Das Land ist voll von ihnen. In den Städten bemerkt man sie auf Schritt und Tritt. Sie stehen ihr Leben lang stets zur selben Zeit auf, waschen sich ein bisschen und hetzen, mit einem Stück Brot oder einer Zigarette im Mund, davon. Nur wenn sie die Stellen wechseln, fahren sie mit anderen Straßenbahnen. Samstags und sonntags trinken sie mehr als sonst, essen auch besser, schlafen öfter und trauen sich, im Bett von Pornofilmen zu träumen. Die Älteren erzählen vom Krieg, kennen Paris genau, Moskau aus der Ferne, Stalingrad vom schlechten Hörensagen. Die wirklichen Terroristen spielen in der Vesperpause Hinrichtung. Opfer finden sich in jeder Zeitung. Zur Kantine hat die Dritte Welt keinen Zutritt. Sie schwitzen und sterben. Frauen und Kinder müssen ihre Sympathisanten sein. Diese Terroristen sind um ein Vielfaches grausamer als die Kapitalisten. Sie heben in WD die ganze Welt aus den Angeln. Sie mähen und stanzen, säbeln nieder, sie eggen und schleifen, ernten Rüben, rollen wie Mastmurmeln durch die Straßen, und ihre Gedanken wohnen in Schaufenstern. An Polizisten können sie lediglich den Tempopeiler nicht leiden. Ihre Söhne schicken sie bereitwillig aus den Mietskasernen in die Bundeswehrkasernen, ihre Töchter am liebsten ebenfalls. In Scharen strömen sie ziellos umher und lechzen nach Mord und Totschlag, nach Vergewaltigungen, Räuberpistolen und blutroten Anschlägen. Der harte Kern ist gut gepolstert; und sie, das Fruchtfleisch, verehren ihn als Ernährer. Sie wollen, dass alle dran glauben müssen.
(Ludwig Fels [* 1946]: "Mein Land." Erzählungen, 1978)
Anmerkung: Ich habe selten eine trefflichere Beschreibung des deutschen Spießbürgers in seiner hässlichsten Form, wie er auch heute wieder in Massen anzutreffen ist, gelesen. Ich möchte die Aufmerksamkeit gerne auf den zentralen Satz lenken: "Diese Terroristen sind um ein Vielfaches grausamer als die Kapitalisten", lesen wir dort - und genau das ist der Punkt, der mich am allermeisten bewegt: Denn obwohl diese Durchschnittsspießer vom Kapitalismus in keiner Weise profitieren, sondern lediglich ein kleines, vergleichsweise lächerliches Almosen (und auch dieses nur mit der ständigen Bedrohung des jederzeit möglichen Widerrufs) erhalten, verteidigen und propagieren sie dieses perverse System bis an die Zähne bewaffnet bis aufs Blut. Wie ist ein solches Paradebeispiel der altbekannten kognitiven Dissonanz überhaupt massenhaft möglich?
Wie krank müssen Menschen sein, die in diesem System nicht nur mitmachen, weil sie eben irgendwie überleben wollen - sondern es auch noch vehement verteidigen und alle Bestrebungen, es zu ändern, schärfstens verurteilen und bekämpfen?
Mir ist schon klar, dass Film, Fernsehen und ein gewisser Bereich der Computerspiele dabei eine erhebliche Rolle spielen, die uns rund um die Uhr mit Kriminalität, Mord, Totschlag, Krieg und Gewalt versorgen und so den Eindruck erwecken, die Welt "sei nun einmal so". Als Erklärung reicht das aber nicht.
Wer oder was hat den Menschen, der ursprünglich ja durchaus ein gewisses Potenzial besaß, in diese abgrundtiefe Degeneration getrieben, die noch weit unterhalb des Mikrobenniveaus liegt?
Die vollkommen irrsinnigen Psychopathen, die Ludwig Fels in seinem Text beschreibt, sind auch heute in überwältigender Anzahl unsere Nachbarn, Kollegen und nächsten Angehörigen. Die Dummheit und die Ahnungslosigkeit feiern einen Triumph nach dem anderen. Eigentlich kann es nicht mehr allzulange dauern, bis die Natur diesem erbärmlichen Schauspiel ein natürliches Ende setzt. Womit dem Wunsch der Verrückten - "dass alle dran glauben müssen" - Genüge getan wäre.
Vielleicht ist das gar nicht der schlechteste Weg.
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Zukunftsbild
"Die letzten Menschen haben einander umgebracht. Jetzt heißt es, wieder von vorn anfangen."
(Zeichnung von Erich Schilling [1885-1945], in "Simplicissimus", Heft 23 vom 06.09.1922)
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