Mittwoch, 12. November 2014

Geschäftsidee: Armut, Leid, Not


Es ist ja nun ein alter Hut, dass in einem rein profitorientierten, irrwitzigen System wie dem Kapitalismus auch die absurdesten, skurrilsten, immer wieder auch lächerlichsten Geschäftsideen gerne auf äußerst fruchtbare Böden fallen. Darüber - wie beispielsweise über das "goldgeprägte Toilettenpapier" - kann man sich lustig machen und die beteiligten "Marktteilnehmer", die so etwas aushecken und tatsächlich auch kaufen, wahlweise als arme Irre, dekadente Arschlöcher oder gehirngewaschene Konsumzombies bezeichnen.

Das eigentliche Problem indes reicht weitaus tiefer, denn längst ist der Kapitalismus dazu übergegangen, die Armut, das Leid und die Not vieler Menschen tatsächlich und unverhohlen als profitbringende Einnahmequelle zu benutzen. Die Beispiele dafür sind so zahlreich, dass es mir schwerfällt, hier überhaupt eine möglichst repräsentative Auswahl zu nennen. Da ist beispielsweise die "Fortbildungsindustrie", die im fauligen Fahr- oder eher Brackwasser des Hartz-Terrors entstanden ist und die keine Fortbildung für die Zwangseingewiesenen, dafür aber satte Profite für die Betreiber generiert. Da gibt es die sogenannten "Mikrokredite" für bettelarme Menschen in Indien und anderen Regionen dieses gebeutelten Planeten, welche die Banken zwar nur unerheblich reicher machen, die Betroffenen dafür aber in eine meist lebenslange Abhängigkeit führen und nicht selten in den verzweifelten Suizid treiben.

Ein besonderes Highlight aus dieser besonderen Latrine des Kapitalismus habe ich kürzlich beim WDR gefunden, wo ich das Folgende lesen durfte:

Hilfsprojekt für Stadtstreicher: Studenten bauen Obdachlosen-Rucksack / Wer beim Thema Design nur an teure Täschchen oder edle Möbel denkt, liegt falsch. Drei Design-Studenten der Hochschule Niederrhein in Krefeld haben jetzt etwas ganz anderes entwickelt: Einen Rucksack für Obdachlose. Mittlerweile hat eine Krefelder Schneiderin einen Prototyp zusammengenäht.

Das "Hilfsprojekt" entpuppt sich beim weiteren Lesen allerdings wenig überraschend als eine kapitalistische "Geschäftsidee", die vom "sozialen" Jung-Entwickler so kolportiert wird: "Wer dann einen Rucksack kauft, finanziert mit dem Kauf einen zweiten und der wird dann an einen Obdachlosen weitergegeben". - In der Tat, eine so tolle Idee muss man als Jungkapitalist erst einmal haben: Ich entwickle einen Hightech-Rucksack für Camper und Survival-Junkies und verkaufe das als "Hilfsprojekt für Obdachlose". Und der WDR verbreitet das - wie immer - unkritisch und bietet dem habgierigen Irrsinn eine willfährige Plattform.

Ganz abgesehen davon, dass es vollkommen absurd ist, von eventuellen Käufern dieses ominösen Rucksacks ernsthaft zu erwarten, aus reiner Herzensgüte den doppelten Preis zu bezahlen, ist auch alles andere an dieser Meldung samt der vorgestellten "Idee" irrsinnig. Es wird (sofern dieser Vorschlag tatsächlich ernst gemeint sein sollte) einmal mehr nur an (noch dazu eher zweitrangigen) Symptomen geflickschustert. Das tatsächliche Problem der zunehmenden Obdachlosigkeit im "immer reicher werdenden Deutschland" wird extrem verharmlost, unter anderem illustriert durch die Benutzung des Wortes "Stadtstreicher". Von dort ist es sprachlich und gedanklich nicht mehr weit zu den "Landstreichern" der Vergangenheit und damit zu den "Zigeunern".

Es muss nach kapitalistischer "Logik" nicht mehr dafür gesorgt werden, dass den Menschen, die in diesem System ganz unten angelangt sind, geholfen wird, damit sie wieder halbwegs menschenwürdig leben können - angesichts des nahenden Winters ist laut WDR ein "trockener" (und nicht etwa auch ein warmer) Schlafplatz das Maß aller Dinge - auch wenn das ein aufgespannter Design-Stofffetzen mit hübschen roten Reißverschlüssen ist, der ja eigentlich zum Rucksack bzw. Schlafsack gehört, so dass zum Schlafen darunter offenbar nur noch eines der beiden erwähnten Stoffteile übrig bleibt.

Wie immer in solchen kapitalistischen Kindermärchen vom "next big thing" geht es auch hier nicht um Obdachlose oder deren Wohlergehen, und erst recht nicht um die Frage, wieso es mitten im kapitalistischen Paradies des stetig steigenden Reichtums immer mehr Menschen gibt, die auf der Straße leben müssen. Es geht einzig um den Profit der Aushecker - und dafür ist jede auch noch so zynische Ummantelung gerade so gut wie das Plus auf dem persönlichen Konto.

---

Die Segnungen unseres geliebten Kapitalismus



(Aufnahme von Canon EOS 450D, in: "Unsere furchtbare Realität", Beispiel USA [New York] vom 06.08.2008)

4 Kommentare:

Frau Lehmann hat gesagt…

Von wegen "Landstreicher der Vergangenheit": In der Europäischen Menschenrechtskonvention taucht der Begriff "Landstreicher" noch auf:

"Artikel 5
Recht auf Freiheit und Sicherheit

(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
[...]
e) rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern"

gefunden hier: http://dejure.org/gesetze/MRK/5.html

Also ich war einigermaßen entsetzt.

artikulant hat gesagt…

Ganauso ist Arbeitslosigkeit ein blühendes Geschäftsmodell. Geschätzte 95% aller Jobangebote sind von "Jobagenturen", ein direktes, seriöses Angebot kannst du heute lange suchen. Diese "Job-Zwischenhändler" kommen so überdies leicht an Unmengen persönlicher Daten - ein einträgliches Zusatzgeschäft. Arbeitslose sollten sich zusammentun und diesen Sumpf NICHT mehr mit ihrer Bewerbung unterstützen!

@Frau Lehmann:
Im Kap. ist auch Freiheit Ware.
Keine Kohle - Keine Freiheit.

Charlie hat gesagt…

@ Frau Lehmann: Das war mir bislang ebenfalls unbekannt und es entsetzt mich ebenso. Vielen Dank für den Hinweis! Obdachlose sind also auch nach der Menschenrechtskonvention keine "gleichwertigen" Menschen - oder wie soll man diesen Passus sonst verstehen?

@ Artikulant: Das ist ein schöner Aufruf - allerdings haben Arbeitslose in diesem Land kaum die Möglichkeit, einen solchen Boykott zu organisieren und durchzuziehen. Wer vom Staat unter der Androhung des Entzuges der materiellen Existenzgrundlage dazu gezwungen wird, sich nicht nur bei "Jobagenturen", sondern auch bei Leiharbeitsausbeutern und allen möglichen anderen Mafiafirmen zu "bewerben", hat schwerlich eine Handhabe für einen solchen Boykott.

Liebe Grüße!

Anonym hat gesagt…

Dazu passt wie Arsch auf Eimer:

https://netzpolitik.org/2014/45-130-konsumenten-harter-drogen-und-2-081-land-oder-stadtstreicher-in-baden-wuerttemberg/

Welcome to the brave new world.