Freitag, 20. Februar 2015

Zunehmende Armut: Und ewig grüßt der Zynismus


Es ist bereits zu einem jährlich wiederkehrenden Ritual geworden, dass die zunehmende Verarmung immer breiterer Bevölkerungsteile in Deutschland vom "Paritätischen Gesamtverband" medienwirksam aufbereitet in die Gazetten und damit unters Volk gebracht wird. So konnte man auch gestern beispielhaft bei n-tv wieder einmal lesen:

12,5 Millionen Deutsche sind arm / Der Paritätische Gesamtverband äußert sich besorgt. Es gebe einen "armutspolitischen Erdrutsch", noch nie sei die Kluft zwischen armen und reichen Ländern so groß gewesen. Dabei macht der Verband gleich mehrere Risikogruppen aus.

Dieser Bericht ist gleich in mehrfacher Hinsicht eine ebensolche Farce wie das zugrundeliegende Thema selbst. Einerseits wird durch die genannte Zahl von 12,5 Millionen Menschen suggeriert, es gebe bundesweit tatsächlich belastbare Zahlen, anhand derer ermittelt werden könne, wieviele Menschen in diesem Land tatsächlich arm sind. Die gibt es schlechterdings nicht - da fallen all jene ebenso durchs Raster, die eigentlich Anspruch auf staatliche Leistungen hätten, ohne diese in Anspruch zu nehmen, wie auch diejenigen, die nur über ein geringes Einkommen verfügen, das minimal oberhalb der willkürlich festgelegten "Armutsgrenze" liegt. Obdachlose bleiben ebenfalls unberücksichtigt, genau wie beispielsweise Studierende, die sich mühsam von einem prekären Semesterjob zum nächsten hangeln, oder auch allein und prekär arbeitende "Selbstständige". Meines Wissens - aber da kann ich mich irren - sind auch sämtliche in Deutschland lebende Flüchtlinge, denen bekanntermaßen noch weniger Geld als Erwerbslosen zugestanden wird, in dieser ominösen Zahl nicht enthalten.

Wie man angesichts dieser Datenlage in Verbindung mit einer absurden "absoluten Armutsgrenze" auf eine solche Zahl kommen und diese auch noch in Relation zu den Zahlen vergangener Jahre bringen kann, bleibt ein unlösbares, geradezu groteskes Rätsel. Die tatsächliche Armut in Deutschland dürfte wesentlich größer als dort berichtet sein.

Davon abgesehen betreiben der "Paritätische" und dessen Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider, die sich gerne als "Vorkämpfer gegen die Armut" gerieren, mir aber schon lange ein böser Dorn im Auge sind, hier ohnehin blanken Zynismus. Zur Lösung dieses gigantischen, unsäglichen und weiter zunehmenden Armutsproblems fordert der Verband nämlich tatsächlich - man lese und staune:

Als Gegenmittel verlangte der Paritätische eine Anhebung des Hartz-IV-Regelsatzes von 399 auf 485 Euro, Mindestsätze auch beim Arbeitslosengeld I sowie Beschäftigungsprogramme für Langzeitarbeitslose und "einen Masterplan für alleinerziehende Frauen".

Beim Barte des Propheten: eine so radikale, geradezu revolutionäre Forderung habe ich nun schon lange nicht mehr gelesen! Da sollen den Zwangsverarmten doch glatt stolze 86 Euro mehr ausgezahlt werden, und das Monat für Monat! Man kann sich gar nicht ausmalen, in welchem schillernden Luxus diese vielen Millionen Menschen plötzlich schwelgen könnten, wenn diese kommunistische Forderung Gehör fände! Ansonsten solle aber bitte alles so bleiben, wie es ist - den Hartz-Terror an sich findet der "Paritätische" offenbar ebenso toll wie "Beschäftigungsprogramme". Die faulen Säcke sollen offenbar ruhig für ihre paar Brotkrumen malochen müssen - auch dann, wenn es sich um sinnlose Arbeit (also "Beschäftigung") oder pure, schamlose Ausbeutung handelt. Der "Paritätische" nimmt selbst ja auch sehr gern die Dienste von Ein-Euro-Sklaven in Anspruch und will auf diese hübschen, kostenlosen und zur Arbeit gezwungenen Fachkräfte sicherlich nicht mehr verzichten. Immerhin verdient der Hauptgeschäftsführer dort, der besagte Herr Dr. Schneider, gewiss recht gut.

Das ist in einem kapitalistisch pervertierten Sinne durchaus "paritätisch" - allerdings darf sich ein solcher Verein bitte nicht "Wohlfahrtsverband" nennen. Eine Bezeichnung wie "Verband zur Sicherung des kapitalistischen Ausbeutersystems" wäre passender und vor allem etwas weniger zynisch.

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Habt Erbarmen mit den Sorgen eines armen alten Mannes



(Lithographie von Théodore Géricault [1791-1824] aus dem Jahr 1821)

8 Kommentare:

MT hat gesagt…

Hallo Charlie, diese inzwischen schon ritualisierten paritätischen Armutsmeldungen und -warnungen wirken wie das Aufsagen von Lottozahlen oder Fußballergebnissen. Ich habe mich auch immer wieder gefragt, welchen Nutzen dieser sog. Verband hat, wenn die andauernd vor irgendwelchen Höchstständen der Armut warnen. Diesem Schneider scheint ja damit schon mal immer ein warmer Platz in einer "politischen" Talk-show sicher zu sein. Zu den Armen wird der auf jeden Fall so schnell nicht gehören. Ist das nur Marketing oder steckt da mehr dahinter? Im Endeffekt weiß doch auch keiner, was die eigentlich den ganzen Tag treiben. Von den Studien und dem Gelaber wird jedenfalls kein Armer satt.

altautonomer hat gesagt…

Es geht auf linkem Ticket auch in Kleinbloggerdorf in Richtung Sozialdemokratisierung von Hartz-4.

Hab mir schon die Finger mit bösen Kommentaren blutig getippt, als ich diese Pamphlete hier las:

Der Protagonist und seine willigen linken Helfershelfer

https://lutzhausstein.wordpress.com/

rebloggt hier mit Kommentaren von Schulterklopfern und Kritikern:
https://klausbaum.wordpress.com/2014/12/28/23049/

Im Grunde nur Aufgewärmtes vom DPWV und da schließt sich der Kreis:
http://www.der-paritaetische.de/uploads/tx_pdforder/Zum_Leben_zu_wenig_2004_02.pdf

schadensmeldung hat gesagt…

Die Caritas bedient sich ebenfalls an dem nichtversiegenden Pool der 1 Euro-Jobber, obwohl sie sich eigentlich dagegen aussprechen sollte, dass Hartz IV-Bezieher dazu gezwungen werden, für einen Euro pro Stunde den Affen zu spielen. Danach werden die – zur angeblichen "Eingliederung" – Gezwungenen weiterhin in die nächste Maßnahme getrieben, die vor allem den Maßnahmeträgern ihren Unterhalt sichert. Ich kenne keinen, der über einen 1 Euro-Job oder über eine lächerliche Maßnahme eine Chance bekommen hätte, aus Hartz IV herauszukommen. Wenn überhaupt, landen sie für kurze Zeit in den Fängen einer Leiharbeiterfirma, die sich über das vorhandene Menschenmaterial eine sehr einträgliche Zukunft sichert.
Wer sollte noch daran profitieren können, gäbe es ein ausreichendes Existenzminimum/Grundeinkommen, ohne Zwänge, ohne Drohungen, und ohne Beschneidung demokratischer Rechte?
Ein Umdenken im gesellschaftlichen Kontex ist doch nicht erwünscht.

altautonomer hat gesagt…

Statt "Sozialdemokratisierung" sollte es "Reform" heißen.

Charlie hat gesagt…

@ MT: Über die Hintergründe kann man leider nur spekulieren - die öffentlich zugängliche Bilanz des "Paritätischen" weist jedenfalls ein "liquides Geldvermögen" von knapp 20 Millionen Euro aus, und man darf sicher sein, dass dieses Geld nicht in Sparstrümpfen in der Verbandszentrale aufbewahrt, sondern "gewinnbringend angelegt" wird.

Die ritualisierte Wiederholung trägt gewiss auch zur weiteren Gewöhnung der hiesigen Bevölkerung an die neoliberale Glaubensideologie der "Ungleichheit als Normalzustand" bei - es ist ja heute schon so, dass solche "Berichte" kaum einen Bürger dieses Landes mehr vom Hocker reißen kann. Es ist eben so - das ist ein ein "Naturgesetz" - und man kann nichts weiter tun als die bösesten Auswüchse zu bekämpfen.

Dass nicht einmal diese lächerliche Bekämpfung tatsächlich stattfindet, sondern nur gebetsmühlenartig und medienwirksam immer wieder und vollkommen konsequenzlos "gefordert" wird, trägt zur allgemeinen Gewöhnung an die Perversion bei.

Das sind aber, wie gesagt, nur Spekulationen.

Liebe Grüße!

Charlie hat gesagt…

@ Altautonomer: Über Lutz Hausstein habe ich mich auch elendig aufgeregt und wollte eigentlich schon damals etwas dazu vom Stapel lassen. Irgendwie ist das in meinem damaligen persönlichen Stress untergegangen. Es ist gut, dass Du daran erinnerst.

Charlie hat gesagt…

@ frei-blog: Beim Thema "Grundeinkommen" muss man vorsichtig sein - ein Konzept wie beispielsweise das eines Superreichen wie Götz Werner ist gewiss nicht dazu geeignet, irgendwelche Probleme zu lösen (siehe dazu beispielsweise Christoph Butterwegge [pdf]).

Zum Thema der Zwangsarbeiter zum Nulltarif, also der Ein-Euro-Sklaven, muss man aus meiner Sicht nichts weiter sagen. Wer sich das ausgedacht hat, ist pervers; wer das anwendet bzw. benutzt, ist ebenso pervers; und wer das zu legitimieren oder gar zu zementieren versucht, ist über die Perversion hinaus bereits auf den Grund der Kloake gesunken.

Selbstverständlich ist ein Umdenken hier nicht erwünscht - allerdings geht das wohl in erster Linie auf die korrupte, kapitalhörige Bande der neoliberalen Politmarionetten zurück, und weniger auf die desinformierte, manipulierte Gesellschaft, die letztlich nur besinnungslos nachplappert, was Medien und Politik ihr ständig vorbeten.

Liebe Grüße!

jakebaby hat gesagt…

"Die tatsächliche Armut in Deutschland dürfte wesentlich größer als dort berichtet sein."

Dürfte, ist wohl vorsichtig zurueckhaltend.
Zu, wie man derlei Statistiken (welche selbst schon uebel genug sind) zurechttrimmt, ein Musterbeispiel '09, als man satte 50% unterschlug. https://www.youtube.com/watch?v=7EOHO2vVg6o
(http://jakester-express.blogspot.com/2009/06/da-kannste-ja-n-fluchblatt-druckn.html)

Wenn ich gerne mal auf diversoffizielle Armuts/etc. Statistiken 10-20% draufschlage, kriege ich ebenso gewohnt gerne eine aufs Dach. Ueber%ual von sogenannten Linken/Sozn, welche mich als unserioesen Proleten in ihre korrekte Tonne treten. Inwieweit ich als Kapitalist(i like and have Money ...;) darueber 'amuesiert oder auch nicht bin, ... Fuck'm

Armutsgrenze betrifft nun mal nicht nur Arbeitslose, sonstig sozial Schwache und/oder Hungernde ... und all deren Kinder ... sondern auch weitlauefig in uebelst bezahlter Vollbeschaeftigung oder auch mehreren Teilzeitjobs ... nur um am Ende des Monats ebenso pleite/arm schlecht ernaehrt und sonstig upgefucked zu sein. ... diese Reichen unter den Armen haben kaum eine Statistik und werden gewohnt gegen die unter ihnen Rangierenden in Stellung gebracht wie auch die knapp ueber ihnen gegen sich selbst. Gefickt eingeschaedelt. ...