Dienstag, 26. August 2014

Zementierung eines Klischees: Die zunehmende Verachtung der Armut durch das "Bildungsbürgertum"


Wisst Ihr alle genau, was "das Prekariat" ist - insbesondere in scharfer, genau definierter Abgrenzung zum "Bildungsbürgertum"? Wer diese Frage bejaht, braucht gar nicht weiterzulesen - alle anderen aber sollten sich diesen haarsträubenden Artikel aus der Süddeutschen zu Gemüte führen: "Bildungsbürgertum versus Prekariat". Eine Lehrerin aus der Nähe von Augsburg namens Heidemarie Brosche "ärgert" sich dort über die Verachtung der Armen durch die "Gebildeten" - und klärt uns erst einmal auf:

Aber dann wird mir wieder bewusst: Die Welt der Menschen mit wenig Bildung ist komplett anders als die der Bildungsbürger. Viele der Geschmähten haben einen anderen Verhaltenskodex. Sie treten kaugummischmatzend zur Sprechstunde an, telefonieren während der Schultheater-Aufführung, stellen im Kontakt mit dem Lehrer naiv zu viel Nähe her oder treten ihm vor lauter Unsicherheit gleich bei der ersten Begegnung mit anmaßendem Kraftgebaren entgegen. Sie vernachlässigen ihren Körper, ernähren sich falsch, bewegen sich zu wenig oder betreiben einen absurd anmutenden Körperkult mit Sonnenstudio-Exzessen, der Züchtung von Muskelbergen oder Nail-Design-Events. Ihre Kinder erziehen sie zwischen grenzenlosem Gewähren-Lassen und Vernachlässigung.

Das muss man erst einmal sacken lassen. Eine so umfassende Verunglimpfung und Diffamierung von Millionen von Menschen, eine derartige Anhäufung von dumpfesten Verallgemeinerungen und RTL2-Klischees kann ich mir noch nicht einmal im Fischeinwickelblatt aus dem Hause Springer vorstellen. Die bildungsbürgerliche Heidemarie zieht hier alle Register des Dumpfbackentums und der stumpfsinnigen Verachtung - und das ausgerechnet unter der Prämisse, diese Verachtung anprangern zu wollen. Ein solcher Irrsinn ist mir in unseren Kuhmedien schon lange nicht mehr in solcher widerwärtiger Deutlichkeit ins Gesicht gesprungen.

Das fängt schon im Fundament an: Wie selbstverständlich wird hier der Begriff "Prekariat" bemüht - natürlich ohne zu hinterfragen, wie es denn wohl sein kann, dass es in einem der reichsten Länder der Welt überhaupt so etwas wie Armut - und dann auch gleich millionenfach - geben kann. Das interessiert die Heidemarie offensichtlich nicht und ändern will sie es wohl ebenfalls nicht. Auch treffen wir hier wieder auf die altbekannte Propagandamär der neoliberalen Bande, die seit Jahrzehnten gebetsmühlenartig auf allen Kanälen wiederholt wird, bis auch die letzte hirntote Lehrerin es begriffen hat: "Bildung (= gesittet auftretende Menschen, die wohlhabend, reinlich und ernährungsbewusst sind) versus Prekariat (= asozial agierende Menschen, die arm, dreckig und fett sind)". Allein die Umkehrung der Logikfolge in diesem "gegensätzlichen Begriffspaar" ist schon entlarvend genug: Auf der einen Seite sei es die Bildung, die den Wohlstand und die "guten Sitten" zur Folge habe, auf der anderen sei es wie selbstständlich die Armut, aus der die Unbildung und das "asoziale Verhalten" resultierten. Anders ist die hirnschmelzende Überschrift "Bildungsbürgertum versus Prekariat" kaum logisch zu verstehen.

Daran ist nun bekanntermaßen alles falsch - es gibt selbstverständlich gebildete Menschen, die arm sind, und es gibt ungebildete Menschen, die reich oder sogar sehr reich sind. Genauso gibt es asoziales Verhalten in den Kreisen der Reichen und Superreichen ebenso wie in allen anderen Gesellschaftsschichten - wobei sich die Waagschale des asozialen Verhaltens nach meiner Wahrnehmung doch deutlich zur Seite der Reichen neigt.

Wenn ich ein solches Pamphlet lese, wird mir wieder einmal klar: Die Welt solcher Menschen wie Heidemarie, die sich für gebildet, wohlhabend und wohlgesittet halten, ist eine komplett entrückte, die mit der Realität nichts zu tun hat. Wer das im Text bemühte "haarsträubende Verhalten" sucht, wird genau hier fündig. Ich befürchte, dass diese Lehrerin es nicht einmal bemerkt (und den Vorwurf auch strikt von sich wiese), dass sie mit diesem Artikel exakt das tut, was sie vorgeblich zu kritisieren versucht: Sie zementiert dumpfeste Klischees, zündet reihenweise Nebelkerzen und Propagandabomben und gießt im Vorbeigehen gleich kübelweise Schmutz über die aus den unterschiedlichsten Gründen vom Kapitalismus ausgesonderten, abgehängten und zwangsverarmten Menschen, dass es nur so rauscht.

Heidemarie hat offenbar in der Schule nicht aufgepasst und erklärt die individuellen Erlebnisse aus ihrem kleinen, subjektiven Mikrokosmos, die sie "Erfahrung" nennt, kurzerhand zum allgemeingültigen Fakt. Damit disqualifiziert sie sich unmittelbar selbst und fällt aus der Gruppe des "Bildungsbürgertums" schon per definitionem heraus. Ich schlage vor, für solche Leute einen neuen Begriff einzuführen, nämlich das schlechtbürgerliche Dumpfbackentum oder auch "die Vogelscheuchen". Es ist traurig und (bildungs-)bezeichnend, dass man darunter auf Anhieb gleich halb Deutschland oder mehr einordnen müsste. Und das ist selbstverständlich kein Zufall.

---

Sonntagsausflug der Vogelscheuchen



(Zeichnung von Alfred Kubin [1877-1959], in "Simplicissimus", Heft 21 vom 19.08.1919)

10 Kommentare:

schadensmeldung hat gesagt…

Eine - leider - weit verbreitete Meinung, die gerne angenommen wird, da es weitaus bequemer ist, als sich grundlegenden Fragen zu stellen und diese auch noch beantworten zu müssen. Dazu sollten "intelligente" Menschen wohl befähigt sein.
Ich erinnere mich an die Aussage eines Schülers: " Wir sind Hauptschüler, wir sind dumm ..."
Es ist niederschmetternd, wenn junge Menschen schon frühzeitig (aus) sortiert werden, ohne weitere Chancen ihre Fähigkeiten weiter entwickeln zu können. Oder sollte ich sagen: zu dürfen. Sie dürfen es nicht und werden dazu noch herabgewürdigt.

Ruby hat gesagt…

Dieses asoziale "Bildungsbürgertum" ist leider des Denkens nicht mächtig, denn dazu gehört auch ein Herz. Sie sind stolz darauf, noch nicht zu der Schicht zu gehören, auf die sie täglich herunterschauen. Sie haben Abitur, haben studiert und vielleicht auch den heiß begehrten Doktortitel und sind trotzdem nicht in der Lage, die einfachsten gesellschaftlichen Zusammenhänge zu begreifen. Das fängt schon damit an, dass sie die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus nicht verstehen. Alles nur Zombies, die den medialen Manipulationsschmarrn wiederkäuen.


Auch die Erwerbslosen sind vor diesen Manipulationen nicht gefeit. Viele von ihnen fühlen sich schuldig, weil sie ohne Arbeit sind und weil sie eingeredet bekommen, dass sie auf Kosten der Allgemeinheit leben. Im täglichen Überlebenskampf sind sie den Anfeindungen der sogenannten starken Mittelschicht ausgesetzt. Das geht so weit, dass sie sogar den eigenen Familienmitgliedern gegenüber ständig Rechenschaft abzulegen haben, nach dem Motto - "würdest du dich mehr bewerben, hättest du schon längst einen Job".

Worauf ich eigentlich hinaus will, ist die Tatsache, dass diesen Menschen, die schon am Boden liegen, besonders von Kommentatoren aus linken Blogs zusätzliche Vorwürfe gemacht werden, weil sie sich zu wenig wehren. Manchmal habe ich den Eindruck, dass von ihnen die große Weltrevolution erwartet wird.

Sollte die denn nicht eher von mental starken Menschen mit dem großen Durchblick ausgehen?

jakebaby hat gesagt…

" Die Welt der der Bildungsbürger ist komplett anders, als die der Menschen mit wenig Bildung." ... auch richtig?

Davor kam Heidemarie mit dem Spruch "Manchmal bin ich nahe dran, einzustimmen in diese Empörung." (gegen die Ungebildeten) um danach "Aber dann wird mir wieder bewusst: (plus der darauffolgend widerspruechlichen Klischee Tirade)" zu verblubbern.

Den Quatsch zu zerlegen ist es nicht wert, da das Author nicht die geringste Faehigkeit besitzt, sich unmissverstaendlich oder gar intelligent auszuquetschen.
Dennoch kurz auf Seite 2: Nach dem Baeshn der Gebildeten kommt noch knapp die ebenso empoerungsfaehige (reiche?)Tuersteherstory.
Das Res'uemee daraus ist schlicht und einfachst .... "Wenn Menschen mit hohem Bildungsniveau sich derart ungehörig verhalten, nehme ich ihnen dies übel." ... weil Die ja intelligent&so sind und somit auch anders koennten!!

-- Mit der Lehrerverachtung von unten -" kann ich aber besser umgehen als mit der Verachtung der Gebildeten. Natürlich auch, weil das oft unfreiwillig komisch ist." ... tja Bloeden koennen halt nicht anders!

Nett auch: "Hatte Thilo Sarrazin nicht doch ein bisschen recht?" Ja sicherlich Heidemarie, da darfst du dich auch mit seinem groessten Fanclub aus Hardcorekonservativen, Rechtsradikalen bis Nazisaecken an einen Tisch hocken..

Als Hauptschullehrerin ist sie offensichtlich auch nicht heller denn ihre Schueler, denen sie ihren duennen Lehrstoff nicht zu vermitteln vermag.

Charlie hat gesagt…

Ich weiß gar nicht, was ich dazu noch weiter schreiben soll ... es ist seit Jahren zu beobachten (vgl. z.B. hier: 2010 und hier: 2012), dass eine zunehmende Entsolidarisierung der Noch-Wohlhabenden oder denen, die sich dafür halten, mit den Abgehängten dieses furchtbaren, menschenfeindlichen Systems selbst in unserern Propagandamedien nicht mehr totzuschweigen ist - von politischer Seite ist seitdem aber dennoch stetig weiter Benzin ins Feuer gegossen worden. Daraus lässt sich - wollte man den politischen ProtagonistInnen nicht grenzdebile Hirnfäule bis hin zum totelen Schwachsinn unterstellen - nur ein Fazit ziehen: Dies ist genauso gewollt.

Die hirntote Heidemarie und all ihre Klone, die bestimmt einjede/r von uns im Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreis kennt, sind von den Merkels, Steinmeiers, Göring-Eckarts und den übrigen Splitterparteien der neoliberalen Bande exakt so dumm, wie sie eben sind, gewollt und hochwillkommen.

Mir jedenfalls fällt keine andere sinnvolle Erklärung für diesen offensichtlichen Irrsinn ein.

Liebe Grüße!

Charlie hat gesagt…

@ Ruby: Ich weiß nicht, auf welche Kommentare bzw. KommentatorInnen Du da anspielst - kannst Du das vielleicht etwas deutlicher machen? Vielen Dank!

Ruby hat gesagt…

Hallo Charlie

Mir fällt da sofort Lazarus ein, mit dem ich darüber aber auch schon selbst diskutiert habe. Er ist aber nicht der einzige, der auf die Zielgruppe draufhaut, nach dem Motto - das sind verblödete Schafe, die sich alles gefallen lassen. Würden sie sich wehren, wären die Zustände nicht so schlimm.
Für mich ist das ein Nachtreten auf Menschen, die schon am Boden liegen.

Ruby hat gesagt…

Charlie, so schön wie es Wat bei feynsinn formuliert hat, bringt es für mich genau auf den Punkt. Ich hoffe sie verzeiht mir, dass ich sie hierher kopiere.

Wat. meint:
August 28th, 2014 at 22:32
So lange wir über die s.g. Masse reden und nicht mit ihr gemeinsam, wo immer jeder einzelne von uns gerade ist, wird es lange dauern, bis auch unsere Ansichten gehört werden.
Ob sie es dann werden, wer weiß, aber so könnten sie wenigstens gehört werden ;)

Charlie hat gesagt…

@ Ruby: Danke für die Klarstellung. So sehr ich diese Ansicht, die Du vertrittst, im Grunde gutheiße und auch teile, muss ich aber auch hier klar differenzieren: Denn die riesengroße Gruppe der Menschen, die durch ihr Wahlverhalten, ihre nicht stattfindende Gegenwehr oder sogar ihre erklärte Unterstützung das herrschende System immer wieder neu bekräftigt und damit eine Mitschuld am herrschenden Irrsinn trägt, ist sehr vielschichtig. Zu dieser Gruppe gehören eben auch viele "gebildete" Menschen, die es eigentlich besser wissen müssten bzw. die durchaus die Fähigkeiten besitzen, die Dinge (also die neoliberale Propaganda) zu durchschauen.

Ich halte es für richtig und wichtig, solchen Menschen - wie hier beispielhaft der Autorin des verlinkten SZ-Textes - den Spiegel vor die hässliche Fratze zu halten und sie anzuklagen. Diese Frau könnte durchaus aus ihrem engstirnigen, propagandavernebelten Denkschema herauskommen, wenn sie es denn wollte bzw. überhaupt einmal versuchte. Das allerdings bedeutete, dass sie über kurz oder lang tatsächlich ebenfalls die Systemfrage stellen müsste, und da schreckt sie - eben wie so viele andere - zurück: Es hängen zuviele "liebgewordene" Privilegien daran, die sie (vermutlich unbewusst) bewahren möchte und dafür eben auch Ungleichheit, Unfairness, Abgrenzung und Ausgrenzung betreibt.

Das Thema ist sehr komplex und ich kann und will das hier nicht wirklich tief ausloten - allerdings halte ich eine generelle Amnestie aller (passiven) UnterstützerInnen dieses Systems für ebenso falsch und kontraproduktiv wie die ausnahmslose, allgemeine Verurteilung dieser Menschen als "Dummmichel", wie das Lazarus und andere gerne tun.

Es gibt keine homegene "Masse" - diese besteht vielmehr aus höchst unterschiedlichen Gruppen und Individuen, und es bedarf nach meiner Meinung einer detaillierten Differenzierung, wem zu recht Vorwürfe zu machen sind und wem nicht.

Es gäbe noch so viel mehr dazu zu sagen - aber ich mäßige mich jetzt lieber. ;-)

Liebe Grüße!

Ruby hat gesagt…

Guten Morgen Charlie,

meine volle Zustimmung.

Was wir immer wieder berücksichtigen müssen, ist die ausgeklügelte Medienmanipulation, die halt die meisten nicht durchschauen, aber allmählich werden es mehr. Mit der Propagandaschau im Ukrainekonflikt machen sich die Medien zur Zeit sehr unglaubwürdig. Mein näheres und weiteres Umfeld glaubt ARD und ZDF... kein Wort. Vielleicht schauen sie dann bei anderen Themen mal genauer hin.

Liebe Grüße Ruby

Charlie hat gesagt…

@ darkmoon: Ich fürchte, auch die Lektüre hier brächte der Dame keine weitergehende Erkenntnis - wenn es so einfach wäre, Sozialfaschisten vom Humanismus zu überzeugen, hätten wir längst eine nahezu paradiesische Welt.

Liebe Grüße!