Montag, 27. Juni 2016

Das Märchen von der Rückkehr der Prüderie


Vor einigen Tagen bin ich auf meiner Flucht vor dem wild um sich greifenden Fußball-Stumpfsinn bei n-tv auf ein hübsches Kleinod gestoßen, das ich zuerst für einen brachialen Aprilscherz und sodann für einen Bericht aus irgendeiner Hochburg der IS- oder US-Terror-Miliz gehalten habe. Dort ist nämlich zu lesen:

"Im Interesse gesunder Entwicklung" / Kinder klagen gegen "Safer Sex"-Kampagne

Es ist gewiss nichts Neues, dass sich die muffige Prüderie auch im "freiheitlichen Westen" seit geraumer Zeit ihren Weg zurück in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts bombt; aber dass inzwischen schon "Vier- bis Siebzehnjährige" bzw. deren Eltern mitten in Europa gegen vermeintliche "staatliche Sexvideos" klagen, die lediglich vor Geschlechtskrankheiten warnen, schraubt die Eskalation der Absurditäten auf eine neue Stufe. Lest euch den kurzen Text ruhig in Gänze durch und zählt dabei mit, wie oft ihr euch an die Stirn fasst oder selbige an die Wand knallt. Da ist allen Ernstes von "promiskuitive[m] Verhalten, welches eine der Hauptursachen für kaputte Familienbeziehungen und sexuell übertragbare Krankheiten" sei, die Rede. Laut der die KlägerInnen unterstützenden christlichen [sic!] Stiftung Zukunft Schweiz gibt es ergo nur ein probates Mittel gegen Geschlechtskrankheiten und "Promiskuität" - nämlich die völlige Enthaltsamkeit.

Demnächst können wir sicherlich die ersten Reklameanzeigen lesen, die das moderne Pendant zum mittelalterlichen Keuschheitsgürtel anpreisen: Ein "Wearable" beispielsweise, das besorgte Eltern ohne Zeitverzögerung darüber informiert, ob der pubertierende Nachwuchs gerade masturbiert oder - der Teufel muss schuld sein an diesem Höllenpfuhl - gar sexuelle Erfahrungen mit einem anderen Menschen macht.

Selbstverständlich ist auch diese absurde Entwicklung, wie alles in Kapitalistan, höchst bigott. Parallel zur zunehmenden vordergründigen Prüderie findet seit langem und für alle sichtbar eine völlige Enthemmung und Sexualisierung des gesamten Lebens statt - nicht nur in der Reklamepest oder der "Schattenwelt" der Pornografie. Dabei ist es völlig egal, ob es sich beispielsweise um hochchristliche SoldatInnen aus den prüden USA handelt, die in geheimen Folterlagern sexualisierte, sadistische Praktiken an illegal Inhaftierten durchführen und diese Untaten auch noch fotografieren, oder um islamistische "Kämpfer", die "feindliche" Frauen und Männer vergewaltigen und sogar in Zwangsbordelle für die "Kameraden" verfrachten. Die hochchristlichen Sekten, deren Mitglieder ihren Kindern regelmäßig mit Ruten und Stöcken den nackten Arsch und damit auch die Seele malträtieren, gehören ebenso dazu wie die nicht-christlichen Gurus, die ihre Schäfchen in schöner Regelmäßigkeit aufs Übelste sexuell ausbeuten.

Die vorgeblich wachsende Prüderie im Spätkapitalismus ist - wie in diesem untergehenden System üblich - nichts anderes als ein aufgebauschtes Feigenblatt für die Medienöffentlichkeit, das von interessierten, oft religiotischen Kreisen genutzt wird, um die tatsächlich fortschreitende Pervertierung alles Sexuellen zu vertuschen. Es ist kein Zufall, dass gerade aus den Reihen derjenigen, die am lautesten nach sexueller Enthaltsamkeit brüllen, immer wieder die schlimmsten Sexualstraftaten bekannt werden - und damit meine ich gewiss nicht bloß katholische Priester und Nonnen oder islamistische Fanatiker.

Die abgrundtiefe Verlogenheit in Bezug auf Sexualität, Prüderie und Freizügigkeit ist Legion auf diesem Planeten.

---

Entgötterte Welt


"Amor ist tot. Es lebe das Schwein!"

(Zeichnung von Karl Arnold [1883-1953], in "Simplicissimus", Heft 1 vom 01.04.1921)

3 Kommentare:

epikur hat gesagt…

Oversexed und underfucked. Das trifft den Zeitgeist meines Erachtens heute ganz gut.

Vergessen und unterschlagen wird in solchen News-Meldungen gerne mal, dass die Sexindustrie ein Multi-Milliarden-Geschäft ist. Da läuft es letzlich wie in allen anderen Business-Bereichen ab. Und wo es Millionen zu holen und zu machen gibt, war die Moral noch nie dabei.

Charlie hat gesagt…

@ Epikur: Obwohl es mir um "Moral" in diesem Text gar nicht geht, hast Du recht mit Deinem Hinweis, dass ich den monetären Aspekt vernachlässigt habe. Danke für die notwendige Ergänzung.

Mordred hat gesagt…

safer sex zu thematisieren ist doch zunächst ein anliegen, dass alle eltern irgendwann zwangsläufig haben? wenn denen dieses video, was sie dabei unterstützen soll, nicht passt, sollen sie doch bitte selber eins drehen.
aber das zu verbieten ist in anbetracht von youporn&co. völlig weltfremd.