Mittwoch, 17. Juni 2015

Angst vorm Kapitalismus


Der Rechtsanwalt und Blogger Thomas Stadler hat vor einer Woche einen Text über die "Angstgesellschaft" veröffentlicht, der eindrucksvoll illustriert, wie das konsequent einseitige Betrachten nur einer Medaillenseite zu geradezu abstrusen Ergebnissen führt. Stadler schreibt:

Wir leben in einer Angstgesellschaft. Obwohl die Menschen noch nie in der Geschichte derart sicher und in relativem Wohlstand leben konnten, wie in unserem Land und der gesamten sog. westlichen Welt, haben sie, wie selten zuvor, Angst vor allen möglichen Dingen.

Hier analysiert Stadler den irrsinnigen Zustand der "westlichen Gesellschaften" einigermaßen genau und weist später im Text sogar auf die klar ersichtlichen Ursachen, nämlich ständig wiederholte politisch-mediale Lügen und Propaganda, hin. An dieser Stelle unterbricht der Autor seine Analyse allerdings abrupt - er stellt die sich nun aufdrängenden Fragen nach den Gründen für diese staatlich-medialen Lügen und Propaganda nicht und versäumt es daher, auch an diesem Beispiel die uralte Strategie des gesteuerten Kanalisierens von allzu berechtigtem Widerspruch zu erkennen.

Es gibt in der Tat mehr als genug Gründe für die Bevölkerung des ach-so-sicheren Westens, pure Angst zu empfinden - einige davon nennt Stadler sogar, ohne sie jedoch als solche zu erkennen bzw. zu benennen. Existenzangst ist in den "sicheren und wohlhabenden" Gesellschaften des kapitalistischen Westens längst wieder eine feste Größe, die nicht versehentlich, sondern systembedingt und gewollt in zunehmendem Maße verwurzelt wird. Es ist daher nur logisch, dass die neoliberale Bande der Stiefellecker und Steigbügelhalter des Kapitals einmal mehr - und das auch diesmal äußerst erfolgreich - versucht, diese Ängste zu instrumentalisieren und umzuleiten. Nur wenige Beispiele dazu:

  1. Die berechtigte Angst vor Verarmung und sozialem Absturz → Erfolgreich umgeleitet vom grotesken Superreichtum einiger Weniger auf "die Griechen", Arbeitslose, Flüchtlinge, Kranke etc.
  2. Die berechtigte Angst vor der totalen staatlichen Überwachung → Erfolgreich umgeleitet auf eine diffuse, durch unzählige haltlose Beispiele genährte Angst vor Terrorismus und Kriminalität, insbesondere der "Kinderschändung".
  3. Die berechtigte Angst vor einem eskalierenden Krieg → Erfolgreich umgeleitet auf den "bösen Russen", diverse "lokale" Kriegseinsätze, die dabei munter durch den Westen selbst "befeuert", initiiert und exekutiert werden (Ukraine, Mali, naher Osten etc.) und dabei nicht selten das schamlose Lügenetikett eines "humanitären Hilfseinsatzes" oder ähnlichen Schwachsinn verpasst bekommen.
  4. Die berechtigte Angst vor minderwertigen und teils giftigen Lebensmitteln aus industrieller Produktion → Erfolgreich umgeleitet auf angebliche "Einzelfälle" bei gleichzeitiger Ausklammerung der systemischen Immanenz durch Profit- und Wachstumszwang; parallel dazu die Installation eines angeblich besseren "Bio-Marktes", der wiederum den noch Besserverdienenden vorbehalten bleibt. Der Irrsinn kennt keine Grenzen in diesem System.

Diese Liste ließe sich noch lange fortführen - Beispiele für diese immer gleiche Strategie gibt es in unserer grotesken Welt der Herrschaft des Kapitals wahrlich mehr als genug. Die vielen Ängste, die ihren Ursprung stets im furchtbaren kapitalistischen System haben, werden heute ebenso wie vor 80 Jahren von den wirklichen Zielen und Verantwortlichen in absonderliche Bahnen abgelenkt, die für die selbsternannte "Elite" nicht nur ungefährlich, sondern nicht selten sogar äußerst gewinnbringend sind - und das perverse System nebenbei dauerhaft zementieren.

Die "Angstgesellschaft", wie Thomas Stadler sie skizziert, ist nichts weiter als ein großer Popanz, der den windigen, bröckelnden Kulissen eines abgehalfterten Theaters gleicht, in dem korrupte kapitalistische Mafiabanden die grandiosen Segnungen ihrer faschistoiden Ideologie unters narkotisierte Volk bringen wollen. Wenn diese Kulissen einstürzen - was sie zwangsweise immer wieder tun -, werden dahinter die hässlichen Fratzen der habgierigen, superreichen Asozialen und ihr willfähriger, korrupter Hofstaat sichtbar, die in ihrer brutalen Menschenfeindlichkeit ihren widerlichen Ahnen in nichts nachstehen.

Ich jedenfalls habe große Angst vor diesem faschistoiden Phönix.

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Die nichts zu verlieren haben



(Gemälde von Pawel Nikolajewitsch Filonow [1883-1941] aus dem Jahr 1912, Öl auf Papier, The Russian Museum, St. Petersburg)

1 Kommentar:

altautonomer hat gesagt…

Die böse Schester der Angst ist aber die kognitive Dissonanz. Viele Menschen wissen viel über den bereits eingetretenen Klimawandel und die Unumkehrbarkeit der CO2-Belastung der Atmosphäre für die nächsten 120 Jahre. Sie wissen genau so viel über das Ende der fossilen Brennstoffe, an erster Stelle das Erdöl, bei dem der Peak bezüglich des Verhältnisses zwischen Förderaufwand und Ertrag in einigen Regionen der Erde bereits ungleich überschritten ist. Trotzdem erlebe ich meine Umwelt in diesen Punkten völlig gelassen, weil vermutlich die Koordinaten Raum und Zeit für persönliche Erfahrungen mit diesen Problemen noch zu weit weg sind.

Umso irrational größer ist die Angst vor Krankheit, Siechtum (die berechtigte Angst, ein kostenintensiver "Pflegefall" zu werden) und Tod. Nahrungsergänzungsmittel, Gesundheitsratgeber, Diätpläne, Ernährungsdiktate, Fitnesswahn und Boni für Vorsorgeuntersuchungen zur Früherkennung von Tumoren sprechen da Bände.

Je vielfältiger die Ängste, umso mehr boomt die Versicherungsbranche (private Rentenversicherung).