Freitag, 13. März 2015

Realitätsflucht (17): Nehrim - Am Rande des Schicksals


In der heutigen Folge meiner Realitätsflucht berichte ich von einem ausgewachsenen Epos. Das Spiel Nehrim - Am Rande des Schicksals ist nämlich eines, das sich gewaschen hat. Eigentlich ist es gar kein eigenständiges Spiel, sondern eine sogenannte "Mod" (Modifikation), die auf dem Titel Oblivion aus der Elder-Scrolls-Reihe basiert. Allerdings haben wir es hier mit einem Sonderfall, nämlich einer "total conversion" zu tun, was wiederum bedeutet, dass Nehrim mit Oblivion nichts weiter gemein hat als die zugrunde liegende Grafik-Engine. Sämtliche Inhalte - sowohl die Geschichte als auch der Ort der Handlung, die Umgebungen und Charaktere - wurden neu geschaffen.

Die Urheber dieses Spieles sind etwa 80 Personen, die es in ihrer Freizeit und bar jeden kommerziellen Interesses in einem Zeitraum von mehreren Jahren geschaffen haben. Das Spiel ist kostenlos - Voraussetzung ist lediglich eine installierte Version des Original-Spieles The Elder Scrolls IV: Oblivion. Die Umsetzung ist durchweg professionell: Über die Grafik, die aus dem Ursprungsspiel bekannt ist, muss ich keine Worte verlieren; die deutschen Dialoge sind vorzüglich und ebenfalls professionell vertont; die Musik steht dem Original in nichts nach und wird sogar durch einen beigesteuerten Song der Mittelalterrockband Schandmaul erweitert. Keiner der beteiligten Sprecher und Musiker ist für diese Tätigkeit finanziell entlohnt worden.

Es folgen eine Menge Spoiler - wer das Spiel also selber noch ausprobieren möchte, sollte es sich beispielsweise hier herunterladen und nicht mehr weiterlesen.

Mit Nehrim wird der Welt der Elder-Scrolls-Reihe schlicht ein weiterer Kontinent hinzugefügt, der sich nahtlos in die bereits erzählte Geschichte der Fantasywelt "Tandriel" einfügt. Es herrscht Krieg im Land: Im Mittelreich regiert der abtrünnige Ordensmagier Baranteol, der die Magie generell verbieten (und für sich selbst vorbehalten) möchte, im Norden, der von seinen Truppen angegriffen wird, ist sein Einfluss schon deutlich spürbar, und im Süden befindet sich eine zunächst abgeschottete Enklave der puren und zerstörerischen Magie, die sich natürlich ebenfalls in verkommenen, falschen Händen befindet. In dieser Situation betritt der Spieler am Beginn des Spiels das Mittelreich und muss sich wie gewohnt auf den Weg machen, das von Krieg, Hab- und Machtgier zerrüttete Land zu retten.

Gleich am Anfang zeigt das Spiel überdeutlich, was es von Oblivion und anderen vergleichbaren Titeln unterscheidet: Nach einem hübschen Intro landet der Spieler in einem finsteren, wirklich großen Höhlenlabyrinth, darf sich durch vorerst leichte Monster schnetzeln und landet schließlich direkt beim ersten mit herkömmlichen Mitteln unbesiegbaren Gegner, den er geschickt austricksen muss, um weiterzukommen. Ich habe diesen Spielstart gefeiert - auch wenn ich bereits zu diesem frühen Zeitpunkt mehrmals gescheitert bin und einen neuen Versuch starten musste, weil ich einfach noch nicht wusste, was das Spiel von mir will.

Das zieht sich im weiteren Verlauf durch die gesamte Geschichte. Der Start nach dem Höhlenlabyrinth ist leider etwas schleppend - man muss sich ohne Quests auf den Weg machen, all die Ruinen, Dörfer, Grüfte und Höhlen in der Umgebung zu entdecken, um die nötige Erfahrung und Stärke zu erlangen, die zur Verfolgung der Hauptquest notwendig sind. Hier findet man auch viele nützliche Gegenstände wie beispielsweise besondere Waffen, Rüstungen oder magische Elemente. Gerade in Bezug auf Waffen und Rüstungen ist Nehrim vorbildlich - ich habe es bislang jedenfalls nicht geschafft, durch eigene Handwerkskunst eine bessere Waffe herzustellen als die, die ich gefunden bzw. besiegten Gegnern abgenommen habe. So soll es sein.

Im weiteren Verlauf wird die Geschichte immer dramatischer - der Spieler muss den seit 1.000 Jahren gefangenen Erretter des Mittelreiches befreien, den fiesen Magierschurken Baranteol in seiner Festung in der Hauptstadt Erothin besiegen und im Südreich gar eine ganze Revolution anzetteln, um endlich den eigentlichen Gegnern - den "Göttern" bzw. "Lichtgeborenen" - entgegenzutreten. Diese schöne Religionskritik bringt der alte Zausel Callisto, dem der Spieler im Rahmen der Hauptquest zeitweise folgen muss, wunderbar auf den Punkt, wenn er bemerkt:

Religion gilt dem gemeinen Mann als wahr, dem Weisen als falsch und dem Herrscher als nützlich - besonders dem, der mit Gewalt regiert.


Ich kenne inzwischen eine ganze Reihe von Computerspielen - aber bei keinem zuvor habe ich mich dabei ertappt, wie ich immer und immer wieder den Satz "Das ist jetzt aber nicht euer Ernst!" völlig entsetzt und dabei lachend oder bibbernd vor mich hin gebrabbelt habe. Die Überraschungen, die in Nehrim auf den Spieler warten, haben es wahrlich in sich - abgefahrene Ideen und Örtlichkeiten haben dort ebenso ihren festen Platz wie furchtbare "Jump-and-run"-Passagen, die mich manchmal zunächst an den Rand der Verzweiflung getrieben haben. Die versammelte Spieleindustrie kann getrost einpacken angesichts dieses Meilensteins.

Nehrim ist ein grandioses Rollenspiel, das Oblivion in Bezug auf die Story, die Fantasie, die Örtlichkeiten, die Waffen und Rüstungen und so viele weitere Details um Längen übertrifft - und gleichzeitig ist es ein entwaffnendes Beispiel dafür, was Menschen, die keinerlei Profitinteresse hegen, zu leisten imstande sind - einfach weil sie Bock darauf haben und es gerne tun.


4 Kommentare:

epikur hat gesagt…

"gleichzeitig ist es ein entwaffnendes Beispiel dafür, was Menschen, die keinerlei Profitinteresse hegen, zu leisten imstande sind - einfach weil sie Bock darauf haben und es gerne tun."

Schönes Spiel. Treffendes Fazit.

Ich behaupte sogar, dass die "Leistungsfähigkeit" (die Motivation sowieso) deutlich höher ist, wenn man etwas aus Leidenschaft und Spass macht und nicht wegen der ökonomischen Zwangsabhängigkeit.

Insofern ärgere ich mich immer wieder, wenn von "professionellen Redakteuren" (also bezahlte Journalisten) gesprochen oder mir geraten wird, ich solle mein Geschreibsel profitträchtig via Buch verkaufen. Nein, verdammt noch mal, mir geht es um die Sache, um die Leidenschaft am Schreiben und nicht um die Kohle.

Charlie hat gesagt…

@ epikur: Du sprichst mir aus der Seele, danke für diesen Kommentar.

Anonym hat gesagt…

Dieses spannennde Spiel werd ich wohl mal antesten. Vielen Dank dafür!

Charlie hat gesagt…

Nachtrag: Inzwischen habe ich sowohl die "Götter", als auch das "Schicksal" besiegt, bin als strahlender Held (sogar mit einem eigenen Denkmal vor meiner eigenen Burg) in die Geschichte des endlich vom religiösen Wahn befreiten Nehrims eingegangen, der theatralische Nachspann samt Credits lief bereits ... und trotzdem geht das Spiel weiter und diese vollkommen irren Spieleentwickler haben mich auf eine weitere Mission geschickt, in deren Verlauf ich nun meine "wahre Prüfung" absolvieren soll. Diese Leute sind vollkommen verrückt. Allein deshalb muss ich ihnen stundenlang die Füße küssen. :-)