Mittwoch, 19. Februar 2014

Die Litanei vom "bösen" und "guten" Kapitalismus, oder: Der Brüllwitz vom "ehrlichen Kaufmannsdenken"


(...) Es zeigt sich also bei der Betrachtung der wesentlichen Paradigmen des globalisierten Kapitalismus, dass sie in der Realität nachhaltig kontraproduktiv wirken, weil sie die sozialen und die biologisch-physikalischen Bedingungen menschlicher Existenz nicht abbilden, sondern sie als beliebig manipulierbare Faktoren ansehen. (...) / Wir brauchen also eine Technik, die nicht der Vermehrung von Geld und einem verrückten Wachstumswahn dient, sondern sozialen und ökologischen Zielen. Eine Technik, die wieder dem altmodischen, ehrlichen Kaufmannsdenken statt wirtschaftskriminellen Bestrebungen verpflichtet ist.

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Anmerkung: Dieser Artikel des langjährigen Dozenten der TU Berlin, Dr. Wolfgang Neef, ist ein beredtes Beispiel für die äußerst engen Grenzen, die selbst im wissenschaftlichen (nicht-philosophischen) Diskurs zum Thema Kapitalismus vorherrschen: Das System des Kapitalismus an sich wird nicht einmal experimentell in Frage gestellt, sondern gar zum vergangenenen "Heilsbringer" glorifiziert, ohne den wir alle noch auf Bäumen hausten. Gleichzeitig wird eine äußerst absurd anmutende Unterscheidung in einen "früheren [= "guten"] Kapitalismus", für den der Autor die hirnzerfetzende Beschreibung des "altmodischen, ehrlichen Kaufmannsdenkens" bemüht, und einen "globalisierten [= "bösen"] Kapitalismus", der schwerst kriminell und vom reinen Profitdenken gelenkt sei, vorgenommen.

Ganz abgesehen davon, dass jegliche Belege für diese abstruse Unterscheidung in einen "guten" und einen "bösen" Kapitalismus im Text selbstverständlich fehlen und ein der Vergangenheit angehörendes "ehrliches Kaufmannsdenken" eher zum hysterischen Prusten und Abwinken als zu einer ernsthaften Auseinandersetzung reizt, ist dieser Artikel ein flammendes Fanal dafür, dass die neoliberale Bande auf ganzer Linie gesiegt hat: Selbst vermeintlich kritische, gar "linke" Geister kommen gar nicht mehr auf die Idee, das System an sich in Frage zu stellen, sondern suchen die dringend notwendigen Lösungen wie von Sinnen ausschließlich innerhalb des Systems. Das ist eine intellektuelle Bankrotterklärung, wie sie umfassender eigentlich nicht mehr ausfallen kann.

Da lesen wir zunächst eine ziemlich gute, größtenteils den Tatsachen entsprechende und deshalb vernichtende Analyse des Ist-Zustandes unserer heutigen, einmal mehr dem Untergang geweihten kapitalistischen Welt, um im Fazit dann mit diesem völlig absurden Resümee konfrontiert zu werden - so wie ein Patient, der von einem Arzt eine akute, bedrohliche Vergiftung diagnostiziert und als "Behandlung" einen Zeitsprung in die Vergangenheit verordnet bekommt, wo das Gift zwar erneut eingenommen, danach aber einfach die Zeit angehalten werden soll - so bliebe die schädliche, verheerende Wirkung ja schließlich aus.

Ich frage mich seit längerem, ob Menschen, die solche Texte schreiben, die kapitalistische Einmauerung ihrer Gedankenwelt überhaupt noch wahrnehmen - oder ob sie gar nicht mehr bemerken, dass sie sich gedanklich in einem fein säuberlich abgezäunten Kleinstgarten bewegen, der tatsächlich innerhalb eines unermesslichen Wald- und Naturgebietes liegt, das frei von jeglichen Begrenzungen ist.

Der Begriff des "altmodischen, ehrlichen Kaufmannsdenkens" hat aber durchaus das Potenzial, zur surrealen Brüllnummer des Jahres zu werden - sofern einem das Brüllen angesichts der katastrophalen Auswirkungen der zunehmenden kapitalistischen Zerstörungen nur nicht im Halse stecken bliebe.

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Das Schwierigste
[oder: "Ein Beispiel für ehrliches Kaufmannsdenken vor 100 Jahren"]


"Hm ja, soweit sehr schön: Ein achtel Pfund vier Mark. Aber wie nennt man's? Getrocknete Nordsee-Krabben, gemischtes Dörrgemüse oder Kaninchenragout?"

(Zeichnung von Rudolf Grieß [1863-1949], in "Simplicissimus", Heft 11 vom 11.06.1918)

5 Kommentare:

Verfasser hat gesagt…

Klar, mit dem konkreten Beispiel hast du recht. Ich glaube aber immer mehr, dass es zu viele Analysen und zu wenig Handeln gibt. Einige gute sind aber schon dabei, auch halbwegs aktuell. Mal zwei Zitate:
"Jedes Zehntel an Wachstumsraten wird unter Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte herbeigezwungen und politisch gefeiert nicht um der Deckung eines konkreten materiellen Bedarfs willen, sondern als Selbstzweck bzw. zur Schaffung von Arbeit. Aus der Perspektive jeder anderen Gesellschaftsformation muss ein solcher Zustand unvermeidlich als Perversion bzw. als Ausdruck genuin pathologischer Pleonexie erscheinen."
Und:
"Selbst wenn er [der Kapitalismus] reibungslos funktioniert, führt er mit logischer Notwendigkeit in ein uferloses Steigerungsspiel, das selbst die Profiteure und Gewinner nur unglücklich machen kann, weil es all ihre individuellen und kollektiven Energien einem einizgen, blinden Telos unterwirft: dem Kampf um die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit."
Beides aus "Soziologie, Kapitalismus, Kritik" von Rosa (Zitate oben, S.103 bzw. 125), Lessenich und Dörre, suhrkamp 2009. Wer also Analysen lesen mag, diese lohnen sich :-)

Charlie hat gesagt…

@ Verfasser: Danke für die beiden Textauszüge. Ich wollte mit meiner Anmerkung aber keinswegs behaupten, dass es gar keine guten, empfehlenswerten Analysen gebe - die findet man aber tatsächlich meist in Büchern oder in einigen wenigen Blogs. In den Propagandamedien sucht man so etwas vergeblich, und sogar in alternativen Medien - wie die gewerkschaftsnahe "Gegenblende" ja eines ist - herrscht zumeist eine Systemgläubigkeit vor, die schier fassungslos macht.

Wenn die vorhandenen und durchaus guten Analysen keinerlei Wirkung entfalten bzw. schlicht gar nicht zur Kenntnis genommen werden (weder in der Bevölkerung, noch in der Politik oder den Medien, noch in weiten Teilen der Wissenschaft), sind sie nutzlos - das muss man leider so resignativ formulieren. Ich plage mich schon lange mit der Frage herum, wie solches Wissen weitertransportiert werden könnte, damit es dort, wo es so dringend gebraucht wird, endlich auch ankommt - das war seinerzeit einer der Gründe, weshalb ich mit diesem Blog begonnen habe.

Die "Gegenblende" beispielsweise lesen sicherlich auch nicht Millionen von Menschen - aber immerhin doch recht viele, darunter sicher viele Linke und gedanklich "Offene". Deswegen ist es ja so fatal, wenn dort ein solcher Unfug wie der oben verlinkte Text veröffentlicht wird, während tatsächlich relevante Erkenntnisse hinter den Buchdeckeln vor sich hin gammeln. Die Schnittstelle zwischen den Wissenschaften (in diesem Falle der Soziologie) und den lesbaren Rezeptionen der Ergebnisse für eine breitere Masse durch Journalisten und andere Autoren funktioniert hier überhaupt nicht (mehr). Ich halte das für keinen Zufall.

Liebe Grüße und nochmals vielen Dank für die knackigen Zitate!

Verfasser hat gesagt…

Eigentlich hätten Blogs ja das Potential, den Buchdeckeln Konkurrenz zu machen. Und wie du sagtest, einige tun das auch. Die Wirkung bleibt allerdings aus, meistens. Ich würde bestimmten einfachen Erklärungen, Brot und Spiele, Teile und Herrsche, Reicher Mann und armer Mann etc. schon gewisse Gültigkeit zugestehen.
Zum Thema Gewerkschaften sag ich lieber nix...sie sind nicht Lösung, sondern Teil des Systems bzw. Problems. Klar gab (und gibt?) es da ab und an vernünftige Ideen und Köpfe, aber es geht auch ihnen um Arbeit. Jetzt hab ich doch was gesagt, damn.
Über die "Leitmedien" brauchen wir hier glaube ich auch nicht weiter reden, da dürften wir uns einig sein.
Ich bin aber weitgehend desillusioniert: Das Wissen, von dem du sagst, es liege nutzlos rum, ist ja immerhin da. Und nicht wenige beschäftigen sich damit, aber klar, die sind isoliert in ihren Elfenbeintürmen, die längst aus morschem Holz gebaut sind. Bekommen das Leistungs- und Konkurrenzdenken in allen Bildunseinrichtungen von Kindesbeinen an eingetrichtert. Wo soll man da ansetzen? Da nehm ich lieber noch einen krätigen Drink auf dem Balkon des Grandhotel Abgrund und schau der Sonne und der (Menschheit auf der) Erde beim Untergang zu. Auf dass die kommende Tintenfisch-Zivilisation das besser hinbekommt...

Charlie hat gesagt…

@ Verfasser: Ehrlich gesagt: Es macht mich nahezu sprachlos, einem noch fatalistischeren Menschen zu begegnen, als ich es selber bin. Eigentlich war mein Anspruch ja, hier den Untergangsclown zu geben, um den Widerspruch des Publikums herauszufordern und so zu einer aktiveren Auseinandersetzung der noch verbliebenen kritischen Geister mit den bestehenden perversen Strukturen minimal beizutragen ...

Aber wie auch immer: Ich gebe zu, dass auch ich längst jede Hoffnung habe fahren lassen und mich in meinem kleinen Refugium darauf eingerichtet habe, dass Faschismus, Kriege und grenzenlose Habgier einmal mehr die kleine Blase zerstören, die nach dem letzten großen Krieg - wieder auf Kosten der Allgemeinheit und natürlich zu Lasten der überwältigenden Mehrheit - entstanden ist. Selbst in diesem kleinen, regionalen Rahmen ist der Kapitalismus natürlich nicht in der Lage, für dauerhaften Wohlstand einer kleiner Minderheit zu sorgen. Wer das System durchschaut, wundert sich darüber allerdings nicht.

Vielleicht treffen wir uns im Grandhotel "Abgrund" ja noch einmal, um gemeinsam mit Jean-Luc Picard oder anderen weisen Personen einen kurzen Plausch über die Möglichkeiten zu halten, die diese Menschheit hatte, bevor sie logischerweise ausstirbt und den Platz für einen neuen evolutionären Versuch frei macht.

Liebe Grüße!

Verfasser hat gesagt…

(Let's) Make it so. Und danke für die Blogroll, hab ich grad erst entdeckt.
Ob es wirklicher Fatalismus ist, ist eine andere Frage. Die sich auch hervorragend diskutieren lassen würde - und schon allein das macht die ganze Sache schon wieder wertvoll. Kurz: Ich sehe mich eher nüchtern im Sinne Gramscis, obwohl es mit dem Optimismus des Willens schon ab und zu hapert. Mit dem Pessimismus des Verstandes allerdings so gut wie nie.