Samstag, 2. Juli 2016

Der Aufstocker: Aus dem Leben eines Kranken


Ein kleiner, ausnahmsweise sehr persönlicher Exkurs

Ich stecke tief im grausamen Sumpf der kapitalistischen, von Rot-Grün durchgesetzten und Schwarz-Gelb frenetisch gefeierten und in der Folge betonierten Zwangsverarmung. Gestern habe ich ein freundliches Schreiben von der Stadtverwaltung erhalten, die vom "Beitragsservice" der öffentlich-rechtlichen Propaganda- und Volksbespaßungsanstalten damit beauftragt wurde, per Zwangsvollstreckung knapp 700 Euro bei mir einzutreiben. In dem netten Schreiben wird mir unter anderem die "Pfändung des Kontos" sowie "Erzwingungshaft" angedroht, falls ich nicht unverzüglich zahlen sollte - was ich natürlich nicht kann. Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs sind momentan also eher eine nachgeordnete Sorge für mich.

Schon seit vielen Monaten verzichte ich auf eigentlich notwendige Medikamente, da ich mir die Rezeptgebühren (fünf Euro pro Rezept) nicht leisten kann, und vor einigen Tagen habe ich auch noch eine Mieterhöhung von meinem Vermieter erhalten, so dass in Zukunft noch einmal monatlich 30 Euro in der Haushaltskasse fehlen. In Kürze gehen bei mir also die Lichter aus - und das nicht nur im wörtlichen Sinn, denn ich bin nicht gewillt, eine derartig entwürdigende Verarmung bis hin zur Stromsperre, Zwangsvollstreckung und drohenden Obdachlosigkeit zu ertragen. Irgendwann ist Schluss.

Erwähnenswert ist vielleicht noch, dass ich trotz meiner bösen Krankheit in Teilzeit arbeiten gehe (obwohl ich das "offiziell" gar nicht dürfte) und ein sogenannter "Aufstocker" bin - wobei die Behörde es durch diverse Tricks, Sanktionen und bösartige Findigkeiten (beispielsweise die Kürzung der Mietzahlungen, die angeblich nicht "angemessen" seien uvm.) geschafft hat, dass von meinem Verdienst so gut wie nichts mehr übrig bleibt und ich mich trotz des Jobs nahezu auf demselben finanziellen Niveau befinde wie jemand ohne Einkommen. Letztlich ist der Job also ein Minusgeschäft für mich, da ich natürlich auch jobbedingte Ausgaben habe. Außerdem ist eine "Befreiung" von den Zwangsgebühren des öffentlichen Verdummungsrundfunkes nicht mehr möglich, wenn das Einkommen auch nur einen Euro über dem gesetzlich bestimmten "Existenzminimum" liegt.

Sämtliche beteiligte Stellen - "Beitragsservice", Stadtverwaltung, "Jobcenter" und Vermieter - wissen, dass ich leider erkrankt und daher tageweise immer wieder außer Gefecht gesetzt bin, allerdings interessiert das exakt niemanden und die kapitalistische Doktrin wird konsequent und ohne jeden Anflug von Empathie gnadenlos durchgesetzt. Als Höhepunkt kann ich eine Anekdote erzählen, die schon einige Zeit zurückliegt: Ich befand mich damals auf der Intensivstation eines Krankenhauses und wusste nicht, ob ich dieses Haus noch einmal lebend verlassen würde. Während ich so dalag und meinen existenziellen Gedanken nachging, stürmte eine Dame herein, die sich als Mitarbeiterin der Verwaltung zu erkennen gab - und sie teilte mir mit, während ich dort lag, dass meine Krankenkasse die Übernahme der Kosten verweigere, da mich das örtliche "Jobcenter" abgemeldet habe. Das war für meine Genesung natürlich sehr hilfreich. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass ein Schnüffler der Behörde mich, während ich im Krankenhaus war, zuhause nicht angetroffen und daraus den Schluss gezogen hatte, dass ich nicht mehr dort wohne. - Dies sind alltägliche Geschichten, von denen ich hunderte erzählen könnte, mit denen Zwangsverarmte in diesem Land täglich zu tun haben.

Nun wartet also die Zwangsvollstreckung auf mich. Eigentlich müsste ich kommende Woche zwar wieder diverse Arzt- und Krankenhaustermine wahrnehmen, aber darauf verzichte ich wohl lieber, damit die üblen Gesellen mir nicht die Tür aufbrechen und in meiner kleinen Wohnung nach Goldschätzen und Diamanten suchen. Und das alles nur, weil die korrupte Politbande eine auch rückwirkend zu zahlende Zwangsgebühr eingeführt hat, die auch Menschen betrifft, die seit vielen (!) Jahren vom "öffentlich-rechtlichen" Verdummungsfunk abgemeldet waren.

Vor zehn Jahren lebte ich noch im schicken Einfamilienhaus, fuhr einen albernen BMW und erzielte durch völlig lächerliche Tätigkeiten im Borgwürfel ein an heutigen Maßstäben gemessen fürstliches Einkommen. Geblieben ist mir davon seit meiner Erkrankung nichts - die staatliche Zwangsverarmung hat auf ganzer Linie zugeschlagen und mich ohne Umschweife zunächst alles "Überflüssige" verkaufen lassen und mir sodann auf direktem Weg die Daumenschrauben des Hartz-Terrors angelegt. Wer krank wird in diesem grauenhaften System, muss sich wahrlich sehr warm anziehen.

Ich behalte es mir vor, die Untergrenze meiner persönlichen Würde selbst zu bestimmen - und sofern die Krankheit den Job nicht erledigt, werde ich selbstbestimmt den Abgang wählen, bevor ich obdachlos werde oder mich wegen lächerlicher 700 Euro für einen geldstrotzenden Verein im Knast wiederfinde, der sich Millionengehälter für debile Figuren wie Gottschalk oder Jauch - oder noch weitaus horrendere Summen für die Übertragungsrechte für noch dämlichere Fußballspiele - leistet und mit dem ich nichts zu tun habe.

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Das letzte Bad



(Lithografie von Honoré Daumier [1808-1879], aus der Serie "Sentiments et passions", in: "Le Charivari", 1840)

Freitag, 1. Juli 2016

Armut, Kapitalismus und die obligatorische Press(e)wurst


Die Systempresse wird nicht müde, ihrem Auftrag nachzukommen. Während aktuell aus allen Rohren wieder einmal die sensationell gesunkenen Arbeitslosenzahlen gepriesen werden (ich verlinke den Schmonzes nicht, der lächerliche Tenor ist sowieso allenthalben derselbe und wiederholt sich in regelmäßigen Abständen immer wieder), kann man immer mal wieder auch alarmistische Berichte über die bedrohlich zunehmende Armut im Lande lesen, wie das jüngst mal wieder bei Zeit Online der Fall war:

Aus Mietern werden arme Rentner / Während die Vermögen der Reichen wachsen, können viele Deutsche kaum genug Geld fürs Alter zurücklegen. Diese Grafiken zeigen, warum.

Der Titel könnte indes irreführender kaum sein, denn selbstverständlich ergehen sich derlei Berichte regelmäßig in aufgehübschter Symptombeschreibung, blenden aber die offensichtlichen, nämlich systemischen Ursachen konsequent aus. Die Frage nach dem "Warum" wird hier gerade nicht geklärt, ganz im Gegenteil - es wird nach Kräften verschleiert und von den eigentlichen Ursachen abgelenkt. Zudem arbeitet auch dieser Text samt seinen "erklärenden" Grafiken mit massiv geschönten Zahlen, die keine Auskunft über die tatsächliche Armut im Lande geben. Wenn dort beispielsweise von einem "mittleren Einkommen" von 3.000 Euro (brutto) ausgegangen wird, das "Mieter" betreffe, geht das nicht nur knapp an der Realität vorbei, sondern hat mit dieser schlichtweg nichts zu tun. Die Millionen der vom staatlichen Terror bis aufs letzte Hemd Verarmten in diesem verkommenen Land schleckten sich alle zehn Finger nach einem so fürstlichen Einkommen und dächten dabei noch nicht einmal sekundenweise an eine groteske "private Altersvorsorge", die ohnehin vornehmlich den längst aus allen Nähten platzenden Konzernen Profite einbringt.

Mieter ist nicht gleich Mieter, und Eigentümer sind keineswegs allesamt furchtbar reich. Solch schlichte Erkenntnisse finden indes nicht statt in den Redaktionen des Irrsinns.

In diesen kapitalistischen Medien werden wir niemals lesen, dass die Verarmung immer größerer Teile der Bevölkerung einerseits systemimmanent und andererseits von den korrupten politischen Parteien gewollt ist - die "Agenda 2010" war ja kein Versehen, sondern ist bis heute das erklärte und von eben jenen Medien wohlwollend begleitete Erfolgsmodell dieser schmierigen Bande. Natürlich werden Superreiche in diesem System immer reicher - das ist das Konzept des Kapitalismus. Und selbstverständlich werden dadurch alle anderen Menschen - nämlich die überwältigende Mehrheit - immer ärmer, und die Ärmsten und Schwächsten trifft es stets zuerst. Wie sollte ein derartig perverses Konzept denn auch anders funktionieren?

Das Wort "funktionieren" ist in diesem Zusammenhang allerdings ebenfalls irreführend, denn dieses System funktioniert ja gerade nicht - jedenfalls nicht auf Dauer. Die Geschichte der Menschheit legt ein beredtes Beispiel dafür ab. Es wird mir ewig ein Rätsel bleiben, wieso es heute immer noch - und nicht wenige - Menschen gibt, die tatsächlich der Meinung sind, man müsse lediglich hier und da an gewissen Stellschrauben drehen und das System "regulieren", dann wäre alles im Lot. Exakt in dieses absurde Horn trötet auch die Autorin des verlinkten Zeit-Artikels. Das mutet an wie ein albtraumhaftes Szenario, in dem die Menschheit in einer finsteren Welt voller Vampire gefangen ist, und die "bürgerliche" Presse empfiehlt zur Gegenwehr, den "fehlgeleiteten" Blutsaugern einfach zu verbieten, zuviel Blut zu trinken. Sie dürfen freilich weitermachen - aber eben nicht mehr ganz so exzessiv. Dass nebenher die Politik sowieso das Gegenteil umsetzt und sich selber im völligen Blutrausch befindet, versteht sich in dieser kafkaesken Welt fast schon von selbst.

Die zunehmende Armut im Land und global ist systemgemacht, gewollt und geplant. Der Tag, an dem diese schlichte Erkenntnis endlich flächendeckend begriffen wird, wird der Tag sein, ab dem sich endlich etwas zum Positiven verändern könnte. Leider ist er heute ferner als je zuvor und die dumpfe Masse stochert lieber wieder im braunen, stinkenden Sumpf.

Die Press(e)wurst der kapitalistischen Propaganda ist hieran einmal mehr gewiss nicht unschuldig.
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Gewöhnliches an Sonntagen um zwei Uhr



(Farbradierung von Robert Dighton [1752-1814] aus dem Jahr 1787, Verbleib unbekannt)

Mittwoch, 29. Juni 2016

Song des Tages: Sound of Silence




(Disturbed: "Sound of Silence", aus dem Album "Immortalized", 2015; Original von Simon & Garfunkel, aus dem Album "Wednesday Morning, 3 A.M.", 1964)

Hello darkness, my old friend
I've come to talk with you again
Because a vision softly creeping
Left its seeds while I was sleeping
And the vision that was planted in my brain
Still remains
Within the sound of silence

In restless dreams I walked alone
Narrow streets of cobblestone
'Neath the halo of a streetlamp
I turned my collar to the cold and damp
When my eyes were stabbed by the flash of a neon light
That split the night
And touched the sound of silence

And in the naked light I saw
Ten thousand people, maybe more
People talking without speaking
People hearing without listening
People writing songs that voices never share
No-one dare
Disturb the sound of silence

“Fools” said I, “You do not know
Silence like a cancer growth
Hear my words that I might teach you
Take my arms that I might reach you”
But my words like silent raindrops fell
And echoed in
The wells of silence

And the people bowed and prayed
To the neon god they made
And the sign flashed out its warning
In the words that it was forming
And the sign said “The words of the prophets
Are written on the subway walls
And tenement halls
And whispered in the sounds of silence”



Anmerkung: Man kann zu diesem alten Song stehen wie man will - mir jedenfalls gefällt diese Version der amerikanischen Metal-Band Disturbed ausgesprochen gut. Ich hätte viel lieber das intensivere offizielle Video anstelle des TV-Auftritts bei diesem lächerlichen Schlips-Kasper hier eingebettet, was aber aus den bekannten Copyright-Bullshit-Gründen nicht geht. - Es versteht sich von selbst, dass ein Klassiker wie dieser in den letzten 50 Jahren von unzähligen MusikerInnen auf verschiedenste Weisen gecovert wurde. Es lohnt sich, im Netz danach zu suchen und die unterschiedlichen Ansätze miteinander zu vergleichen - auch wenn die Auswahl dort leider recht begrenzt ist und es auch viele belanglose Plagiate ohne eigene Interpretationsansätze gibt.

Als besonderer Service für den Kiezneurotiker sei noch explizit darauf hingewiesen, dass es selbstverständlich auch eine weichgespülte Prenzlauer-Berg-Version dieses Liedes von "Gregorian" gibt. ;-) - Die machen vor nichts halt.

Dienstag, 28. Juni 2016

Zitat des Tages: Wehrt Euch!


1. Wer ein Mobiltelefon besitzt, werfe es weg. Es hat ein Leben vor diesem Gerät gegeben, und die Spezies wird auch weiter existieren, wenn es wieder verschwunden ist. Der abergläubischen Verehrung, die ihm zuteil wird, sollte man nichts abgewinnen. Smart sind nicht diese Geräte oder die sie benutzen, sondern die sie uns anpreisen, um unermessliche Reichtümer anzuhäufen und gewöhnliche Menschen zu kontrollieren.

2. Wer immer einem ein kostenloses Angebot macht, ist verdächtig. Man sollte unbedingt alles ausschlagen, was sich als Schnäppchen, Prämie oder Gratisgeschenk ausgibt. Das ist immer gelogen. Der Betrogene zahlt mit seinem Privatleben, mit seinen Daten und oft genug mit seinem Geld.

3. Online-Banking ist ein Segen, aber nur für Geheimdienste und für Kriminelle.

4. Regierungen und Industrien möchten das Bargeld abschaffen. Ein gesetzliches Zahlungsmittel, das jeder einlösen kann, soll es nicht mehr geben. Münzen und Scheine sind Banken, Händlern, Sicherheitsbehörden und Finanzämtern lästig. Plastikkarten sind nicht nur billiger herzustellen. Sie sind auch unseren Aufpassern lieber, denn sie erlauben es, jede beliebige Transaktion zurückzuverfolgen. Deshalb tut jeder gut daran, Kredit-, Debit- und Kundenkarten zu meiden. Diese ständigen Begleiter sind lästig und gefährlich.

5. Dem Aberwitz, alle denkbaren Gebrauchsgegenstände, von der Zahnbürste bis zum Fernseher, vom Auto bis zum Kühlschrank über das Internet zu vernetzen, ist nur mit einem totalen Boykott zu begegnen. An den Datenschutz den mindesten Gedanken zu wenden fällt ihren Herstellern nicht im Traum ein. Der einzige Körperteil, an dem sie verwundbar sind, ist ihr Konto. Sie sind nur durch die Pleite zu belehren.

6. Ähnliches gilt für die Politiker. Alles, was man gegen ihr Tun und Lassen einwendet, ignorieren sie. Den Finanzmärkten begegnen sie unterwürfig, und gegen das Treiben der Geheimdienste vorzugehen, wagen sie nicht. Interessiert sind sie jedoch daran, wiedergewählt zu werden. Solange das Wahlrecht noch existiert, sollte man ihnen die Stimme verweigern, wenn sie die digitale Enteignung dulden, statt gegen sie vorzugehen.

7. E-Mail, zu deutsch Strompost, ist schön, schnell und kostenlos. Also Vorsicht! Wer eine vertrauliche Botschaft hat oder nicht überwacht werden möchte, nehme eine Postkarte und einen Bleistift zur Hand. Handschrift ist von Automaten schwer zu lesen. Niemand vermutet auf einer Ansichtskarte, die 45 Cent kostet, wichtige Nachrichten. Man braucht also nicht zu einem toten Briefkasten zu greifen, wie er in altmodischen Spionageromanen vorkommt.

8. Waren oder Dienstleistungen via Internet sollte man meiden. Anbieter wie Amazon, Ebay und so weiter speichern alle Daten und belästigen ihre Kunden mit Reklamemüll. Anonymer Einkauf ist besser. Einzelne Adressen, die man gut kennt, können als Ausnahmen durchgehen.

9. Die großen Internetkonzerne finanzieren sich, ebenso wie das sogenannte Privatfernsehen, hauptsächlich durch Reklame. Damit stehlen sie ihren Kunden Zeit und Aufmerksamkeit. Wer einen, in welcher Form auch immer, andauernd anbrüllt oder belästigt, den sollte man abstrafen. Auf alle Angebote, die auf diese Weise vermarktet werden, zu verzichten ist empfehlenswert, ebenso wie Sender, die einen durch Werbung terrorisieren, ein für alle Mal abzuschalten. Das ist nicht nur aus hygienischen Gründen ratsam. Bekanntlich arbeiten besonders amerikanische Großkonzerne eng mit den Geheimdiensten zusammen, um möglichst jede menschliche Regung auszuspähen und zu kontrollieren.

10. Netzwerke wie Facebook nennen sich "sozial", obwohl sie ihren Ehrgeiz daransetzen, ihre Kundschaft so asozial wie möglich zu behandeln. Wer solche Freunde haben will, dem ist nicht zu helfen. Wer bereits das Unglück hat, einem solchen Unternehmen anzugehören, der ergreife so schnell wie möglich die Flucht. Das ist gar nicht so einfach. Was ein Krake einmal erbeutet hat, gibt er nie wieder freiwillig her.

(...)

Der Schlaf der Vernunft wird bis zu dem Tag anhalten, an dem eine Mehrheit der Einwohner unseres Landes am eigenen Leib erfährt, was ihnen widerfahren ist. Vielleicht werden sie sich dann die Augen reiben und fragen, warum sie die Zeit, zu der Gegenwehr noch möglich gewesen wäre, verschlafen haben.

(Hans Magnus Enzensberger [*1929]: "Wehrt Euch!", in: FAZ v. 28.02.2014)

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Uhr



(Gemälde von Marc Chagall [1887-1985] aus dem Jahr 1914, Gouache und Öl auf Leinwand, Tretjakow-Galerie, Moskau, Russland)

Montag, 27. Juni 2016

Das Märchen von der Rückkehr der Prüderie


Vor einigen Tagen bin ich auf meiner Flucht vor dem wild um sich greifenden Fußball-Stumpfsinn bei n-tv auf ein hübsches Kleinod gestoßen, das ich zuerst für einen brachialen Aprilscherz und sodann für einen Bericht aus irgendeiner Hochburg der IS- oder US-Terror-Miliz gehalten habe. Dort ist nämlich zu lesen:

"Im Interesse gesunder Entwicklung" / Kinder klagen gegen "Safer Sex"-Kampagne

Es ist gewiss nichts Neues, dass sich die muffige Prüderie auch im "freiheitlichen Westen" seit geraumer Zeit ihren Weg zurück in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts bombt; aber dass inzwischen schon "Vier- bis Siebzehnjährige" bzw. deren Eltern mitten in Europa gegen vermeintliche "staatliche Sexvideos" klagen, die lediglich vor Geschlechtskrankheiten warnen, schraubt die Eskalation der Absurditäten auf eine neue Stufe. Lest euch den kurzen Text ruhig in Gänze durch und zählt dabei mit, wie oft ihr euch an die Stirn fasst oder selbige an die Wand knallt. Da ist allen Ernstes von "promiskuitive[m] Verhalten, welches eine der Hauptursachen für kaputte Familienbeziehungen und sexuell übertragbare Krankheiten" sei, die Rede. Laut der die KlägerInnen unterstützenden christlichen [sic!] Stiftung Zukunft Schweiz gibt es ergo nur ein probates Mittel gegen Geschlechtskrankheiten und "Promiskuität" - nämlich die völlige Enthaltsamkeit.

Demnächst können wir sicherlich die ersten Reklameanzeigen lesen, die das moderne Pendant zum mittelalterlichen Keuschheitsgürtel anpreisen: Ein "Wearable" beispielsweise, das besorgte Eltern ohne Zeitverzögerung darüber informiert, ob der pubertierende Nachwuchs gerade masturbiert oder - der Teufel muss schuld sein an diesem Höllenpfuhl - gar sexuelle Erfahrungen mit einem anderen Menschen macht.

Selbstverständlich ist auch diese absurde Entwicklung, wie alles in Kapitalistan, höchst bigott. Parallel zur zunehmenden vordergründigen Prüderie findet seit langem und für alle sichtbar eine völlige Enthemmung und Sexualisierung des gesamten Lebens statt - nicht nur in der Reklamepest oder der "Schattenwelt" der Pornografie. Dabei ist es völlig egal, ob es sich beispielsweise um hochchristliche SoldatInnen aus den prüden USA handelt, die in geheimen Folterlagern sexualisierte, sadistische Praktiken an illegal Inhaftierten durchführen und diese Untaten auch noch fotografieren, oder um islamistische "Kämpfer", die "feindliche" Frauen und Männer vergewaltigen und sogar in Zwangsbordelle für die "Kameraden" verfrachten. Die hochchristlichen Sekten, deren Mitglieder ihren Kindern regelmäßig mit Ruten und Stöcken den nackten Arsch und damit auch die Seele malträtieren, gehören ebenso dazu wie die nicht-christlichen Gurus, die ihre Schäfchen in schöner Regelmäßigkeit aufs Übelste sexuell ausbeuten.

Die vorgeblich wachsende Prüderie im Spätkapitalismus ist - wie in diesem untergehenden System üblich - nichts anderes als ein aufgebauschtes Feigenblatt für die Medienöffentlichkeit, das von interessierten, oft religiotischen Kreisen genutzt wird, um die tatsächlich fortschreitende Pervertierung alles Sexuellen zu vertuschen. Es ist kein Zufall, dass gerade aus den Reihen derjenigen, die am lautesten nach sexueller Enthaltsamkeit brüllen, immer wieder die schlimmsten Sexualstraftaten bekannt werden - und damit meine ich gewiss nicht bloß katholische Priester und Nonnen oder islamistische Fanatiker.

Die abgrundtiefe Verlogenheit in Bezug auf Sexualität, Prüderie und Freizügigkeit ist Legion auf diesem Planeten.

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Entgötterte Welt


"Amor ist tot. Es lebe das Schwein!"

(Zeichnung von Karl Arnold [1883-1953], in "Simplicissimus", Heft 1 vom 01.04.1921)