Montag, 19. Dezember 2016

Untergangszeit in der Qualitätspresse: Dagegen ist Aleppo Disneyland


Manchmal bin ich nicht so ganz sicher, ob unsere hochverehrten, durch Zwangsgebühren finanzierten Qualitätsmedien nicht doch einem heimlichen Satireauftrag folgen; aber solange ich noch nicht bemerkt habe, dass irgendwelche Journalistenclowns mit einer Karnevalströte in der bemalten Fratze hinterm nächsten Busch hervorspringen und "Ätsch, wir haben dich verarscht!" brüllen, nehme ich den Quatsch der hochbezahlten Damen und Herren noch immer für bare Münze.

Beim WDR bin ich wieder einmal fündig geworden und habe einen Bericht gelesen, der mich einmal mehr daran zweifeln lässt, ob ich mich nicht doch in einer gescripteten Comedyshow von RTL befinde. Dort war unter der flehentlichen Überschrift "Anwohner verzweifelt über Raser in Wohngebieten" zu lesen:

Das Landschaftsschutzgebiet direkt vor der Tür, ruhige Lage. Ideal für die Kinder, hatte sich Familie [XXX] gedacht, als sie vor sechs Jahren in eine Spielstraße in Herdecke zog. Im Wohngebiet ist Schrittgeschwindigkeit vorgeschrieben. Eine Messung der Stadt Herdecke im Sommer 2015 aber ergab, dass die Autos hier durchschnittlich 25 km/h fahren. Seitdem sei nichts passiert, so Familie [XXX]. / Morgens und am Nachmittag sei es besonders schlimm, erzählen die [XXXs]. Die sechs und acht Jahre alten Söhne bringen die Eltern jeden Tag zur wenige Gehminuten entfernten Grundschule. Die Jungs auf der Spielstraße spielen lassen - das passiert nur ganz selten und nur unter elterlicher Aufsicht.

Sapperlot! Das muss doch Satire sein, oder? Kann es wirklich sein, dass die Lokalredaktion des WDR hier allen Ernstes darüber berichtet, dass irgendwelche noch gutsituierten Mittelschichtseltern sich bitterlich darüber beklagen, dass unverantwortliche Kriminelle ihre Fahrzeuge mit "im Schnitt 25 km/h" durch "ihre" Wohnstraße steuern, anstatt brav Schrittgeschwindigkeit zu fahren? Sind jetzt nicht mehr nur Lokalredakteure, sondern gleich ganze Bevölkerungsschichten völlig verrückt geworden? Wen schert es da noch, dass die allermeisten Kinder in dieser Gruselrepublik nicht in einer "Spielstraße" aufwachsen dürfen, wenn die vermeintlich Privilegierten sich schon nicht mehr trauen, ihre sechs und acht Jahre alten (!!!) Kinder dem grausigen Horror einer im rasenden Tempo von 25 km/h marodierenden Mörderbande auszusetzen? Eine schlimmere, todbringendere Straße für Kinder als diese kann es in Deutschland wohl gar nicht geben, wenn man dem WDR folgt:


Die Todesstraße in Alepp..., äh, Herdecke

Und die Anwohner (wohlgemerkt: laut dem WDR offenbar nur die Männer - weshalb auch immer) sind verzweifelt! VERZWEIFELT! Dagegen ist Aleppo wohl Disneyland. Was sind das für Menschen, die ihren Kindern nicht mehr beibringen können oder wollen, sich auf der Straße aufmerksam zu verhalten? Und was sind das für RedakteurInnen oder PraktikantInnen, die über einen solchen infantilen Unfug allen Ernstes - und nicht erst am 1. April - berichten? Könnte es ein noch deutlicheres Indiz dafür geben, dass das kapitalistische Klassensystem unweigerlich und ohne jede Ausweichmöglichkeit in den völligen Irrsinn führt?

Ich hätte große Lust, in meiner alten Karre mit mindestens 30 km/h (subversiv, wie ich bin) durch diese Straße zu rasen, dabei wild zu rauchen, genüsslich ein Mettbrötchen zu essen und laut Iron Maiden zu hören. Man wird ja sehr, sehr, SEHR bescheiden, was den Protest betrifft, wenn der Wahnsinn zur Normalität geworden ist.

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P.S.: Dem für diesen kafkaesken Bericht verantwortlichen WDR-Menschen sei geraten, sich noch ein kleinwenig intensiver mit Sprachwissenschaft und Schreibkunst zu befassen - es mutet doch ein wenig seltsam an, wenn sich der Text so liest, als würden die Eltern von den Kindern zur Schule gebracht. - Solche Feinheiten interessieren heute aber wohl niemanden mehr.

6 Kommentare:

epikur hat gesagt…

Es gibt keine Satire mehr. Die Realität ist immer schneller geworden und überholt sie regelmäßig von rechts und links. Nur der Biedermeier-Weltverleugnungs-Ich-Filterblasen-Glasbunker wird gehegt und gepflegt.

Und während bald wieder Obdachlose in Deutschland erfrieren werden, unterhält sich die Familie lang und intensiv darüber, wie man am besten die Gans zubereitet.

altautonomer hat gesagt…

Ich bin bei diesem Thema gespalten. Denn eigentlich würden die Verkehrsplaner derartige Wohngebiete für den normalen Verkehrs völlig sperren (Ausnahme: Schulbusse, Feuerwehr und Rettungsfahrzeuge). Auch für Anlieger. Damit die Betuchten aber ihre Edeka-Beute, Bierkästen und Babyshopper direkt vor die Haustür transportieren können, ist die "Spielstrasse" ein Kompromiss. Es gilt eine Geschwindigkeit von deutlich unter 20 km/h. Usain Bolt würde dort in einer Radarfalle geblitzt. Das Spielstrassenschild mit dem Symbol des ballspielenden Kindes ist daher eine Farce, denn solange dort Autos fahren dürfen, ist das unbekümmerte Spielen auf der Strasse ein Risiko trotz kurzer Bremswege.

Ähnliche Placebo-Regelungen gibt es in meinem Heimatort für die Haupteinkaufsstrasse mit extrem hohem Verkehrsaufkommen einschl. Lkw. Hab dort auch schon mal 30 Euro Verwarnungsgeld zahlen müssen, weil ich in Gedanken versunken und unaufmerksam mit 25 km/h durch die Einaufszone "gebrettert" bin. In diesen Strassen besteht übrigens keine Gurtpflicht und mit dem Rad bin ich auch schon mal bei 30 km/h da durch.



Anonymer Anarchist hat gesagt…

Gespalten? GESPALTEN? Altautonomer, manchmal zweifele ich an deiner Zurechnungsfähigkeit! Bei allem Respekt! Hast du dir das Photo vom "Tatort" mal angekuckt? Da schreit einen nicht nur die kulturelle, sondern auch die geistige Armut richtiggehend an, während Mama und Papa ihre SUVs durch die "Spielstraße" zwischen den auf Pump gekauften hässlichen Eigenheimen steuern, CDU, Grüne oder SPD wählen und gegen das Flüchtlinhsheim in der Nachbarschaft Unterschriften sammeln. Deutsches Spießertum in absoluter Reinkultur!! Noch ekeliger sind höchstens noch offene Nazis wie Pegida oder AFD!

Gespalten!! Ich fass das nicht!

altautonomer hat gesagt…

Anonymer Anarchist: Ich schaue keine Tatorte. Und im Text von Charlie finde ich auch kein Tatortfoto verlinkt. Wenn ich Dich richtig verstehe, sollte ich meine ambivalente Haltung aufgeben und es gut finden, dass spielende Kinder von Deinen erwähnten SUVs und Rasern ruhig umgenietet werden dürfen, weil ihre Eltern bescheuert sind.

Deine Pauschalurteile über die Bewohner derartiger verkehrsberuhigter Eigenheim-Gebiete teile ich übrigens nicht, zumal ich meine Meinung über soziologische Strukturen nicht aus dem Tatort beziehe. Es könnten bei einigen genau so gut um Flüchtlingsunterstützer handeln.

Übrigens darfst Du hier nicht nur in Deiner Meinung gespalten sein, sondern auch einen anderen, begründeten Standpunkt als der Käptn einnehmen. Nennt man Diskussion, glaub ich.

Anonymer Anarchist hat gesagt…

Altautonomer: Je nun, ich mache ja gerade das, was du mir da rätst, nämlich eine andere Meinugn vertreten. :) Ich kann nicht erkennen daß im WDR-Text oder in Charlies Kommentar die Meinung propagiert wird, daß die Affen frei Schnauze Gas geben sollen können oder das Konzept der Spielstraßen in Frage gestellt würde.

Wenn du das Tatortphoto nicht sehen kannst, kann ich ja auch nichts dazu. Ich bin selber in so einer perversen Mittelschichtsiedlung aufgewachsen und kann dir versichern daß da zu 90 % Spießer hausen, die nicht im Traum dran denken irgendwelche Flüchtlinge zu unterstützen, sondern sich lieber mit dem Nachbarn streiten, weil die Büsche im Garten nicht akurat geschnitten wurden. Die Hölle pur. Dummes Dreckspack im Quadrat.

Troptard hat gesagt…

Hallo Altautonomer!

ich kann Deine Einwände sehr gut verstehen und würde sie wahrscheinlich auch so vorbringen, wenn ich in Deutschland leben würde, zumal in einer Stadt ohne Garten oder Spielplatz.

Jetzt bringe ich einen kleinen Einwand vor, der sich aus einer vollkommen anderen Perspektive ergibt. Hier im Süden Frankreichs gibt es weder Fuss-noch Radwege, auch in den Städten wie Nimes und Avignon nicht. Hier gibt es nur Strasse über die der Verkehr unentwegt rollt. Hier spielen Kinder eben niemals auf der Strasse, sondern auf ihren Grundstücken.

Meine Beste hat mal gesagt, dass man als Fussgänger oder Radfahrer hier Freiwild ist.
Manchmal kommt es wirklich auf die Perspektive an. Selbst die deutschen umweltbewussten Touristen finden es nicht unbedingt anstössig sich an einen Boulevard zu setzen, ihren Milchkaffee zu trinken, während sie von den vorbeirollenden Autos vollgemieft werden und geniessen das auch noch. Und ihre Kinder haben sie auch noch dabei ohne besondere Ängste für ihr Leben.

Anmerkung: Die meisten tödlichen Verkehrsunfälle in Frankreich werden durch Alkohol am Steuer verursacht.