Samstag, 9. Juli 2016

Ommas Teppichklopfer: "Nein, diese Jugend von heute!"


Ich frage mich ja schon seit längerem, was mit der "heutigen Jugend" los ist und weshalb gerade diese Menschen, deren Zukunft gerade wieder einmal an menschenfeindliche Konzerne verhökert oder gleich unwiederbringlich zerstört wird, größtenteils schweigen, mitlaufen und sich dem Irrsinn des ihnen aufgezwungenen Haifischbeckens fast wortlos ergeben, anstatt dem perversen System unverzüglich die rote Karte zu zeigen. Eine mögliche Erklärung ist mir bislang nicht eingefallen - bis ich kürzlich ein Interview mit dem Professor für Politikwissenschaft, Wolfgang Merkel (für den grausigen Namen kann er ja nichts), bei Zeit Online las. Dort heißt es unter der Überschrift "Junge Linke haben Bezug zur Unterschicht verloren":

Die Frage danach, wie sich gesellschaftlicher Wohlstand gerecht verteilen lässt, war ja seit jeher der Wesenskern linker Politik. Und der ist unter jungen Linken heute fast gänzlich in den Hintergrund getreten. Stattdessen dominieren kulturelle und identitätspolitische Themen, über die sich junges Linkssein heute definiert. Das zentrale progressive Anliegen ist mittlerweile die unbedingte Gleichstellung von Minderheiten. Das können ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten sein. / Gerade im Fall der Religion hat dies jedoch hochproblematische Konsequenzen: Denn die junge Linke neigt dazu – entgegen einer aufklärerischen oder marxistischen Tradition der Religionskritik – Religion unter Immunitätsschutz zu stellen und Kritik am Islam unmittelbar als "rechts" oder als "Phobie" zu brandmarken. Linke Religionskritik gerät dann in Vergessenheit, kritische Diskurse werden schlicht nicht mehr geführt – und das ist ein großes Problem.

Man darf hier freilich keinen intellektuell befriedigenden Text erwarten - es versteht sich von selbst, dass Herr Merkel, wie in unserer Systempresse üblich, völlig unkritisch von der "Globalisierung" faselt und diese - man möchte den Kopf mit Wucht auf die Tischplatte schlagen - gar als "Modernisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte" kategorisiert; und auch die Fragestellungen des Interviewers Robert Pausch lassen jede auch nur versuchte tiefergehende Analyse vermissen. Kapitalismuskritik findet nicht mehr statt in deutschen Massenmedien und hat - wie es scheint - auch in dem winzigen Teil der dort veröffentlichten Wissenschaft keinen Raum mehr.

Dennoch empfehle ich das Interview zur Lektüre, denn auch eine rein kapitalistisch gefilterte Symptombeschreibung, welche die Ursachen gewohnt konsequent außer acht lässt, ist in diesem Zusammenhang durchaus erhellend und nimmt zumindest mir partiell das böse Gefühl, mich zuweilen wie ein "ewig gestriger Opa" aufzuführen, der blindlings auf die "Jugend von heute" eindrischt. Wenn Merkel einen Klopper heraushaut wie "Die junge, intellektuelle Linke hat den Bezug zu der Unterklasse im eigenen Land fast gänzlich verloren. Da gibt es vonseiten der Gebildeten weder eine Sensibilität noch eine Aufmerksamkeit und schon gar keine Verbindungen mehr", dann fällt dem geneigten und allmählich wohl aussterbenden Eigenhirnbenutzer der Schluss nicht sonderlich schwer, dass wir es hier offensichtlich mit dem intellektuellen Armutsergebnis einer jahrzehntelangen kapitalistischen Indoktrination - sowohl in der Familie, als gerade auch in den verblödenden Verbildungseinrichtungen - seit der frühesten Kindheit zu tun haben, die nun allmählich ihre verfaulten Blüten öffnet.

Dass der Herr Professor es gewissenhaft unterlässt, den offenkundigen Bogen zu schlagen und explizit zu benennen, dass dieses niederschmetternde Urteil keineswegs nur die "junge, intellektuelle Linke" betrifft, sondern längst vollkommen selbstverständlich ist in den etablierten gesellschaftlichen und politischen Kreisen sowie weiten Teilen der zugehörigen Systemmedien inklusive der Zeit, entlastet die Jugend dennoch nicht. Ganz im Gegenteil: Gerade wer aus einem zutiefst verkommenen Umfeld stammt, steht in der Pflicht, subversiv tätig zu werden und sich - verdammt noch mal - gegen die Obrigkeit aufzulehnen. Warum zur Hölle lassen sich heutige junge Menschen so oft auf alberne Nebenschauplätze wie Genderdumpfheit, Veganismus, Sexismus oder Mohrhuhnismus locken, wo ihr Widerstand meist völlig wirkungslos verpufft oder sogar systemstärkend wirkt? Die tatsächlich Verantwortlichen für all diese - teilweise zu Recht kritisierten - Nebensymptome halten sich dort gewiss nicht auf und saufen unterdessen weiter lachend Champagner.

Auch die inzwischen völlig obsolete Religionskritik ist ein solcher Punkt, den ich - auf Teufel komm raus - nicht nachvollziehen kann. Es versteht sich doch von selbst, dass eine ernsthafte Kritik nichts zu tun hat mit der dumpfen, rassistischen Nazi-Propaganda der Pegidioten und NPD/AfD-Fraktion. Ich habe sehr oft das Gefühl, dass jedwede Aufklärung vergangener Jahrhunderte völlig vergeblich gewesen ist, wenn der absurde, magische Aberglaube an irgendwelche "Gottheiten" heute kein Thema in "jungen, linken" Kreisen mehr ist. Religionskritik ist kein Rassismus - sie kann lediglich, wie nahezu jedes andere Thema ebenfalls, von interessierter Seite schamlos instrumentalisiert und verballhornt werden. Wenn das geschieht, wird die substanzielle Kritik aber nicht gegenstandslos. Es kommt wahrlich nicht oft vor, dass ich einen Schwurbeltext von Lapuente einigermaßen lesenswert finde, aber kürzlich hat er dazu etwas halbwegs Intelligentes geschrieben. Noch wesentlich prägnanter und vollkommen ohne dummes Geschwurbel auskommend sind indes die Worte Heinrich Heines:

Kampf der Philosophen gegen die Religion: [sie] zerstören die heidnische, aber eine neue, die christliche, steigt hervor, auch diese ist bald abgefertigt, doch es kommt gewiss eine neue, und die Philosophen werden wieder eine neue Arbeit bekommen, jedoch wieder vergeblich: die Welt ist ein großer Viehstall, der nicht so leicht wie der des Augias gereinigt werden kann, weil, während gefegt wird, die Ochsen drinbleiben und immer neuen Mist anhäufen. - (Heinrich Heine: "Aphorismen und Fragmente")

Ich erinnere mich noch gut, dass ich als Kind mal - zwischengeparkt bei der Omma in Gelsenkirchen, die die glorreiche Zeit des braunen Terrors noch hautnah miterleben musste - eine mir heute nicht mehr bekannte Verfehlung begangen hatte und daraufhin von der alten Dame mit dem Teppichklopfer verprügelt wurde, dass mir der Hintern glühte. Es verursacht mir einen unbändigen Brechreiz, dass ich mich heute in derselben Rolle sehe und die ahnungs- und kritiklosen Idioten ebenso bearbeiten möchte, die heute die Schulen und rudimentären Reste dessen, was einst "freie" Universitäten waren, bevölkern. - Sicher, dieses Resümee ist überspitzt, böse, nicht nur politisch inkorrekt und zudem übel generalisierend - gänzlich falsch ist es aber dennoch nicht. - Oder?


(Omma und Charlie: der Teppichklopfer fehlt auf dem Bild.)

7 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ein letzter wacher Geist in der Zombiewelt. Geh lieber schlafen, Charlie, die Untoten haben längst gewonnen.

Troptard hat gesagt…

Hallo Charlie,

ich mag den jungen Linken und auch den anderen keinen Vorwurf machen, weil ich diese allgemeine Entpolitisierung selber Ende der 80iger miterlebt habe.
An der Uni z.B trat Gesellschaftskritik immer mehr in den Hintergrund und dass Terrain wurde von der "Alternativen Linken" und den "Grünen" besetzt.

Die Alternative Linke erprobte sich in alternativen Unternehmensformen als Gegenmodell zum etablierten Kapitalismus und die Grünen mit Umwelt und Ernährung.

Beide waren natürlich miteinander verbandelt. Und so enstanden diese ersten kleinen Biokrauter aus dem universitären Umfeld.

Ich erinnere mich noch gerne daran wie Studienkollegen von mir plötzlich anfingen zu tischlern und beim Berühren des Holzes fast einen inneren Parteitag erlebten.

Da hatte ich schon eine ziemliche Ahnung davon, in welche Richtung das mal gehen würde. Und das war keineswegs durch den sog. Neoliberalismus angestossen, sondern für mich eine Art Selbstfindung aus eigenem Antrieb.

Es scheint eine besondere Fähigkeit in Deutschland zu sein, ökonomische Veränderungen vorwegzunehmen und diese befördernd zu begleiten.

Es ist doch erstaunlich, wenn Arbeitnehmervertreter ihrem Konzern, so wie bei VW, Vorschläge unterbreiten, wie der Konzern noch mehr Gewinn einfahren kann.

In Frankreich haut man denen schon mal auf's Maul und in Deutschland ist man kooperativ und erfinderisch.

Diesen Teppichklopfer kenne ich übrigens auch sehr gut. Er hat mich in meiner Kindheit ständig begleitet. Da gab es noch keinen Staubsauger oder er war zumindest sehr teuer. Der Arsch war danach ordentlich wund! Meine Oma war eine polnische Seele, Schläge niemals !

Ansonsten fühle ich mich im Kopf erstaunlich jung gegenüber den gesellschaftlich bereits vergreisten.

epikur hat gesagt…

Es ist eine diffuse Mischung aus Angst, Ohnmachtsgefühl, Fatalismus und Resignation. Diese trübe Brühe sorgt dafür, dass die Menschen in vorauseilendem (Kadaver-)Gehorsam zu Ja-Sagern und Abnickern werden. Ich glaube, viele wissen um den kapitalistischen Irrsinn, um die schreienden Ungerechtigkeiten, können sie aber schwer in Worte fassen oder entsprechend kanalisieren. Das betrifft aber keinesfalls nur die Jugend. Bei ihnen kommt erschwerend hinzu, dass sie mit den ach so tollen "neuen Medien" komplett verblödspaßt werden. Das ignorante sowie weltverleugnende Konsum- und Habendenken- durchzieht aber sämtliche Gesellschaftschichten. Von den AfD-Jüngern, zu den Schrebergarten-Hobby-Nazis, den Karrieristen und Opportunisten, den Entpolitisierten, bis hin zu den weltverleugnenden Biedermeier-Mittelschichtlern. Ich vermute, wir hatten in der Geschichte der Menschheit selten so eine unkritische und konformistische Masse, wie heute.

Auch wenn man nicht vergessen darf, dass selbst wenn es Großdemonstrationen (wie die TTIP-Demo in Berlin mit rund 250.000 Teilnehmern) gibt, unsere lieben Massenmedien die entweder komplett ignorieren oder niederschreiben. Es gibt Protest und Widerstand. Nur er findet so gut wie gar nicht in den Leitmedien statt. Das sorgt natürlich auch dafür, dass jeder denkt, es würde erst gar keinen Protest geben. Das stimmt aber auch nicht.

Charlie hat gesagt…

@ Troptard: Ich habe die Entpolitisierung gewisser linker Fraktionen, die Du beschreibst, auch mit Entsetzen miterlebt, kann daraus aber nicht den Schluss ziehen, dass diesen Gesellen kein Vorwurf zu machen sei. Unabhängig vom jeweiligen Zeitgeist, vom Elternhaus und vom Einfluss der Verblödungsindustrie, die sich "Bildung" nennt, besitzt jeder Mensch nach wie vor ein autonomes Gehirn, das zu selbstständigen Denkleistungen in der Lage ist. Wenn dieses Potenzial nicht genutzt wird, darf doch selbstverständlich die Kritikkeule aus der Tasche geholt werden.

Als ich etwa 20 Jahre alt war, gab es diese Figuren, die lieber Aktenkoffer und Schlips trugen und sich etwas auf ihre pseudo-elitäre Herkunft einbildeten, anstatt sich mit der Verteilungsgerechtigkeit auch nur entfernt zu befassen, auch schon - damals waren das aber lächerliche Exoten, die niemand - mit Ausnahme der wenigen Gleichdenkenden - ernst genommen hat. Heute ist das offensichtlich anders.

Ob es sich dabei um ein spezifisch deutsches Phänomen handelt, vermag ich nicht zu beurteilen. Der Siegeszug der perversen kapitalistischen Religion, die den Eigennutz über alles andere stellt, findet ja einmal mehr überall statt, auch wenn Deutschland hier - wie gewohnt - eine grausige Vorreiterrolle übernimmt. Das absurde Profitdenken ist inzwischen in der "westlichen Welt" das alleinige Merkmal alles politischen Handelns.

Trotzdem ruht meine Resthoffnung auf den Bevölkerungen von Frankreich, Spanien oder Portugal, denn dort scheint mir die Obrigkeitshörigkeit nicht ganz so ausgeprägt zu sein wie in Dunkeldeutschland, wo man als Alternative zum kapitalistischen Katastrophenkurs der neoliberalen Einheitspartei allenfalls den finsteren Faschismus (NPD, AfD, Pegida & Co.) erwarten darf. Es ist mehr als erschreckend, dass diese Gefahr inzwischen trotz alledem auch in Frankreich droht. Jahrzehnte der kapitalistischen Menschenfeindlichkeit haben offensichtlich auch dort ihre verdorbenen Spuren hinterlassen.

Und als der nächste Krieg begann,
da sagten die Frauen: Nein!
Und schlossen Bruder, Sohn und Mann
fest in der Wohnung ein.

Dann zogen sie in jedem Land
wohl vor des Hauptmanns Haus
und hielten Stöcke in der Hand
und holten die Kerls heraus.

Sie legten jeden übers Knie,
der diesen Krieg befahl:
die Herren der Bank und Industrie,
den Minister und General.

Da brach so mancher Stock entzwei
und manches Großmaul schwieg.
In allen Ländern gab's Geschrei,
doch nirgends gab es Krieg.

Die Frauen gingen dann wieder nach Haus
zu Bruder und Sohn und Mann
und sagten ihnen, der Krieg sei aus.
Die Männer starrten zum Fenster hinaus
und sahen die Frauen nicht an ...

(Erich Kästner [1899-1974]: "Fantasie von übermorgen", in: "Lärm im Spiegel. Gedichte", mit Illustrationen von Rudolf Großmann, C. Weller 1929)


Liebe Grüße!

stille G. hat gesagt…

und schon wieder hab ich grad ein deDéjà-vu-Erlebnis ~

das Bild von Omma könnte aus meiner Sammlung stammen ~~

Kindheit in Herne ~~ die Kloppeitsche kam eher bei meinen Eltern zum Einsatz ~~ da reichten Widerworte aus ~~~

stille Geniesserin sinniert über alte Zeiten und daß sich eben doch alles wiederholt ?

altautonomer hat gesagt…

"Oder?" Das Beispiel mit der Omma ist nichts für einen Apologeten der gewaltfreien Erziehung. Hab ich wohl missverstanden. Denn nicht nur Alice Miller hat in ihrem Buch "Am Anfang war Erziehung" die seelischen Schäden beschrieben, die schwarze Pädagogik (körperliche und seelische Gewalt - einschließlich der Backpfeife und des Klapses auf den Po) bei Kindern hinterlässt, auch in § 1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches heißt es:
"Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig."



Charlie hat gesagt…

@ altauto: Dieser Beitrag ist ja - wie hoffentlich klar erkennbar ist - keine Hommage an die schauderhaften "Erziehungsmethoden" der Omma. Der Vergleich dient lediglich dazu, meine eigenen und mir sehr widerwärtigen Gewaltfantasien angesichts des anhaltenden Terrors und der begleitenden grassierenden Dämlichkeit, die sich allen Ernstes auch noch "links" nennt, in möglichst konstruktive Kanäle zu lenken.

Was Merkel da bezüglich der "jungen Linken" benennt, ist nicht einmal ansatzweise progressiv, sondern zutiefst reaktionär und daher extrem besorgniserregend.

Meine Kritik richtet sich doch nicht gegen Kinder.