Montag, 1. Juni 2015

Männer, Sex und Kapitalismus: Vom Irrsinn der "Erotikchats"


Es gab einmal eine Zeit, in der meine finanzielle Situation als "selbstständig" tätiger Musiker und Journalist äußerst prekär war. "Selbstständig" war indes auch damals schon lediglich meine andauernde Geldnot, während die "Arbeitgeber", für die ich umfangreich tätig war, stets recht gut verdient haben. Aber das soll heute nicht mein Thema sein.

Ich möchte stattdessen aus einem anderen zwielichtigen Bereich der kapitalistischen Wirtschaft berichten, in dem es ebenso betrügerisch zugeht wie im gesamten Rest dieser profitorientierten Farce - nämlich aus der Blase der sogenannten Erotikchats.

Ich bin seinerzeit über diverse Umwege zu diesem "Job" gekommen, den ich aus reiner Geldnot einige Jahre innehatte und der sich wie folgt beschreiben lässt: Auf einer vorgeblich als "Erotikchat" ausgewiesenen Website ist man als Operator dafür da, eine Vielzahl von "sexwilligen Damen" für die sich vereinzelt einfindenden Herren zu spielen. Für die Erstellung der "Profile" jener fiktiven Damen einschließlich geklauter Fotos ist der jeweilige Operator zuständig (es handelt sich dabei um bis zu 1.000 und mehr Scheinprofile), und je nach Tageszeit werden entsprechend viele (tagsüber) oder auch wenige (nachts) davon "eingeloggt", um den Anschein eines echten Chats - so absurd das Außenstehenden auch erscheinen mag - zu erwecken.

Da kann der zahlungswillige Heinz_58 mal locker mit der natürlich sehr willigen Sina_19 in Kontakt treten und auch die extremsten, absurdesten Sexfantasien zunächst virtuell ausleben - stets aber mit dem Hintergedanken, dass es sich bei jenen Damen um reale Personen handelt, die letzten Endes ebenso an einem realen Treffen interessiert sind wie der zahlende Chatter. Die Preise für einen solchen Fakechat bewegen sich dabei in sehr gehobenen Sphären - hier nur ein Beispiel:

15 EUR für 30 Chatminuten
30 EUR für 60 Chatminuten
42 EUR für 100 Chatminuten
100 EUR für 250 Chatminuten
187 EUR für 500 Chatminuten
315 EUR für 1.000 Chatminuten
570 EUR für 2.000 Chatminuten
822 EUR für 3.500 Chatminuten
950 EUR für 5.000 Chatminuten
1.450 EUR für 10.000 Chatminuten


Es versteht sich von selbst, dass der jeweilige Operator, der den sexhungrigen Herren diese absurden Unsummen durch seine Arbeit abschwätzt, lediglich mit einem lächerlichen Almosen im Cent-Bereich "entlohnt" wird: Für eine Vollzeit-Tätigkeit (also ca. 40 Stunden pro Woche) erhält man, je nach Kundenandrang, zwischen 100 und 300 Euro monatlich. Diese Entlohnung erfolgt natürlich "schwarz", denn angestellt wird in diesen "Chats" niemand. Stattdessen existiert dort eine perverse Hierarchie von Scheinselbstständigkeiten: Den "erfolgreicheren" älteren Hasen und Häsinnen wird die Verantwortung für einen oder mehrere "Chats" anvertraut; diese wiederum beschäftigen mehrere Personen, die die jeweiligen "Chats" im Schichtdienst rund um die Uhr betreuen - natürlich ebenfalls als Scheinselbstständige. Am Ende eines Monats erhält der prekär Augebeutete eine Mail vom Betreiber, in der detailliert ausformuliert ist, wie die "Rechnung", die er für seine Tätigkeit an den Betreiber zu schreiben hat, auszusehen hat, um an seine paar albernen Kröten zu kommen.

Es gibt von ein und demselben Betreiber nicht nur drei oder vier, sondern hunderte dieser Fakechats, die sich zunehmend auf bestimmte, immer extremere sexuelle Vorlieben konzentrieren, und ein Operator betreut dabei mehrere dieser Fakeplattformen gleichzeitig - zu meiner Zeit waren das immerhin fünf "Chats", inklusive der jeweils zu erstellenden Damenprofile, zur selben Zeit.

Dabei werben diese Fakechats mit lächerlichen Slogans wie "Kontakt-Chat No. 1", "Anonymes Kennenlernen ohne Hemmungen", "Single-Treff und Kontaktbörse für den besonderen Anspruch", "Mehr als Chatten" und ähnlichem Bullshit. Ein wesentliches Merkmal dieser widerlichen Abzocke ist es eben, den zahlenden Herren möglichst authentisch vorzugaukeln, dass die Damen, mit denen sie im jeweiligen Chat in Kontakt treten, nicht nur an "dirty talk", sondern eben auch an realen Treffen zum Ausleben eben jener Absonderlichkeiten interessiert sind. Das ist glatter Betrug in mehrfacher Hinsicht, nicht nur am Kunden, sondern auch am Mitarbeiter - Kapitalismus wie er leibt und lebt, eben.

Allerdings möchte ich den Skandal doch ein wenig eindämmen, denn wenn Gestalten wie Heinz_58 tatsächlich glauben, dass eine blutjunge Frau wie Sina_19 ein wie auch immer geartetes Interesse daran hat, sich mit dem alten Sack zu treffen, um wild mit ihm zu poppen, ihn anzupinkeln, ihn in Windeln zu wickeln oder ihm eine Gurke oder etwas noch Größeres in den Arsch zu rammen (was nicht ausnahmsweise, sondern regelmäßig der Fall war), dann hat der Realitätsverlust absurde Dimensionen angenommen, die nicht mehr in Worten fassbar sind. Ich könnte hier ganze Romane aus dem Nähkästchen der sexuellen Fantasien der älteren Generation dieses Landes ausplaudern ... aber ich verkneife mir das an dieser Stelle besser. Viel erschreckender fand ich während dieser widerlichen Tätigkeit, dass es mindestens ebenso viele jüngere bis sehr junge Männer gibt, die ganz ähnlichen Fantasien nachhängen bzw. diese kopieren (was erst einmal nicht weiter verwerflich ist) und bereit sind, für den "Verfügbarkeitschat" ordentlich Kohle abzudrücken, in dem es nach der Bezahlung für jede auch noch so absurde Fantasie sofort die passende "Dame" - oder manchmal auch den passenden Herrn - gibt. Der Kapitalismus hat sich längst in die tiefste Psyche der Menschen gegraben und sie nachhaltig vergiftet - und es dürfte so gut wie unmöglich sein, ihn dort wieder herauszubekommen.

Es bleibt eine Randnotiz, dass der Großteil der Männer - unabhängig vom Alter -, die in diesen Chats nach zunächst virtuellen, dann aber bitte auch realen Kontakten suchen, verheiratet oder sonstwie in einer Partnerschaft gebunden sind. Ein nicht unübliches Beispiel war hier der alte, verbeamtete Sack (50), der seine Gattin extra in den Wellness-Urlaub ins tiefste Bayern geschickt hat, um zuhause freie Bahn für seine 18jährige "Chatbekanntschaft" zu haben. Allein für die wiederholte Verabredung zu diesem "Termin", der natürlich nie zustande kam, hat er innerhalb einiger Monate mehrmals knapp 1.000 Euro Chatgebühren verbraten (von denen sein virtuelles, sich prostituierendes - und keineswegs 18jähriges - Gegenüber, wie gesagt, nur einige herabrieselnde Brotkrumen-Cents erhalten hat).

Nun höre ich schon die empörten Stimmen, die sich echauffieren: Wie kann man denn naive, sexhungrige Menschen bloß derartig abzocken? Das ist doch skandalös! - Denen entgegne ich einfach: Stimmt - aber ihr alle, die ihr im kapitalistischen System arbeiten müsst, tut doch nichts anderes - und je näher eure Tätigkeit dem Vertrieb ist, desto näher seid ihr höchstpersönlich exakt demselben perversen Betrug. It's simply capitalism - face it.

Dennoch ist mir dieses finstere Kapitel meiner Geschichte heute sehr peinlich - obwohl es mich seinerzeit vor der drohenden Obdachlosigkeit gerade noch bewahrt hat. Heute könnte ich das nicht mehr tun, und das nicht nur wegen der vielen Kontakte zu den Irren und Perversen dieses Landes und den damit verbundenen widerlichen Dialogen: Sogar ein Mensch in akuter Geldnot kann zuweilen das Richtige lernen. Und trotzdem bleiben schnöde Habgier und purer Egoismus weiterhin die zentralen, allseits geförderten und zur religiösen Monstranz aufgeblähten Elemente dieser kapitalistisch konditionierten und damit unweigerlich dem Untergang geweihten Menschheit.

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Entgötterte Welt


"Amor ist tot. Es lebe das Schwein!"

(Zeichnung von Karl Arnold [1883-1953], in "Simplicissimus", Heft 1 vom 01.04.1921)

8 Kommentare:

greggy hat gesagt…

Krass. Gibts wirklich so viele Deppen die ihr Geld für so einen erkennbaren schwachsinn raushauen? Da wundert einen doch nichts mehr.

epikur hat gesagt…

"Der Kapitalismus hat sich längst in die tiefste Psyche der Menschen gegraben und sie nachhaltig vergiftet - und es dürfte so gut wie unmöglich sein, ihn dort wieder herauszubekommen."

Genauso ist es. Gut auf den Punkt gebracht! Ich möchte an dieser Stelle immer wieder auf Erich Fromm´s "Die Kunst des Liebens" hinweisen. Er hat die kapitalistische Durchdringung und Ökonomisierung der Liebe sowie dessen Folgen bereits vor über 50 Jahren exakt beschrieben. Heute sind wir dort auf einem traurigen Höhepunkt angelangt: elitepartner.de, diverse single-, sex- und erotik-börsen, -chats, Pornoseiten und so weiter.

Charlie hat gesagt…

@ epikur: Danke für den Hinweis auf Fromm, der ja nicht überall Zustimmung findet (flatter beispielsweise "hält nicht viel" von ihm, weshalb auch immer). Nach meiner Wahrnehmung wird unsere heutige furchtbare Realität in vielen seiner Texte bereits vorweggenommen - er hat so manches Zeichen seiner Zeit mit einem feinen Gespür wahrgenommen und die Auswirkungen formuliert, wie auch dieses Beispiel aus seinem Spätwerk "Haben oder Sein" (1976) zeigt:

"Die in der Werbung und der politischen Propaganda angewandten hypnoseähnlichen Methoden stellen eine ernste Gefahr für die geistige und psychische Gesundheit, speziell für das klare und kritische Denkvermögen und die emotionale Unabhängigkeit dar. Ich bezweifle nicht, dass durch gründliche Untersuchungen nachzuweisen wäre, dass der durch Drogenabhängigkeit verursachte Schaden nur einen Bruchteil der Verheerungen ausmacht, die durch unsere Suggestivmethoden angerichtet werden, von unterschwelliger Beeinflussung bis zu solchen semihypnotischen Techniken wie ständige Wiederholung oder die Ausschaltung rationalen Denkens durch Appelle an den Sexualtrieb. Die Bombardierung durch rein suggestive Methoden in der Werbung, vor allem in Fernsehspots, ist volksverdummend. Dieser Untergrabung von Vernunft und Realitätssinn ist der einzelne tagtäglich und überall zu jeder Stunde ausgeliefert: viele Stunden lang vor dem Bildschirm, auf Autofahrten, in den Wahlreden politischer Kandidaten etc. Der eigentümliche Effekt dieser suggestiven Methoden ist ein Zustand der Halbwachheit, ein Verlust des Realitätsgefühls."

Dies lässt sich nun problemlos auf das absurde Verhalten mancher Männer in den zur Rede stehenden "Erotik-Chats" übertragen. Wichtig ist dabei vielleicht noch der Hinweis, dass es sich bei den "Kunden" dort keineswegs überwiegend um Deppen oder einfältige Dorftrottel handelt, sondern - was allein schon die zu zahlenden Preise nahelegen - um Angehörige der sogenannten Mittelschicht.

Publicviewer hat gesagt…

30 Jahre RTL und Konsorten hinterlassen nicht ungestraft ihre Hinterlassenschaften in unseren Köpfen...

Shhhhh hat gesagt…

Erstaunlich. Brecht lässt grüßen.

Charlie hat gesagt…

@ Shhhhh: Was haben Erotikchats und realitätsferne Männer doch gleich mit Brecht zu tun? Klär mich bitte auf! :-)

Beaker hat gesagt…

Du warst jung und brauchtest das Geld.

JamesD hat gesagt…

Über was soll man sich denn wundern. Um in so einem Erotikchat zu moderieren, muß ich doch nur eins machen: mich informieren. Und dann erzähle ich irgendwas von Analtoys, obwohl ich noch nie eines live gesehen habe