Friedrich Scholz, den heute kaum jemand außerhalb der kleinen kulturellen Filterblase mehr kennt, war ein sehr umtriebiger, kreativer Mensch: Er war Komponist und hat sowohl "seriöse" großartige Orchester- und Kammermusik, als auch Film-, Fernseh- und Hörspiel-Soundtracks verfasst. Gleichzeitig war er aber auch als Schriftsteller tätig und hat vornehmlich Hörspiele, Kurzgeschichten und kürzere Prosa geschrieben - und eben den hier in Rede stehenden, epischen Science-Fiction-Roman "Nach dem Ende".
Ich zitiere der Einfachheit halber aus dem Klappentext der Originalausgabe:
"Die Zivilisation, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr. Sie wurde im nuklearen Feuersturm des letzten Krieges hinweggefegt. Doch es gibt Überlebende: die 'Betonmenschen', die im 'Rhein-Main-Beton' und im 'Ruhr-Beton' hausen und in den Ruinen der Großstädte nach Zivilisationsmüll suchen: Nadeln, Messer, Äxte sind Schätze, die auf den Märkten des 'Bappen' ein Vermögen bringen.
Überlebt haben auch die 'Super', ein paar reiche Familien, die relativ unversehrt aus ihren Atombunkern gekrochen sind und die Welt unter sich aufgeteilt haben. Sie haben die Monopole für Information, Ernährung, chemische Industrie, Verkehr und die Reste militärischer Macht, mit denen sie die 'Betonmenschen' in Abhängigkeit und Rechtlosigkeit halten, während sie mit ihren willfährigen Lakaien ein Leben in Luxus führen, ängstlich darauf bedacht, den Status quo unangetastet zu lassen.
Dies ist die Geschichte von Frank Fürst aus dem 'Rhein-Main-Beton', eines postatomaren Simplicissimus, der bei aller Naivität mit allen Wassern gewaschen ist und dem es gelingt, die Liebe einer 'Super' zu erringen und - fast - bis an die Hebel der Macht zu gelangen, die seine erbärmliche Welt bestimmen."
Bevor nun scheltende Stimmen wegen eines angeblich zu oberflächlichen Ansatzes dieses wegweisenden Buches laut werden, rufe ich die bis heute schlüssigste Definition der literarischen Science Fiction in Erinnerung:
Science Fiction [in ihrer nicht rein auf kommerzielle Interessen ausgerichteten Form, Anm.d.Kap.] entwirft keineswegs Zukunft, sondern Alternative; sie springt in die andere Wirklichkeit und meint nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart. (In: Dieter Wuckel: "Science Fiction. Eine illustrierte Literaturgeschichte", 1986)
Das sollte jedem den Wind aus den Segeln nehmen, der hier eine alberne "Space Opera" vermutet - denn nichts liegt diesem Buch ferner. Es ist ein sperriges Werk, das den Leser intellektuell herausfordert und schon damit beginnt, dass es sich einer ungewöhnlichen, ungebräuchlichen Sprache bedient, die es auf sämtlichen 541 eng bedruckten Seiten konsequent durchhält. Scholz hat hier ein linguistisches Neuland betreten, das - nach meiner Kenntnis - noch immer seiner literaturwissenschaftlichen Erschließung harrt. Als illustrierendes Beispiel mag der Beginn des Romans dienen:
Es gab einmal eine Zeit, die nennt man die Alte Zeit, da sind die Menschen nicht gestorben, nicht vor Hunger und Kälte und nicht vor Seuche und Gebrechen, sondern lebten lange, erzeugten Kinder, bis es so viele waren, dass sie ihre Häuser aufeinanderstellen mussten, und sie lebten bald übereinander in hundert aufeinandergestellten Häusern, die errichteten sie überall auf der Welt, wo fester Grund war. Als aber aller fester Grund vollgestellt war mit ihren Häusern, da reichten die immer noch nicht für alle Menschen.
Das sah das Weltenauge, hatte ein Einsehen und machte, dass die Menschen sterben mussten, und die wollten auch gerne sterben, starben auch alle bis auf wenige, und sind auch wenige geblieben bis zum heutigen Tage. Aber aus dieser Zeit sind uns die aufeinandergestellten Häuser geblieben, weil sie aus Gestein sehr dauerhaft und fest errichtet sind, das sind die Hochsteine, die nennt man auch Hohlsteine, weil sie hoch und hohl sind, und alle Hochsteine zusammen mit den Weiden und dem Gehölz dazwischen nennt man das Beton.
Scholz entwirft hier - sowohl bildlich, als auch sprachlich - ein konsequent schlüssiges Szenario einer albtraumhaften, postatomaren, kapitalistisch verkommenen Horrorwelt, das dennoch aus jeder Pore den irrsinnigen, aber jederzeit schlüssigen Bezug zu unserer Wirklichkeit atmet. Der Leser schaut hier keineswegs in eine dystopische, ferne Zukunft - sondern schlicht in den dümmlichen, allzuoft blinden Spiegel seiner eigenen, oftmals naiven und eindimensionalen Realität. Ich halte es nicht für vermessen, diesen Roman mit Kafkas "Das Schloss" zu vergleichen; und es ist mir ein völliges Rätsel, weshalb ein solches literarisches und gesellschaftskritisches Kleinod vollkommen unbeachtet geblieben und inzwischen längst vergessen ist.
Unsereins sollte spätestens seit 1945 wissen, dass der Albtraum "nach dem Ende" stets wieder aufs Neue beginnt. In diesem Roman ist die literarische, artistisch konzipierte Konzentration dieses schaurigen Prozesses - inklusive des religiösen Irrsinns - detailliert nachzulesen.
Ich habe das Buch seinerzeit - während ich mich zeitgleich ausgiebig mit Eichendorff ("Aus dem Leben eines Taugenichts"), Novalis ("Heinrich von Ofterdingen"), Hesse (sämtliche Werke) und vielen, vielen anderen beschäftigte - geradezu verschlungen und seitdem mehrfach wieder gelesen.
(Friedrich Scholz [1926-2008]: "Nach dem Ende", Heyne 1986)
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