Samstag, 29. Oktober 2016

Buchempfehlung: Kryptozoikum


Die literarische Reise, die ich heute wärmstens empfehlen möchte, ist eine wahrhaft psychedelische: Der Roman "Kryptozoikum" des britischen Autors Brian W. Aldiss verlangt dem in bewusstseinserweiternder Hinsicht unbedarften Leser eine Menge ab, da er nicht nur ein höchst fantastisches Thema behandelt, sondern dieses auch sprachlich entsprechend schillernd illustriert. Das Buch gilt heute als "Meilenstein" der Science-Fiction-Literatur, ist aber gleichwohl für heutige, oft eher schlichte Lesebedürfnisse ein eher sperriges Werk, mit dem "Space Opera"-Fans vermutlich nichts anfangen können. Ich zitiere aus dem Klappentext der deutschen Erstausgabe:

Ed Bush ist ein Künstler, und er malt in seinen visionären Bildern die unberührten Landschaften längst vergangener Epochen. Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts stempelt ihn als Geisteskranken ab. Doch er hat die Wahrheit gesehen - dass die Zeit in Wirklichkeit rückwärts fließt, so dass die Vergangenheit zur Zukunft wird, die Zukunft zur Vergangenheit. Und dass das ferne Ziel der Menschheit an ihrem Anfang liegt: dem Anbeginn des Kryptozoikums.

Diese für einen deutschen Billig-Verlag wie "Bastei Lübbe" schon damals typische Zusammenfassung im reißerisch-oberflächlichen Stil charakterisiert dieses literarische Juwel nur äußerst unzureichend. Dem Roman liegt die auch heute noch als eine von mehreren kosmologischen Thesen zur Entstehung und Entwicklung des Universums formulierte Annahme zugrunde, nach der das Universum nach einer langen Zeit der Expansion sich irgendwann wieder zusammenzuziehen beginnt, um schließlich im "umgekehrten Urknall" zu enden (und danach eventuell wieder neu zu beginnen), die "geschlossenes Universum" genannt wird (im Gegensatz zum "offenen Universum", das sich bis zum letztendlichen Erlöschen aller Sterne bis in alle Ewigkeit weiter ausdehnt). Aldiss überträgt diese These auf die kosmologische Komponente der (Raum-)Zeit und schafft so ein bizarres, überaus lesenswertes erzählerisches Szenario, das den Blick auf so manches Detail unserer heutigen, nicht minder bizarren Realität schärft.

Dazu ein kleiner Auszug aus dem Prolog des Buches:

Sie lagen in sinnlosen Haufen herum, und doch wie nach einem unbekannten, schrecklichen Plan, der auf die ungeheuren Kräfte schließen ließ, die sie dorthin geschleudert hatten. Diese Gebilde schienen zwischen organischer und unorganischer Materie die Mitte zu halten. Sie wucherten an den Rändern der Zeit und verkörperten all jene seltsamen Formen, welche die Erde erstmals tragen sollte; hier träumte die Erde einen Albtraum von der Brut, die sich einstmals über sie verbreiten würde. / Es waren kopromorphe Bildungen, sie erinnerten an Elefanten, Robben, Diplodoken, seltsame Squamaten und Sauropoden, Holzläuse, Flusspferde ... an lebendige und tote. Es tauchte auch manches auf, was von fernher an die menschliche Physis anklang: Torsi, Schenkel, geschwungene Lenden, Rücken, Brüste, Andeutungen von Händen und Fingern, massige Schultern, phallische Formen, alles unterscheidbar und doch vermischt mit den seltsamen Anatomien dieser geisterhaften Wehen der Natur, und alles seelenlos, erinnerungslos aus jenem grauen Ton geknetet, ohne einen Gedanken an Vergänglichkeit. / Sie erstreckten sich, soweit das Auge reichte, aufeinandergetürmt, als wollten sie das ganze Kryptozoikum füllen ... oder als seien sie die unheimlichen Vorschattungen von etwas, das da kommen wird - und gleichzeitig die Nachbilder von etwas sehr lange Vergangenem.

Wer sich auf diesen sagenhaften Roman, der inzwischen in mannigfaltigen Ausgaben und Verlagen erschienen ist, einlässt, braucht starke Nerven, ein sprühend fantasiefähiges Gehirn und ausreichend Ruhe, um das Gelesene zu reflektieren. Ich kann diese trotzdem gar nicht schwierige Reise, die zudem ein äußerst überraschendes Ende bereithält, nur dringend empfehlen.



(Brian Wilson Aldiss [*1925]: "Kryptozoikum", 1967; dt. Bastei Lübbe 1976)

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