Montag, 14. Oktober 2013

Zitat des Tages: Der Steuermann


"Bin ich nicht Steuermann?" rief ich. "Du?" fragte ein dunkler hoch gewachsener Mann und strich sich mit der Hand über die Augen, als verscheuche er einen Traum. Ich war am Steuer gestanden in der dunklen Nacht, die schwachbrennende Laterne über meinem Kopf, und nun war dieser Mann gekommen und wollte mich beiseite schieben. Und da ich nicht wich, setzte er mir den Fuß auf die Brust und trat mich langsam nieder, während ich noch immer an den Stäben des Steuerrades hing und beim Niederfallen es ganz herumriss. Da aber fasste es der Mann, brachte es in Ordnung, mich aber stieß er weg. Doch ich besann mich bald, lief zu der Luke, die in den Mannschaftsraum führte und rief: "Mannschaft! Kameraden! Kommt schnell! Ein Fremder hat mich vom Steuer vertrieben!" Langsam kamen sie, stiegen auf aus der Schiffstreppe, schwankende müde mächtige Gestalten. "Bin ich der Steuermann?" fragte ich. Sie nickten, aber Blicke hatten sie nur für den Fremden, im Halbkreis standen sie um ihn herum, und als er befehlend sagte: "Stört mich nicht", sammelten sie sich, nickten mir zu und zogen wieder die Schiffstreppe hinab. Was ist das für Volk! Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?

(Franz Kafka [1883-1924]: "Nachgelassene Erzählungen"; geschrieben ca. 1920, publiziert erstmals posthum 1946)

Anmerkung: Es ist schon extrem frustrierend feststellen zu müssen, dass sich am Zustand des "sinnlos über die Erde schlurfenden Volkes" in den vergangenen 100 Jahren offenbar nahezu nichts verändert hat. Dieser Text könnte auch heute als brandaktueller Kommentar zu unserer Zeit in irgendwelchen Tagebüchern stehen - und auch heute würde er nicht das Geringste am diagnostizierten Stumpfsinn der Mehrheit verändern.

Ein deutlicher Unterschied zwischen damals und heute besteht wohl in der schnöden Tatsache, dass die Indoktrination der Menschen durch die veröffentlichten Medien vor ca. 100 Jahren noch lange nicht die Intensität und den Umfang erreicht hatte, wie das heute der Fall ist. Trotzdem feierte der Stumpfsinn damals einen Triumph nach dem anderen, bis hin zum vollkommenen Irrsinn, hinein in den totalen Weltkrieg und finstersten Faschismus - und wir dürfen gespannt sein, wie eine noch viel umfassendere, gesteuerte, geplante und nahezu allumfassende Indoktrination heute wohl auf die Menschen einwirken mag. Die Prognosen müssen zwangsläufig finster ausfallen - und die Ereignisse der letzten Monate und Jahre belegen das auch eindrucksvoll.

Heute würde ein feingeistiger Mensch wie Kafka den Schluss seines Textes wohl nicht mehr als Frage formulieren, sondern ihn mit dicken Ausrufezeichen versehen: "Sie denken - ganz gewiss - nicht, sondern schlurfen nur sinnlos über die Erde!!"

Aber auch diese Eskalation des dokumentierten Stumpfsinns hätte keine Wirkung.

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Parlamentarismus


"Die Stimme seines Herrn."

(Zeichnung von Thomas Theodor Heine [1867-1948], in "Simplicissimus", Heft 37 vom 13.12.1922)

3 Kommentare:

Sledgehammer hat gesagt…

Wäre Franz Kafka bereits die Kybernetik begrifflich gewesen, hätte er seinen neuen kybernetes möglicherweise mit Norbert Wiener in Verbindung gebracht.
In dessen 1948 erschienenen Buch legt jener erstmals dar, dass es die selben grundlegenden Prinzipien von "Communication" (Informationsaufnahme, -verarbeitung und -weitergabe) und "Feedback Control" (Regelung und Kontrolle) sind, die zum "Funktionieren" von techn. Systemen (machine) und Lebewesen (animal) beitragen bzw. führen.

Charlie hat gesagt…

@ Sledgehammer: Das klingt ja hochinteressant - allerdings stehe ich auf dem Schlauch und kann nicht erkennen, was Du den LeserInnen / Herrn Kafka / mir damit sagen willst. ;-)

Liebe Grüße!

Sledgehammer hat gesagt…

Norbert Wiener hat die Mechanismen (Prinzipien) offengelegt, nach denen das "sinnlos" dahinschlurfende Volk über die Erde navigiert werden kann bzw. wird.
Der Fremde steht für den neuen kybernetes (Steuermann), der sich dieser Erkenntnisse in seinem Sinne und Nutzen bedient.