Wer schläft heut nacht in meinem Kinderzimmer?
Ich bin ein alter Mann.
Wie lang die Zeit, die mir so kurz verrann!
Einst ist für immer.
Doch was war einst? War es auch wirklich wahr?
Gab's jenen Duft?
Greif ich mich etwa selber aus der Luft,
der Luft, die mich gebar?
Derselben Luft, der ich nur um ein Haar
zur Not entrann:
sonst wär ich längst ein toter junger Mann,
der niemals war.
Die Zwischenzeit der Zeit - die große Kluft!
Weiß nicht, ob ich's gerne wüsste,
wie viele, die ich einmal munter küsste,
sind schon in ihrer Gruft.
Nur Jetzt ist wirklich: dieses ist mein Zimmer.
Was einst Zuhause war, ist nicht zuhaus.
Etwas geht ein und aus.
Nichts ist für immer.
(Felix Pollak [1909-1987], in: "Vom Nutzen des Zweifels. Gedichte", Fischer 1989; zuerst: Spoon River Poetry Press [USA] 1988)
Anmerkung: Es ist schon bezeichnend genug, dass es zu diesem großartigen Lyriker, der vor den deutschen Nazihorden aus Österreich fliehen musste, heute nicht einmal einen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag gibt. In seinem Exilland USA gibt es dagegen sogar einen Literaturpreis, der seinen Namen trägt ("Since 1994, the University of Wisconsin Press has annually awarded a poetry prize named after Pollak"), in Deutschland und Österreich ist er allerdings bis heute eine größtenteils vergessene Unperson. Diese "ausgewanderten Juden" sollen offenbar besser vergessen bleiben.
Das Gedicht sollte angesichts der Biographie des Autors ein zweites Mal gelesen werden. - Davon abgesehen ist der Text aber auch zeitlos: Wenn ich ihn beispielsweise auf meine Biographie anwende, könnte er auch aus meiner Feder stammen, und ich bin sicher, dass ich mit dieser Empfindung gewiss nicht allein bin.
Nichts ist für immer. Fürwahr.
2 Kommentare:
Danke sehr dafür - ich kannte F.P. (leider) noch nicht.
Das Gedicht erinnert mich an eines der schönsten, die ich kenne:
Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr!
ist mir mîn leben getroumet, oder ist ez wâr?
daz ich je wânde ez wære, was daz allez iht?
dar nâch hân ich geslâfen und enweiz es niht.
nû bin ich erwachet, und ist mir unbekant
daz mir hie vor was kündic als mîn ander hant.
liut unde lant, dârinne ich von kinde bin erzogen,
die sint mir worden frömde reht als ez sî gelogen.
die mîne gespilen wâren, die sint træge unt alt.
vereitet is daz velt, verhouwen ist der walt (...)
(Walther v. d. Vogelweide)
@ Nightowl: Herzlichen Dank für diesen Beitrag! Für alle Nicht-Mediävisten füge ich hier mal die hochdeutsche Übersetzung ein:
O weh, wohin sind alle meine Jahre entschwunden?
Habe ich mein Leben nur geträumt, oder ist es wirklich?
Was ich immer glaubte, dass es sei -
war das wirklich etwas?
Demnach habe ich geschlafen und weiß es nicht.
Jetzt bin ich erwacht, und ich kenne nicht mehr,
was mir zuvor bekannt war wie eine meiner Hände.
Leute und Land, wo ich von Kind an aufgezogen worden bin,
die sind mir fremd geworden, genau so, als wäre alles erlogen.
Die meine Gespielen waren, die sind jetzt träge und alt.
Felder sind bebaut, der Wald ist gerodet (...)
(der ganze Text)
Liebe Grüße!
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