Montag, 11. August 2014

Zitat des Tages: Der Traum vom Großen Roten Fleck


Langsam kam ich zur Ruhe, knabberte ein Konzentrat, legte mich nieder und wünschte mir mein Lieblingsenvironment. Jupiter stand als riesiger leuchtender Ball vor mir, der Große Rote Fleck strahlte, umsäumt von den grünlichen Streifen der gemäßigten und südlichen äquatorialen Strömung. Unter mir lag die felsige Ebene Ganymeds.

Ganymed!! Nie würde ich ihn in Wirklichkeit erreichen, wenn nicht ... Sogar das hatten sie ausgekundschaftet. Ganymed. Immer nur von der Ferne träumen? Wie genau mussten sie meine Reaktionen kennen - hatte ich sie wirklich durchschaut? Oder sollte ich sie durchschauen, damit ich mich frei entscheiden konnte? Ein Haufen von Verrückten! Ich zitterte, wenn ich nur daran dachte, welche Überraschungen mich erwarten würden. Der Ausbruch aus dem System - das ließe sich ja noch bewerkstelligen, ein Weltraumflug, aber dann: Ständig dieselben Gesichter erblicken, täglich, stündlich, gemeinsam essen und reden, reden, reden ... Die Ausdünstungen der Menschen ... nie mehr die Ruhe, die logische Kühle des Systems. Der Sprung wäre zu groß. Ich würde es nie aushalten können. Und doch, Jupiter und Ganymed und ... - Was soll's! Träume taugen nicht für die Realität.

Vielleicht, vielleicht hatte auch das System dieses ganze Abenteuer für mich arrangiert, schließlich hatte ich nach Veränderungen geschrien ...

Das Mittel begann zu wirken, ich schlief ein, umfangen vom sanften, unterschwelligen, allgegenwärtigen Brummen des Systems.

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(Karlheinz Steinmüller [* 1950], in: "Der Traum vom Großen Roten Fleck. Science-Fiction-Geschichten", Suhrkamp 1985 (gemeinsam mit Angela Steinmüller); zuerst [im Westen] in: Horst Heidtmann (Hg.): "Von einem anderen Stern. Science-Fiction-Geschichten aus der DDR", dtv 1981)



Anmerkung: So endet Steinmüllers im wahrsten Sinne des Wortes fantastische Erzählung "Der Traum vom Großen Roten Fleck", die ich nur wärmstens jedem ans Herz legen kann, und das selbst dann, wenn Science Fiction, Jupiter, der Jupiter-Mond Ganymed oder der "Große Rote Fleck" in Jupiters Atmosphäre nichts weiter als möglicherweise vollkommen uninteressante böhmische Dörfer für den Lesenden sein sollten. Denn es geht hier nicht um Jupiter oder Ganymed, sondern es geht in dieser Geschichte - wie immer in ernsthafter Science Fiction - um unsere heutige Welt, um "das System" und die Menschen darin:

"Science Fiction [in ihrer nicht rein auf kommerzielle Interessen ausgerichteten Form, Anm.d.Kap.] entwirft keineswegs Zukunft, sondern Alternative; sie springt in die andere Wirklichkeit und meint nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart." (Dieter Wuckel: "Science Fiction. Eine illustrierte Literaturgeschichte", 1986)

Ich halte diesen Text - aus literarischer und politischer Sicht - für mindestens so bedeutend wie so manche Parabel Kafkas. Diese Einschätzung wurde zumindest in der Vergangenheit von gewissen Kreisen noch geteilt, denn 1989 wurde diese Erzählung in den ausgewählten Kreis der "Arbeitstexte für den Unterricht" des Reclam-Verlages aufgenommen. Heute könnte sich das angesichts der massiv um sich greifenden Propaganda des neoliberalen Wahnsinns, die natürlich auch einstmals halbwegs "renommierte" Verlage längst erfasst und infiltriert hat, schon wieder geändert haben, denn laut "reclam.de" ist der Band 15015 ("Arbeitstexte für den Unterricht: Science Fiction") nicht mehr erhältlich. - Wer allerdings meint, in dem im Text erwähnten "System" schlicht die politischen Strukturen der ehemaligen DDR zu erkennen, versteht weder diesen Text, noch wird sich einem solchen Lesenden jemals Orwells Schreckensszenario "1984" oder vergleichbare Dystopien erschließen.

Und derweil träume auch ich weiter (natürlich vollkommen vergeblich aufgrund jeglicher fehlender realistischer Alternative jenseits der Fantasie) davon, dass endlich die Enterprise im Orbit dieses verkommenen Planeten kurz haltmacht und ich gefragt werde, ob ich endlich einsteigen und auf Nimmerwiedersehen aus diesem Irrsinn verschwinden möchte ... und gleichzeitig weiß bzw. ahne ich, dass diese Alternativlosigkeit und damit auch diese billigen Träume systemgewollt und damit nicht zufällig (und erst recht nicht meine eigenen) sind. Steinmüller ist mit dieser Erzählung schon vor über 30 Jahren ein bitterböser Geniestreich gelungen, der immer noch (und zunehmend) extrem weh tut - und vielleicht auch deshalb in seiner verpönten SF-Nische weitestgehend unbeachtet vor sich hin modert.

Und so soll der erste Satz dieser Erzählung auch der Schluss dieses Beitrages sein, denn dem ist (abgesehen von Steinmüllers Erzählung) nichts weiter hinzuzufügen:

"Ich lief aus Leibeskräften, ich schwitzte am ganzen Körper, ich rannte und rannte, und doch kam mir Jupiter kein Stück näher."

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