Mittwoch, 19. Oktober 2016

Buchempfehlung: Der illustrierte Mann


Meine heutige Buchempfehlung betrifft ein literarisches Werk, das es wahrlich in sich hat. Der Autor, Ray Bradbury, hat es schon vor dreißig Jahren mühelos geschafft, in die Lehrpläne des bundesdeutschen Bildungssystems - zumindest im Fach "Englisch" - vorzustoßen: Sein dystopischer, genresprengender Roman "Fahrenheit 451" passte nur allzu gut in die elendige, deutsche Geschichte. Ich bin mir fast sicher, dass das grandiose Werk heute längst wieder aus den hiesigen Curriculae verschwunden ist: Man darf junge Menschen nicht zu sehr mit dem kritischen, eigenen Denken vertraut machen - der Kapitalismus weiß schließlich, wo er Mauern zu ziehen hat.

Wer den Roman nicht selbst lesen möchte, kann sich immerhin die kongeniale Verfilmung von François Truffaut aus dem Jahr 1966 ansehen oder sich das Hörbuch in deutscher oder englischer Sprache zu Gemüte führen.

Bradbury war ein genialer Erzähler, der mühelos alle Genregrenzen sprengte. Sein Erzählband "Der illustrierte Mann", den ich heute vorstellen möchte, ist ein beredtes Beispiel dafür. Ich zitiere aus dem Klappentext der deutschen Erstausgabe:

Der Erzähler begegnet auf einer Wanderung einem Mann, dessen Körper mit Tätowierungen von oben bis unten bedeckt ist. (...) Die Illustrationen beginnen sich - während die beiden auf einer einsamen Straße sitzen und der bizarre Mann eingeschlafen ist - zu bewegen. Daraus entstehen die Geschichten des Buches, die von anderen Welten erzählen: von Liebe und Einbildungskraft auf dem Mars, vom Wahnsinn im ewigen Regen der Venus, vom einsamen Tod im unendlichen Raum zwischen den Sternen und von den Städten und Dörfern in unserer eigenen Welt, in der seltsame Dinge geschehen, die wir nie bemerken, und in der seltsame Wesen leben, denen wir nie begegnen.

Jede einzelne dieser Erzählungen dieses Bandes ist ein literarisches Kleinod für sich, aber erst in ihrer Gesamtheit - die Texte sind durch eine knapp skizzierte Rahmenhandlung miteinander verwoben - entfalten sie ihre wahre Größe. Helmut Winter befand in der FAZ:

Bradbury hat die Science Fiction intellektualisiert, die technische Utopie romantisiert und der Horrorgeschichte eine sozialkritische Beimischung gegeben.

Ich möchte das ergänzen: Bradburys Erzählband gehört zum Besten, was die amerikanische Literatur der Nachkriegszeit bislang hervorgebracht hat. Herausgreifen möchte ich hier die Erzählung "Die Verbannten" ("The Exiles"), deren Zusammenfassung sich bei Wikipedia wie folgt liest:

Ein Raumschiff reist von der Erde zum Mars, als etliche Mitglieder der Besatzung über schreckliche Träume klagen und manche sogar ohne ersichtlichen Grund sterben. Der Mars ist seit dem 21. Jahrhundert zur Zuflucht der Dichter des Grauens und Entsetzens und [der] Anhänger des Übernatürlichen bzw. ihrer Bücher, die auf der wissenschaftshörigen Erde verboten wurden, und der darin vorkommenden Charaktere geworden. So leben hier u.a. Poe, Bierce und Carroll, die (...) durch Zauber die Raumfahrer töten [und] die Landung der Erdbewohner verhindern wollen. Einzig und alleine der verbannte Charles Dickens fühlt sich zu unrecht in die Gruppe der Anhänger des Übernatürlichen gesteckt und kooperiert nicht, um die Landung zu verhindern. Schlussendlich erreichen die Raumfahrer ihr Ziel und verbrennen die Bücher – und somit im übertragenen Sinne auch die Autoren und ihre Charaktere (...).

Wer das Buch noch nicht kennt, sollte es dringend lesen - es erschließen sich hier nicht zuletzt viele Aspekte, die zum Verständnis unserer heutigen untergehenden Zeit erheblich beitragen.



(Ray Douglas Bradbury [1920-2012]: "Der illustrierte Mann", Erzählungen, 1951; dt. Diogenes 1962)

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