Mittwoch, 8. Dezember 2010

Schikane und Entwürdigung: Der alltägliche Faschismus von Hartz IV

  1. Es waren Sozialdemokraten und Grüne, die als Regierende begannen, die bewährte solidarische Arbeitslosenversicherung abzubauen und die Beschäftigungspolitik neoliberal zuzurichten. Der Protestruf "Hartz IV ist Armut per Gesetz" hatte von Anfang an seine Berechtigung. Wer sich ausgerechnet von diesen beiden Parteien erhoffte, sie würden mittels des Bundesrates an dem jetzt von CDU/CSU und FDP geplanten neuerlichen Abbau sozialer Leistungen Entscheidendes ändern, muss schon an Amnesie leiden. (...)

    In der Partei Die Linke wie auch in den Gewerkschaftern wird oft beklagt, dass die "Hartz IV"-EmpfängerInnen als direkt Betroffene wenig Protestbereitschaft zeigten. Solche Klagen gehen am Kern des Skandals vorbei. Wer über längere Zeit die Abhängigkeit von den Arge-Ämtern hat erdulden müssen, ist nicht nur verarmt, sie oder er ist auch vielfach gedemütigt und entwürdigt worden. Mutlosigkeit breitet sich aus, das Selbstwertgefühl leidet. Die Rausgeworfenen sollen die Konkurrenz der "Ware Arbeitskraft" anstacheln und auf die Löhne drücken. Dazu bedarf es neben der materiellen Verarmung auch einer moralischen Stigmatisierung: Wer keine Arbeit finden kann, muss faul oder asozial von Geburt an sein. SPD und Grüne propagierten bei der Einführung der Hartz-Gesetze, sie wollten "fördern und fordern". "Gefördert" wird seither die Zurichtung zu Billiglöhnern, "gefordert" wird durch Herabstufung berechtigter Lebensansprüche und durch ständige Diskriminierungen. An den Diskriminierungskampagnen beteiligen sich fast alle Medien: von Bild bis zu den Feuilletons der überregionalen Zeitungen, nicht zuletzt die Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, und Hauptadressat der Kampagnen sind die brav und gefügig Arbeitenden, die dadurch permanent eingeschüchtert werden.

    Sozialhilfeempfänger werden ausgegrenzt aus der Gesellschaft der "anständigen Leute". Ein Mode-Philosoph wie der wohlbestallte Professor Sloterdijk darf in der FAZ den Sozialstaat als "institutionalisierte Kleptokratie" bezeichnen, also die Millionen auf Hilfe Angewiesenen als "Diebe" beleidigen, unter deren "Herrschaft" die gute Gesellschaft leidet. Professor Heinsohn von der Universität Bremen erweist sich in FAZ und Welt als wahrer Eugeniker und Sozialrassist, indem er eine angeblich vom Sozialstaat geförderte "Massenkindhaltung" der Unterschicht anprangert, die der Staat nur begrenzen könne durch Minimierung der Kinderzuschüsse und deren völligen Entzug nach einigen Jahren wie in den USA.

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  2. Seit 2002 untersuchen Wissenschaftler in einer Langzeitstudie die Ausmaße, Entwicklungen und Ursachen von Vorurteilen in Deutschland. Aktuell haben die Forscher die Folgen der Wirtschaftskrise unter die Lupe genommen - und dabei eine "deutliche Vereisung des sozialen Klimas", rohe Bürgerlichkeit und einen zunehmenden Klassenkampf von oben beobachtet. Die Feindbilder in einer durchweg wirtschaftlich geprägten Gesellschaft seien Muslime und "wirtschaftlich Nutzlose".

    (...) Zudem sprechen die Wissenschaftler von einer zunehmend "rohen Bürgerlichkeit". Diese Rohheit zeichne sich dadurch aus, dass es infolge von ökonomischen wie gesellschaftlichen Kriseneffekten deutliche Hinweise auf eine "entsicherte wie entkultivierte Bürgerlichkeit" gebe, die auch über "angeblich liberale Tages- und Wochenzeitungen" verbreitet werde. Die neue Formel des Abbaus von sozialstaatlichem Anrecht auf Unterstützung laute: Gnade durch Wohlhabende und Selbstverantwortung der sozial Schwachen.

    Die Forscher betonen, dass der gepflegte Konservatismus abgestreift werde: Zivilisierte, tolerante, differenzierte Einstellungen in höheren Einkommensgruppen scheinen sich in unzivilisierte, intolerante Einstellungen zu wandeln. So nimmt beispielsweise in der höheren Einkommensgruppe (ab 2500 Euro pro Kopf; Haushaltsnettoeinkommen, umgerechnet und gewichtet nach Anzahl der Personen im Haushalt) die Zustimmung zu Etabliertenvorrechten und Islamfeindlichkeit besonders deutlich zu. Da sich die zunehmende Islamfeindlichkeit insbesondere bei höheren Einkommensgruppen zeige, wirke Bildung in diesem Fall nicht entgegen, heißt es in der Studie weiter.

    Auch die Entsolidarisierung der Besserverdienenden fällt bei den Ergebnissen der Studie ins Auge. Wohlhabendere fühlen sich ungerecht behandelt - obwohl es eine Umverteilung von unten nach oben gebe. "Der semantische Klassenkampf von oben wird ungeniert offenbart", schreiben die Wissenschaftler. Zudem werten Höherverdienende Langzeitarbeitslose deutlich mehr ab, als Befragte in niedrigeren Einkommensgruppen dies tun.

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Anmerkung: Zunächst muss wieder einmal daran erinnert werden, dass SPD und Grüne in schönem Einvernehmen mit der Union und der FDP die bewährte und zuvor hart erkämpfte solidarische Arbeitslosenversicherung - die Arbeitslosenhilfe - de facto abgeschafft und durch das perfide Hartz-IV-System ersetzt haben. Die Arbeitslosenhilfe war, ebenso wie das Arbeitslosengeld, an die Höhe des zuvor bezogenen Gehaltes des Betroffenen geknüpft, wodurch eine zumindest rudimentäre Gerechtigkeit gegeben war. Hartz IV steuert in die genau entgegengesetzte Richtung - da geht es nicht um Würde oder Gerechtigkeit, sondern um Entwürdigung, gezielte Verarmung und Schikane.

Lesenswert ist besonders die Studie von Prof. Wilhelm Heitmeyer, über die der tagesschau-Text berichtet. Dort heißt es am Ende: "Die Wissenschaftler betonen, rechtspopulistische Positionen versprächen angebliche Sicherheit in unruhigen Zeiten. Dies nehme mit dem Alter zu und sei in einer alternden Gesellschaft keine beruhigende Prognose für die demokratische Qualität. Für den sozialen Zusammenhalt in einer zunehmend ethnisch-kulturell heterogenen Gesellschaft seien das keine positiven Signale."

In der Tat: All diese Entwicklungen nach rechts und die Ankunft faschistischer und faschistoider Elemente in der so genannten "Mitte" sind sehr bedrohlich - und zwar nicht nur für Muslime und "wirtschaftlich Nutzlose", sondern für uns alle.

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