf vor die Wand, bis er blutig ist und zum Denken gewiss nicht mehr taugt". – Heute gibt's nur den kleinen, aber feinen Unterschied, dass "die Verantwortlichen" sich nach dem Ende der "Amtszeit" auf ein wohliges finanzielles Polster fallen lassen können und sich nicht mehr darum scheren müssen, was sie angerichtet haben – und gleichzeitig oftmals von der Wirtschaft, die sie zuvor so schamlos begünstigt haben, mit netten, fürstlich bezahlten Pöstchen belohnt werden. Schröder und Clement sind ja nur die Spitze des Eisberges.

Und das Volk glotzt weiter wie eine dumme Kuh in den Flimmerkasten und bemerkt nichts davon – weder die Lügen, noch die stetig gieriger werdende Melkmaschine, noch den am Horizont düster rauchenden Schlachthof, der Tag für Tag immer näher kommt.

(alter Link)

Hunger in Afrika, unsere Katastrophe

  1. Die Hungerbilder, die wir bislang sahen und in den nächsten Wochen weiter zu sehen bekommen werden, zeigen das wahre Ausmaß der Katastrophe. Nämlich der unsrigen. Sie zeigen die Prioritätenliste der europäischen Staaten. Denn während Regierungschefs angesichts der Euro-Krise alles stehen und liegen lassen und für Milliardenkredite und Rettungen sogar nachts zueinander finden, während trotz Ferienzeit Telefonkonferenzen organisiert werden, um gemeinsam um Lösungen zu ringen, sterben vor ihren und unseren Augen Millionen Arme an Hunger. Wir reden hier nicht über Tausende, Hunderttausende, sondern über zehn Millionen Menschen, die hungern, und 2,5 Millionen Menschen, die in akuter Lebensgefahr sind.

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  2. Die Krise in und um Somalia wird eindimensional als "Hungersnot am Horn von Afrika" oder "schlimmste Dürre seit 60 Jahren" beschrieben. Wer nur natürliche Ursachen für diese Krise verantwortlich macht, ignoriert die komplexen geopolitischen Hintergründe, die die Lage so katastrophal machen. Das Verdrängen der von Menschenhand geschaffenen Ursachen für Hunger und Verhungern ist nicht hilfreich für die Krisenbewältigung.

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Anmerkung: Gerade der erste Artikel aus den Blättern ist sehr zu empfehlen. Es ist mir unbegreiflich, wie untätig Merkel und Niebel angesichts dieser Katastrophe bleiben, an der auch die deutsche Politik und Finanzwirtschaft ihre nicht unerheblichen ursächlichen Anteile haben. Niebel verstieg sich laut Artikel ja sogar zu einem zynischen Ausspruch, den man ihm am liebsten links und rechts um die Ohren hauen möchte! Im Artikel heißt es dazu wörtlich:

"Und wie sind die Aussagen des Entwicklungsministers Dirk Niebel zu bewerten, wenn er meint, die Afrikanische Union und die muslimischen Länder sollten sich stärker für ihre 'Glaubensbrüder und -schwestern' einsetzen? Hier drängt sich der Eindruck auf, dass die Welt immer dann in Religionsgemeinschaften aufgeteilt wird, wenn es um Hilfe und Humanität geht, also da, wo das Geben im Vordergrund steht – aber da, wo es ums Nehmen geht, weder Herkunft noch Glaube oder Hautfarbe im Wege stehen."


Mir fällt zu so viel Ignoranz und kalt-zynischer Menschenverachtung nichts Höfliches mehr ein. Man sollte Herrn Niebel und den ganzen Rest der Schlips-Borg, die durch Spekulationen die Preise für Grundnahrungsmittel in die Höhe treiben bzw. diese Spekulationen politisch zugelassen haben und weiterhin zulassen, auf Wanderschaft in Somalia schicken. Ohne Proviant, ohne Wasser, und ohne die Möglichkeit, von ihren neoliberalen Kumpanen gerettet zu werden. Erst dann verstünde diese Bande den Sinn und die absolute Dringlichkeit von Hilfslieferungen - und natürlich die ebenso absolute Dringlichkeit, den Finanzmarkt streng zu regulieren und vor allem solche Wetten auf Nahrungsmittelpreise unverzüglich zu verbieten.