Montag, 28. September 2015

"Wissenschaftliche Zukunftsprognosen": Von Traumtänzern und Horrorvisionen


Ich habe wieder einmal triefende Stielaugen bekommen und bin in einen äußerst merkwürdigen Zustand zwischen Amusement und Angstzuständen verfallen, als ich kürzlich bei n-tv ein Interview mit einem gewissen Steffen Braun von der "Morgenstadt-Initiative" des Fraunhofer-Instituts in Stuttgart zum Thema "Die Stadt der Zukunft" gelesen habe.

Die "Futurologie" oder "Zukunftsforschung" ist ja nun beileibe keine neue "Wissenschaft" - ich habe allein in meiner kleinen Heimbibliothek eine ganze Reihe entsprechender Veröffentlichungen aus verschiedenen Dekaden seit 1970 herumstehen. Ihnen allen sind einige Merkmale gemein, die sich offensichtlich bis heute immer noch hartnäckig halten: Es werden ungeeignete wissenschaftliche Methoden (meist aus der sogenannten "Prognostik") angewandt, was regelmäßig dazu führt, dass selbst bei eventuell korrekter Ausgangslage der Fakten oftmals völlig falsche Ergebnisse erzielt werden. Hier ähnelt die "Futurologie" den "Wirtschaftswissenschaften", der "Astrologie" und anderen religiösen Sekten erheblich.

Des weiteren sind die Ergebnisse, von denen Herr Braun aktuell berichtet, zum größten Teil identisch mit denen, die sich bereits in entsprechenden Büchern aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts finden und die, wie wir alltäglich live und in Farbe erfahren, eher einem Wunschdenken und nicht wissenschaftlicher Forschung entspringen. Dazu ein paar Beispiele:

  1. Es ist im Rahmen des kapitalistischen Wirtschaftssystems völlig hanebüchen, davon auszugehen, "dass sich die heutigen Infrastrukturen wie Mobilität, Energie, Wasser et cetera viel stärker dezentral entwickeln werden". Braun spricht in diesem Zusammenhang gar von einer weitgehenden Selbstversorgung der Städte. Richtig ist vielmehr, dass diese Ideen bereits sehr alt und sicher bedenkenswert sind; allerdings wird es, solange es den Kapitalismus gibt, stets auch mindestens einen großen Energiekonzern geben, der nicht an Nachhaltigkeit, preiswerter Energie für alle Menschen oder gar sich selbst versorgenden "Zellen" interessiert ist, sondern einzig an steigendem Profit - egal auf welche Weise und auf wessen Kosten.

  2. Dasselbe gilt für die weiteren genannten Bereiche (Wasser und Individualmobilität) natürlich gleichermaßen. Gerade im Bereich der Wasserversorgung erleben wir ja gerade das Gegenteil - nämlich die permanenten und teilweise bereits erfolgreichen Versuche der psychopathischen Profitmaximierer, auch diese endlich zu "privatisieren", also an Konzerne abzutreten, sodass zukünftig nur noch derjenige mit Trinkwasser versorgt wird, der auch ordentlich dafür zahlen kann. Letztlich werden sie gewiss auch noch einen Weg finden, "saubere Luft" zu privatisieren.

  3. Dem guten Herrn Braun fällt sogar selbst auf, dass eine gewisse Diskrepanz zwischen der festgestellten und weiter zunehmenden Digitalisierung und Vernetzung auf der einen und der trotzdem ansteigenden Konzentration von Menschen in wachsenden Horrorgroßstädten auf der anderen Seite festzustellen ist. Konsequenzen zieht er daraus allerdings nicht. Die "Megastädte" bleiben trotzdem ein Teil der Zukunftsprognose - die Gründe dafür werden allerdings nicht genannt, was aber nicht weiter verwundert, da diese Entwicklung in sich ja bereits unlogisch ist und das Gegenteil in einem Zukunftsmodell dafür sorgen müsste, dass zunehmend mehr Menschen den Molochen der Betonwüsten wieder entfliehen. Das passte den "ForscherInnen" allerdings so gar nicht in ihr Konzept, da dann auch so "innvovative" Projekte wie das "autonom fahrende Auto" keinen Sinn mehr ergäben. So reiht sich ein Puzzleteil ans nächste.

  4. Auch hier wird wieder das völlig bescheuerte neoliberale Konzept der "Mikrowohnungen" und "Wohnzellen" angeführt, das in einer tatsächlich vernetzten, nicht dem kapitalistischen Barbarentum ausgesetzten zukünftigen Welt so sinnvoll wäre wie Kühlschränke am Nordpol. Ich hatte bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, welchem Zweck diese Pläne mutmaßlich tatsächlich dienen.

  5. Einen weiteren Schritt hin zur neoliberal perfekten, menschenfeindlichen Welt vollzieht Herr Braun, wenn er bemerkt: "Vielleicht bestehen Firmen nicht mehr aus festen Mitarbeitern, sondern aus einer Summe von vielen Selbständigen [sic!], sogenannten Cloud Workern, die sich projektbezogen zusammenschließen." - Ja, in der Tat, das sind die feuchten Träume der Superreichen: Wenn es nur noch "Selbstständige" und keine festangestellten "Mitarbeiter" mehr gibt, kann man den ganzen überflüssigen Rotz, der sich heute noch "Arbeitsrecht" nennt, endlich in den Gulli kippen - dann gibt's keinen "Mindestlohn" mehr, sondern nur noch "Konkurrenz" (nach unten), und von Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle, einer paritätischen Finanzierung der Kranken- und Rentensysteme, geregelten Arbeitszeiten, gar einer Hilfe für Arbeitslose oder andere Unnütze etc. muss man gar nicht erst weiter reden. So sieht der Traum von der Zukunft für die Damen und Herren Quandt, Klatten, Albrecht, Schwarz & Co. aus - mit "wissenschaftlicher Prognostik" hat das jedoch nicht das geringste zu tun.

Eine "Futurologie", die den Kapitalismus als maßgeblichen Faktor für den Jetzt-Zustand und damit auch für die vermutliche Entwicklung dieser verkommenen Welt gar nicht benennt und somit auch nicht erkennen kann bzw. will, welche "Prognosen" im Rahmen dieses Systems wahrscheinlich und welche eher unwahrscheinlich sind, ist nichts anderes als gelenkte, dumpfe Propaganda. Die "wissenschaftliche Methodik", die Braun und Co. hier bemühen, erinnert an das infantile Szenario, in dem man sich ausführliche Gedanken über das plötzliche Anschwellen des Handballens macht und dabei die Tatsache außer acht lässt, dass man kurz zuvor von einer Biene gestochen wurde. Die Ergebnisse sind entsprechend absurd. Ich zitiere dazu einige Kapitelüberschriften aus dem Buch "Die Zukunft. Das Bild der Welt von morgen", hg. von Roland Göök, Bertelsmann [sic!] 1974:


- Handgemachtes Paradies: Nicht mehr arbeiten und überall Südseestrand
- 36.000 km über der Erde: So wird demnächst die Sonne angezapft
- Schlaraffenland der Energie: Das Wasser der Meere und die Steine der Alpen verbrennen
- Nahrung: Schlaraffenland aus der Retorte
- Wenn die Kornfelder verschwunden sind: Zurück zur fröhlichen Wildnis
- Wie eine Raumstation in der Landschaft: Die Stadt


So geht es munter weiter in diesem aus heutiger Sicht fast schon pervers anmutenden Buch, welches das menschenfreundliche Paradies, in dem wir heute, 40 Jahre später, demütig und überaus glücklich leben dürfen, ausführlich zu vorhersagen versucht. Weder die Bertelsmann-Bande, noch der Rest der kapitalistischen Profitgeier hat sich damals wohl ausmalen können, wie nachhaltig und zu ihren Gunsten pervertiert die Welt nach 40 Jahren aussehen würde. - Ob der Herr Braun es wohl auch gelesen hat?

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Tödliche Teppiche aus Asphalt und Gestein: Wann zieht die Stadt in die Wohnmaschine um?


(Kapitel-Illustration [Ausschnitt] von Günter Radtke aus dem o.g. Buch)

6 Kommentare:

epikur hat gesagt…

Die vermeintlichen Schönredner, Forscher und Wahrsager haben in der Regel immer Unrecht gehabt. Was 1970 nicht alles für das Jahr 2000 vorhergesagt wurde: Weltuntergang, Millennium-Bug, Halbierung der Weltbevölkerung etc. Kaum jemand hatte wirklich das Internet, Facebook, smartphones, Bankenkrise, Hedge-Fonds, Terrorismus und die Wiedervereinigung auf dem Schirm.

Die meiner Meinung nach besten Propheten, was die Zukunft an geht, sind Schriftsteller, die sich Cyberpunk und Dystopien widmen: Orwell, Huxley, Bradbury. Aber das gefällt "Forschern" und "Wirtschaftsexperten" natürlich nicht.

Charlie hat gesagt…

@ epikur: Man muss gar nicht die "Klassiker" der dystopischen Literatur bemühen - es gibt eine schier unüberschaubare Vielzahl von literarischen Werken aus den 70er und 80er Jahren, die exakt diese Tendenzen in allerlei Facetten weiterentwickelt und detailliert ausgearbeitet haben. Diese Bücher wurden und werden allerdings nicht bemerkt oder entsprechend den Vorbildern gewürdigt, da sie allesamt unter dem "Unterhaltungs"-Merkmal der Science Fiction veröffentlicht wurden.

Stellvertretend für hunderte von bemerkenswerten Büchern sei an dieser Stelle auf den Roman "Hochhaus" (Originaltitel: "High Rise") von James Graham Ballard aus dem Jahr 1975 verwiesen, für den der Suhrkamp-Verlag für seine Ausgabe im Jahr 1992 den folgenden Klappentext ausgewählt hat:

"Dieser Roman ist ein Kommentar zu den schrecklichen Möglichkeiten einer fortgeschrittenen Technik und dem rattenhaften Verhalten von Menschen, die in der Falle sitzen. (The Financial Times)"

Es ist gewiss kein Zufall, dass diese gesellschafts- und zeitkritische Literatur, die es tatsächlich in Hülle und Fülle gibt, keinerlei wahrnehmbare Resonanz außerhalb der Literaturwissenschaft erfährt.

Liebe Grüße!

Fluchtwagenfahrer hat gesagt…

Moin Charlie,
noch eine Autorenempfehlung von mir:
William Gibson (Neuromancer u.a.)
M.M. nach ein Klassiker.


Grüße

p.s. Kürzlich Moon auf pay tv gesehen, war gut!!

Anonym hat gesagt…

Charlie!
Mich haben auch Bücher der 80er Jahre geprägt. Z. B. Jeramy Rifkin,
"Genesis zwei. Biotechnik – Schöpfung nach Mass." oder Neil Postmann, "Das Verschwinden der Kindheit"! und "Wir amüsieren uns zu Tode!".

Als Ergänzung Deines Textes hätte ich mir den kurzen Aufriss eines der Realität näheren Zukunftsszenarios gewübnscht. Dass z. B. der Klimawandel zum Ansteigen der Meere, Aussterben von Tieren (fehlender Lebensraum), Untergang von Inseln im Pazifik, sichtbar extremer Rückbildung europäischer Gletscher und demnächst in den Niederlanden und an der deutschen Nordseküste den Bau von Dämmen bewirkt.

Oder, dass täglich eine Fläche des Regenwaldes von der Größe der Stadt Köln gerodet wird, um dort Rinder für Fleischgourmets weiden zu lassen. In spätestens 30 Jahren wird es kein Fleisch und auch keinen Fisch mehr zu essen geben (dann esse ich eben Veganer). Die Begrenztheit des Erdöls ist seit Jahrzehnten bekannt. Das heißt, in 25 Jahren könnte ich auf der A 7 mit dem Fahrrad nach Oberstdorf fahren, weil ich ein analgoes Umschwenken auf Elektroautos nicht erkennen kann.

Na gut, mit dem Waldsterben war das nicht so bedrohlich, jedoch "Der Zustand des Waldes ist nicht lebensbedrohlich", sagt der Freiburger Forscher von Wilpert. "Aber es geht ihm nicht besser als vor 30 Jahren." Saurer Regen mache den Bäumen nicht mehr zu schaffen, dafür aber Schädlinge wie der Borkenkäfer und der Eichenprozessionsspinner sowie weitere Auswirkungen des Klimawandels."

Leider reagieren viele Regierung nur auf Katastrophen, wenn sie bereits eingetroffen sind.

LG

Charlie hat gesagt…

@ Fluchtwagenfahrer: Danke für die Ergänzung - Gibson gehört sicherlich auch in diese Reihe. Allerdings wäre die Liste schier endlos, wenn man tatsächlich alle oder auch nur viele der AutorInnen aufzählen wollte, die äußerst bemerkenswerte Bücher geschrieben haben, die alles mögliche, gewiss aber keine reine "Unterhaltungsliteratur" sind.

Ich habe vor einiger Zeit mal damit begonnen, einige dieser Bücher hier im Blog vorzustellen (siehe z.B. hier, hier oder hier - ältere Einträge finde ich auf die Schnelle nicht mehr), habe das aufgrund ausbleibender Resonanz (hinsichtlich der Zugriffszahlen) aber wieder aufgegeben.

Liebe Grüße!

Charlie hat gesagt…

@ Anonym: Ich halte es für schlichtweg unmöglich, im Rahmen eines Blogbeitrags eine "kurze Übersicht" der möglichen bzw. wahrscheinlichen Zukunftsszenarien anzufertigen - das können angesichts der ungeheuren Komplexität stets nur einzelne Schlagworte und Brennpunkte sein. Deshalb sind auch Deine Literaturempfehlungen in diesem Zusammenhang sehr sinnvoll.

Mein Augenmerk in diesem Beitrag galt der Absurdität der nach wie vor in die mediale Welt geplärrten "Erkenntnisse" der "Futurologie", die heute mehr denn je bloße systemkonforme Propaganda ohne jeden Informationswert darstellt.

Stark verkürzt könnte man das Thema vielleicht so zusammenfassen: "Wenn Kapitalismus, dann Katastrophen."

Liebe Grüße!