Samstag, 16. August 2014

Song des Tages: Frieden, oder: Das Ende der Barbarei




(Reinhard Mey: "Frieden", aus dem Album "Immer weiter", 1994)

Dein Bild in den Spätnachrichten,
Wimmernder, sterbender Soldat.
Eine Zahl in den Kriegsberichten,
Ein Rädchen im Kriegsapparat,
Für einen Schachzug zerschossen
Und für ein Planquadrat im Sand,
Für einen Wahn hast du dein Blut vergossen
Und immer für irgendein gottverdammtes Vaterland!

Wann ist Frieden, endlich Frieden?
Wann ist Frieden, endlich Frieden und all das Elend vorbei?
Wann ist Frieden, endlich Frieden?
Wann ist Frieden, endlich Frieden - und das Ende der Barbarei!

Vielleicht sechs oder sieben Jahre,
Von Granatsplittern verletzt:
Im Flur ein Kind auf einer Bahre,
Ein leises Weinen nur zuletzt.
So sieht es aus, das Bild des Sieges,
Und alle wissen es nur zu gut!
Und den Preis zahl'n die Kinder des Krieges
Von Belfast bis Soweto, von Sarajevo bis Beirut.

Wann ist Frieden, endlich Frieden?
Wann ist Frieden, endlich Frieden und all das Elend vorbei?
Wann ist Frieden, endlich Frieden?
Wann ist Frieden, endlich Frieden - und das Ende der Barbarei!

Ruhmsüchtiger Kriegsminister,
Ehrgeiz'ger, greiser General
Und all eure Mordgeschwister,
Ihr Handlanger im Arsenal:
Habt ihr niemals diese Visionen?
Und ihr da im Rüstungskonzern:
Sie sterben durch eure Kanonen,
Und es klebt Blut an euren saubren Händen,
Ihr sogenannten ehrenwerten Herrn!

Wann ist Frieden, endlich Frieden?
Wann ist Frieden, endlich Frieden und all das Elend vorbei?
Wann ist Frieden, endlich Frieden?
Wann ist Frieden, endlich Frieden - und das Ende der Barbarei!

Wenn die Kriegsherrn in Nadelstreifen,
Die wahren Schuldigen, geächtet sind,
Wenn Soldaten endlich begreifen,
Dass sie potenzielle Tote sind,
Wenn von Politikerversprechen
Sich nur dieses eine erfüllt von all'n,
Wird eine bessere Zeit anbrechen, denn:
"Wer noch einmal eine Waffe in die Hand nimmt,
dem soll die Hand abfall'n!"
*

Wann ist Frieden, endlich Frieden?
Wann ist Frieden, endlich Frieden und all das Elend vorbei?
Wann ist Frieden, endlich Frieden?
Wann ist Frieden, endlich Frieden - und das Ende der Barbarei!

---
*: Zitat ausgerechnet von Franz Josef Strauß (CSU), aus dem Wahlkampf zum 1. Bundestag 1949 - übrigens demselben Wahlkampf, in dem die CDU beispielsweise solche Wahlplakate benutzte, während zwei Jahre zuvor das Parteiprogramm noch solche Passagen enthielt.

Freitag, 15. August 2014

Wenn Entenhausen gewalttätig wird, Teil 2: Kiezneurotische Entgleisungen


Ich habe mich vor einigen Wochen schon einmal darüber ausgelassen, was ich davon halte, wenn Menschen sich - aus welchen Gründen auch immer - für Gewalt und Krieg aussprechen (zum ersten Teil geht es hier) - und jetzt hat ausgerechnet der Kiezneurotiker, dessen Beiträge ich ansonsten oft recht amüsant finde und gelegentlich auch sehr schätze, nachgelegt:

Was schreibt man [zu dem Thema brutale Gewalt von Seiten des IS im Irak und Syrien] als Blogger? Nicht viel offenbar. Es herrscht weitgehende Sprachlosigkeit angesichts der unverbrämten Gewalt, die nichts anderes als Gewalt sein will und das auch ganz offen sagt. Was schreibt man da, wenn man wie jeder vernünftige Mensch den Kriegsdienst verweigert hat? Wie wär's mit dem da: Hier hilft kein Appeasement, hier marschiert die Gewalt und sie hackt Köpfe ab. Man muss sie bekämpfen. Mit Gewalt.

Mir stockte schon mehrmals zuvor beim Lesen des Textes der Atem, aber hier habe ich nur noch rot gesehen und mich gefragt, ob dieser Mensch, der zuweilen echte Perlen ins Netz stellt, nun doch zuviele Drogen eingeworfen hat und den Rest seines Verstandes irgendwo im Propagandanebel zwischen NSA, CIA und Al Quaida verloren hat. Auf die grandiose Idee, Gewalt mit Gewalt bekämpfen zu wollen, kommt jeder Jungliberale, CDU-Hansel oder Stammtischclaqueur auf diesem Planeten innerhalb von Nanosekunden - wie eben alle Hirnverbrannten überall auf der Welt seit Jahrtausenden, immer und immer wieder - und die wahnsinnig beeindruckenden Ergebnisse dieses veritablen Denkprozesses auf BLÖD-Niveau durchleidet die Menschheit ebenfalls seit Jahrtausenden, immer und immer wieder. Es ist nicht einmal annähernd abzuschätzen, wieviel Leid und Elend diese prä-steinzeitliche Strategie angerichtet und wieviele unzählige Menschenleben sie gekostet hat - und weiterhin kosten wird, wenn sie weiterhin fortgesetzt wird.

Das mal vorab. Die Argumentationslinie, die der Kiezneurotiker bemüht, um zu diesem wahnsinnig innovativen Schluss zu kommen, ist indes so dermaßen naiv, propagandistisch und absurd, dass es mir zunächst die Sprache verschlagen hat und ich gar nichts dazu schreiben wollte bzw. konnte. Da bemüht er doch ernsthaft barbarische Videos von barbarischen Taten, und schon - Potzblitz! - ist da ein Rechtfertigungsgrund, der - noch dazu alternativlos!! - nach ebensolcher Gewalt gegen die fiesen Mörder und Schlächter und alle ihre Unterstützer schreit, die dann allerdings "berechtigt" sei. Ich halte den Kiezneurotiker nicht für naiv, weshalb ich seit Stunden völlig ahnungslos herumrätsele, wie er denn wohl zu dieser, um es nett zu formulieren, schlichten, extrem fatalen und noch dazu äußerst grotesken "Logikkette" gelangt ist.

Mehrere Dinge sollten auch dem Kiezneurotiker bekannt sein - dazu gehören unter anderem:

1. Kriege produzieren immer Mörder und machen angesichts der erlebten, für unsereins "Wohlbehütete" auch nach schlimmsten Videobildern unvorstellbarer (!) Gräuel aus manchen einstmals vielleicht ganz "normalen", möglicherweise sogar netten Menschen brutale Monster, die auch vor den abwegigsten Grausamkeiten nicht mehr zurückschrecken - sogar dann, wenn sie zuhause weiterhin den braven, liebevollen Papa oder Ehemann spielen. Auf Frauen trifft das im Übrigen auch zu. Beispiele dazu aus der Vergangenheit und auch jüngeren Gegenwart gibt es ja nun zuhauf.

2. Ekelerregende, brutale Morde und Misshandlungen von Menschen gibt und gab es - auf allen beteiligten Seiten - in jedem Krieg. Es dürfte (müsste!) auch dem Kiezneurotiker nicht entgangen sein, dass es bei Liveleak und anderswo im Netz ebensolche, fast identische Videos von Enthauptungen, Verstümmelungen und Ermordungen von Menschen aus allen (!!) momentanen und teilweise auch vergangenen Kriegen (beispielsweise aus Nigeria) gibt. Das ist die Realität des Krieges - da werden stets grausamste Dinge getan, das war bisher immer so und wird wahrscheinlich auch immer so bleiben, bis diese krankhafte Spezies ausstirbt oder sich wider Erwarten doch noch ihres Intellektes besinnt.

3. In einem Krieg gibt es keine Unterscheidung zwischen "Guten" und "Bösen" - wer zur Waffe greift und andere Menschen verletzt oder tötet, ist per definitionem ein Verbrecher. Gerade in Kriegen gilt das ganz besonders, denn da ist es (selbst wenn man es ernsthaft wollte) größtenteils völlig unmöglich, "zivile Opfer" - also die Verletzung oder den Tod völlig Unbeteiligter - auszuschließen.

4. Gewalttätige Übergriffe der jeweiligen regionalen und temporären "Sieger" auf die gegnerischen Soldaten und die unbeteiligte Zivilbevölkerung der jeweiligen Region gehören ebenfalls zum ständigen, immer wiederkehrenden grausamen Repertoire aller Kriege. Neu ist daran allenfalls, dass diese Morde und Folterungen seit einigen Jahren gefilmt und ins Internet gestellt werden. Auch deshalb ist es unverständlich, wie ein denkender Mensch überhaupt auf den Gedanken kommen kann, ein Krieg bzw. ein "militärisches Eingreifen" könne irgendetwas auch nur ganz entfernt Sinnvolles darstellen.

5. Es scheint dem Kiezneurotiker zu genügen, einige - wahrlich schlimme, bösartige - Videos angesehen zu haben um zu dem Schluss zu gelangen, dass offenbar alle tausend, zehntausend, hunderttausend (?) im Irak kämpfende IS-Soldaten sowie alle ihre Anhänger oder Unterstützer brutale Bestien wie diese 5, 10 oder 20 dort zu Sehenden sind. Das halte ich nicht nur angesichts der bestehenden Informationsnotlage zu diesem Thema für hanebüchen und so dermaßen blöd, dass mir die Worte dazu fehlen.

Damit bin ich bei meinem Hauptkritikpunkt diesen Text betreffend angekommen, und der hat mit der Schuldfrage zu tun: Der Kiezneurotiker macht sich gar nicht die Mühe, diese Frage überhaupt zu stellen - für ihn scheint vollkommen klar zu sein: Hier mordet eine brutale Bande, die ständig "Allah!" schreit, während sie ihre wehrlosen Opfer massakriert, und deshalb muss man die Bande ermorden, damit das aufhört. Das ist für eine Kindergartenauseinandersetzung auf Sandkastenniveau vielleicht gerade noch erträglich (obwohl es auch dort schon sowas von falsch ist), hier aber gerät es zur bösen und allzu bitteren Farce. - Nein!!! Hier ist wieder einmal nicht Gewalt eine sinnvolle Antwort (das ist sie nie!), sondern die Auseinandersetzung mit der Frage, wie es denn überhaupt dazu kommen konnte, dass hier wieder einmal eine Religion instrumentalisiert werden kann, um einen perversen Krieg gegen ebenfalls instrumentalisierte Scheingegner, die eigentlich im selben Boot sitzen, zu führen - während die wirklich Schuldigen für die ganze Misere doch gar nicht vor Ort sind, sich klammheimlich ins superreiche Fäustchen lachen und allenfalls noch ein paar "Helfertruppen" in das Gebiet entsenden, das dieselben Truppen zuvor ebenfalls kriegerisch heimgesucht und zerstört haben. Es ist immer und immer wieder dasselbe stupide und trotzdem wie von Geisterhand immer wieder neu funktionierende Spiel, das wir schon seit so vielen, vielen Jahrhunderten kennen.

Ebenfalls ist es ja nun seit Längerem kein Geheimnis mehr, dass der religiöse Fanatismus den Islam betreffend ganz gezielt aufgebaut und gefördert worden ist - und wenn jetzt Zeter und Mordio geschrien wird, wenn die erwartbaren faulen Früchte auf den immer noch bettelarmen Boden im Nahen Osten fallen, ist das - gelinde gesagt - heuchlerisch.

Die brutalen Mörder und Schlächter im Irak - und das gilt gleichermaßen für alle Seiten und für alle Kriege weltweit - muss man nicht "wegmachen" (um die entgleiste, aus dem neokonservativen Baukasten entlehnte Sprache des Kiezneurotikers zu bemühen), die muss man vielmehr verfolgen, inhaftieren (und dabei selbstverständlich human behandeln - es ist schon bezeichnend, dass ich mich dazu veranlasst sehe, das extra zu schreiben) und vor ein unabhängiges Gericht stellen - ganz genauso, wie man das eben in einem Rechtsstaat oder dem merkwürdigen Gebilde, das sich dafür hält, so mit Mördern macht.

Kiezneurotiker, ich bin wahrlich entsetzt - einen so platten und propagandistisch-dümmlichen Text hätte ich Dir ehrlich nicht zugetraut!

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Der Überlebende



(George Grosz [1893-1959], Öl auf Leinwand, 1944)

Mittwoch, 13. August 2014

Song des Tages: Martha's Harbour




(All About Eve: "Martha's Harbour", aus dem Album "All About Eve", 1988)

I sit by the harbour
The sea calls to me
I hide in the water
But l need to breathe

You are an ocean wave, my love
Crashing at the bow
I am a galley slave, my love
If only I could find out the way to sail you
Maybe I'll just stow away

I've been run aground
So sad for a sailor
I felt safe and sound
But needed the danger

You are an ocean wave, my love
Crashing at the bow
I am a galley slave, my love
If only I could find out the way to sail you
Maybe I'll just stow away

Stow away.


Dienstag, 12. August 2014

Realitätsflucht (4): Skyrim


Was soll ich zu einem Spiel, das völlig zu recht die unangefochtene Nummer Eins auf dem Gebiet der Rollenspiele ist, großartig schreiben? Ich erinnere mich noch sehr gut an meine erste Begegnung mit der Welt von Skyrim: Ich hatte damals gerade den Vorgänger The Elder Scrolls IV: Oblivion gespielt und war infiziert von diesem großartigen Spiel und begierig auf die Fortsetzung - zum Glück war das schon 2013, so dass ich nicht mehr lange warten musste, bis ich mir den bereits erschienenen Nachfolger The Elder Scrolls V: Skyrim leisten konnte, da er zu diesem Zeitpunkt "nur" noch 20 Euro kostete.

Das war der Beginn einer sehr intensiven Freundschaft: Ich habe seit dem Tag der Installation so viele Stunden in "Himmelsrand" verbracht wie in keinem anderen Spiel, Buch oder Musikstück zuvor. Einerseits liegt das schlicht daran, dass dieses Spiel so ungeheuer umfangreich ist wie kein anderes mir bekannte Spiel, andererseits habe ich gerade vor ein paar Tagen erst damit begonnen, es zum zweiten Male zu spielen. So etwas tue ich in einem so überschaubaren Zeitrahmen normalerweise nicht - es hat mich selber sehr überrascht, dass ich einen Neustart von Skyrim einem komplett neuen, mir bislang unbekannten Spiel (von denen ich noch einige hier herumliegen habe) vorgezogen habe.

Es ist über dieses Spiel schon so viel gesagt und geschrieben worden, dass ich mich gar nicht in Details zu ergehen brauche - die Grafik ist Weltklasse, die Spielwelt einzigartig und die verschiedenen Geschichten, die es in "Himmelsrand" zu erleben gibt, sind fantasievoll, spannend und manchmal sogar regelrecht grandios. Man merkt an unzähligen Details, dass hier nicht einfach drauf los programmiert wurde, sondern dass mit Bedacht ein Konzept umgesetzt worden ist, das es zuvor in diesem Genre nicht gab.

Das Spielerlebnis ist abhängig von der Art und Weise des Spielens: Beim ersten Durchgang habe ich beispielsweise die brachiale Methode bevorzugt und meine Spielfigur auf Zweihandwaffen spezialisiert (siehe Screenshot unten) - so konnte ich in den Auseinandersetzungen mit den fiesen Monstern und anderen Gegnern stets beherzt die dicke Kriegsaxt zücken, mitten hinein in die Horden der Gegner springen und wild wie ein Metzger oder blutrünstiger Wikinger um mich schlagen. Das hat Spaß gemacht. ;-) - Jetzt, im zweiten Durchgang, habe ich einen anderen Weg gewählt: Es ist noch viel spannender, sich auf lautlosen Sohlen durch die Ruinen, Höhlen und alten Gräber zu schleichen und aus dem Hinterhalt - unentdeckt - einen Gegner nach dem anderen hinweg zu metzeln, ohne dass diese überhaupt bemerken, wer ihnen da ans Leder will. Ich habe diese Möglichkeit ja schon in Gothic III und Risen geliebt - aber nirgends zuvor habe ich es so konsequent und spaßbringend umsetzen können wie in Skyrim. Gerade gestern habe ich auf diese Weise erst wieder eine komplette alte Burgruine von fiesen Magiern (Esoterikern - *brüllwitz*) befreit, gegen die ich ansonsten (wenn sie mich denn entdeckt hätten) kaum eine Chance gehabt hätte.

Natürlich fällt mir beim Nachdenken über dieses Spiel auch eine Menge Kritik ein - allerdings ist das größtenteils eine Kritik auf allerhöchstem Niveau. Auch an Meisterwerken gibt es - insbesondere bezogen auf verschiedenste Menschen, die es genießen - stets etwas auszusetzen, und das ist auch bei mir nicht anders. Ich habe mir beispielsweise mehr als einmal gewünscht, dass Gegner in dunklen Höhlen oder Ruinen viel öfter dort lauern, wo man sie als Spieler am wenigsten erwartet - das ist leider nur sehr selten der Fall. Auch die Schwierigkeit der Rätsel, die in diesem Spiel ohnehin selten, dann aber allenfalls auf Primatenniveau angesiedelt sind, könnte den Spielspaß durch eine deutliche Verschärfung stark erhöhen.

Trotzdem bleibt Skyrim der momentane Maßstab für alle kommenden Rollenspiele dieser Art - und es ist den Entwicklern hoch anzurechnen, dass sie ihn so hoch angesetzt haben.


(Charlie blickt sinnierend über einen kleinen Teil Himmelsrands)

Montag, 11. August 2014

Zitat des Tages: Der Traum vom Großen Roten Fleck


Langsam kam ich zur Ruhe, knabberte ein Konzentrat, legte mich nieder und wünschte mir mein Lieblingsenvironment. Jupiter stand als riesiger leuchtender Ball vor mir, der Große Rote Fleck strahlte, umsäumt von den grünlichen Streifen der gemäßigten und südlichen äquatorialen Strömung. Unter mir lag die felsige Ebene Ganymeds.

Ganymed!! Nie würde ich ihn in Wirklichkeit erreichen, wenn nicht ... Sogar das hatten sie ausgekundschaftet. Ganymed. Immer nur von der Ferne träumen? Wie genau mussten sie meine Reaktionen kennen - hatte ich sie wirklich durchschaut? Oder sollte ich sie durchschauen, damit ich mich frei entscheiden konnte? Ein Haufen von Verrückten! Ich zitterte, wenn ich nur daran dachte, welche Überraschungen mich erwarten würden. Der Ausbruch aus dem System - das ließe sich ja noch bewerkstelligen, ein Weltraumflug, aber dann: Ständig dieselben Gesichter erblicken, täglich, stündlich, gemeinsam essen und reden, reden, reden ... Die Ausdünstungen der Menschen ... nie mehr die Ruhe, die logische Kühle des Systems. Der Sprung wäre zu groß. Ich würde es nie aushalten können. Und doch, Jupiter und Ganymed und ... - Was soll's! Träume taugen nicht für die Realität.

Vielleicht, vielleicht hatte auch das System dieses ganze Abenteuer für mich arrangiert, schließlich hatte ich nach Veränderungen geschrien ...

Das Mittel begann zu wirken, ich schlief ein, umfangen vom sanften, unterschwelligen, allgegenwärtigen Brummen des Systems.

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(Karlheinz Steinmüller [* 1950], in: "Der Traum vom Großen Roten Fleck. Science-Fiction-Geschichten", Suhrkamp 1985 (gemeinsam mit Angela Steinmüller); zuerst [im Westen] in: Horst Heidtmann (Hg.): "Von einem anderen Stern. Science-Fiction-Geschichten aus der DDR", dtv 1981)



Anmerkung: So endet Steinmüllers im wahrsten Sinne des Wortes fantastische Erzählung "Der Traum vom Großen Roten Fleck", die ich nur wärmstens jedem ans Herz legen kann, und das selbst dann, wenn Science Fiction, Jupiter, der Jupiter-Mond Ganymed oder der "Große Rote Fleck" in Jupiters Atmosphäre nichts weiter als möglicherweise vollkommen uninteressante böhmische Dörfer für den Lesenden sein sollten. Denn es geht hier nicht um Jupiter oder Ganymed, sondern es geht in dieser Geschichte - wie immer in ernsthafter Science Fiction - um unsere heutige Welt, um "das System" und die Menschen darin:

"Science Fiction [in ihrer nicht rein auf kommerzielle Interessen ausgerichteten Form, Anm.d.Kap.] entwirft keineswegs Zukunft, sondern Alternative; sie springt in die andere Wirklichkeit und meint nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart." (Dieter Wuckel: "Science Fiction. Eine illustrierte Literaturgeschichte", 1986)

Ich halte diesen Text - aus literarischer und politischer Sicht - für mindestens so bedeutend wie so manche Parabel Kafkas. Diese Einschätzung wurde zumindest in der Vergangenheit von gewissen Kreisen noch geteilt, denn 1989 wurde diese Erzählung in den ausgewählten Kreis der "Arbeitstexte für den Unterricht" des Reclam-Verlages aufgenommen. Heute könnte sich das angesichts der massiv um sich greifenden Propaganda des neoliberalen Wahnsinns, die natürlich auch einstmals halbwegs "renommierte" Verlage längst erfasst und infiltriert hat, schon wieder geändert haben, denn laut "reclam.de" ist der Band 15015 ("Arbeitstexte für den Unterricht: Science Fiction") nicht mehr erhältlich. - Wer allerdings meint, in dem im Text erwähnten "System" schlicht die politischen Strukturen der ehemaligen DDR zu erkennen, versteht weder diesen Text, noch wird sich einem solchen Lesenden jemals Orwells Schreckensszenario "1984" oder vergleichbare Dystopien erschließen.

Und derweil träume auch ich weiter (natürlich vollkommen vergeblich aufgrund jeglicher fehlender realistischer Alternative jenseits der Fantasie) davon, dass endlich die Enterprise im Orbit dieses verkommenen Planeten kurz haltmacht und ich gefragt werde, ob ich endlich einsteigen und auf Nimmerwiedersehen aus diesem Irrsinn verschwinden möchte ... und gleichzeitig weiß bzw. ahne ich, dass diese Alternativlosigkeit und damit auch diese billigen Träume systemgewollt und damit nicht zufällig (und erst recht nicht meine eigenen) sind. Steinmüller ist mit dieser Erzählung schon vor über 30 Jahren ein bitterböser Geniestreich gelungen, der immer noch (und zunehmend) extrem weh tut - und vielleicht auch deshalb in seiner verpönten SF-Nische weitestgehend unbeachtet vor sich hin modert.

Und so soll der erste Satz dieser Erzählung auch der Schluss dieses Beitrages sein, denn dem ist (abgesehen von Steinmüllers Erzählung) nichts weiter hinzuzufügen:

"Ich lief aus Leibeskräften, ich schwitzte am ganzen Körper, ich rannte und rannte, und doch kam mir Jupiter kein Stück näher."