Freitag, 24. März 2017

Der redundante Einwurf (2): Die Glasschneiders und der olle Kommunist


Als ich vor einigen Jahren aus einer Millionenstadt in ein provinzielles Dorf zog, geschah das aus sehr konkreten Gründen. Einer davon war gewiss die explodierende Miethöhe in jener Stadt, der wichtigste aber war für mich persönlich mein allmählich zunehmendes Bedürfnis nach seniler Stille. Ich pflegte die idyllische, ländliche Vorstellung, dass ich an einem lauen Sommertag einfach mal entspannt auf dem Balkon oder im Garten sitzen könne, ohne ständig von irgendwelchen Motorgeräuschen unterschiedlichster Provenienz behelligt zu werden.

Diese Vorstellung hat sich inzwischen nachhaltig als infantiles, geradezu disneyhaftes Wunschdenken entlarvt, wie ich in einem ersten Einwurf bereits angedeutet habe. Aber damit ist das Fass gerade erst geöffnet und noch lange, lange nicht gehaltvoll beschrieben.

Ich habe in meinem dörflichen Idyll äußerst freundliche, hilfsbereite Nachbarn. Keiner von denen weiß, dass ich in Wahrheit ein fieser, kommunistischer Terrorist bin, der nachts heimlich in den Tank ihrer dämlichen SUV-Panzer uriniert und fleißig am Sturz des kapitalistischen Horrorsystems arbeitet – aber das soll hier und jetzt gar kein Thema sein. Ich konzentriere mich heute auf mein eigenes Spießertum und möchte meine liebe Nachbarfamilie vorstellen, die ich nur noch "die Glasschneiders" nenne.

Else, Fred und Elfriede

Direkt neben meiner Behausung steht ein nicht sonderlich großes, eher durchschnittlich kleines Haus, das dennoch einer sogenannten Generationenfamilie eine Heimstatt bietet: Dort leben auf kleinem Raum drei Generationen unter einem Dach. Da sind zunächst die Großeltern, die ich Else und Fred nenne; zudem hausen dort die Tochter Elfriede sowie ihr unauffälliger, da arbeitsbedingt nahezu nie anwesender Gatte samt insgesamt drei Kindern im Alter zwischen vier und acht Jahren. Soweit ist das also nichts weiter Besonderes.

Wenn – ja, wenn – da nicht die besonderen "Eigenarten" dieser Familie wären. Else beispielsweise besitzt eine Stimme, die man mit Worten nicht anschaulich beschreiben kann – ihr verdanken die Glasschneiders ihren trefflichen Namen. Diese Frau besitzt nicht die Fähigkeit, leise zu sprechen – immer wenn sie sich äußert (und das tut sie so verdammt oft), schreit sie. Diese Tonlage, die an kreischende Kreide auf einer Schultafel erinnert, ist der übliche Kommunikationsmodus dieser Dame. Flankiert wird sie von dem sonoren Bass ihres Gatten, dessen Stimme man auch dann, wenn er ganz "normal" spricht, bis zum übernächsten Straßenblock hören kann. Wir haben hier also ein Duo, das man mit dem Begriffspaar "grollendes Erdbeben trifft gellende Kreissäge" ziemlich gut charakterisieren kann.

Es verwundert nicht weiter, dass auch die Tochter Elfriede dieselben stimmlichen Merkmale aufweist wie die Frau Mama. Elfriede kommuniziert, ebenso wie die Oma, mit ihren drei Kindern, die sich (aus welchen Gründen auch immer) vornehmlich im Mini-Garten aufhalten, sobald das Thermometer über 3 Grad Celsius anzeigt, ausschließlich aus dem geöffneten Fenster des zweiten Obergeschosses, so dass das gesamte Tal, an dessen Hang jenes Haus – wie auch meines – steht, etwas davon hat. Der Nachhall der keifenden Glasschneiderstimme ist wirklich famos und wohl einzigartig. Mein Zuhause ist ein elfisches Paradies für Klang- und LärmforscherInnen. Es ist ein Faulfuß'sches Wunder, dass die Fensterscheiben meines Wohnzimmers sowie meine Trommelfelle und Weingläser noch immer intakt sind.

Es versteht sich von selbst, dass die Glasschneiders auch keine "normale" Kellertür besitzen – denn nur über jene können sie vom Haus aus den Mini-Garten betreten. Nein, Else und Fred haben da Anfang des 17. Jahrhunderts aus unerfindlichen Gründen eine dämonische Terrortür einbauen lassen, die sich nicht geräuschlos schließen lässt. Sobald also jemand den Garten betritt oder verlässt, was oft alle paar Minuten vorkommt, erfüllt ein sattes RRRUMMS! die dörfliche Idylle und ganze Heerscharen von lernunwilligen Vögeln und anderen Nachbarn fliegen erschrocken aus den Büschen, Bäumen und Gartenstühlen auf.

Ich möchte keine "Kinderschelte" betreiben – allerdings ist es nicht weiter verwunderlich, dass die stimmlichen Vorzüge von Else und Elfriede auch dem Nachwuchs nicht verwehrt geblieben sind. Ich kenne ja sehr viele Kinder und deren Lärm – aber nichts ist auch nur annähernd vergleichbar mit dem glasschneidenden Geplärre dieser drei bedauernswerten Kreaturen, die den Großteil ihrer Freizeit im Mini-Garten verbringen (müssen). Und wenn Fred dazu endlich auch die Kettensäge anschmeißt, um sich die Fußnägel zu schneiden, Kaminholz zu sägen oder einfach nur den Nachbarn auf den blutigen Sack zu gehen – was wahrlich nicht selten vorkommt –, ist ein idyllischer Sommertag im dörflichen Garten der romantischen Provinz erst so richtig perfekt.

Neulich, als ich naiv auf der Terrasse saß und angesichts der ersten zarten Frühlingssonnenstrahlen ein Buch zu lesen versuchte, schrie mir Elfriede vom Nachbargrundstück doch allen Ernstes urplötzlich zu, dass der Frühlingsbeginn doch eine herrliche Zeit nach dem langen Winter sei. Ich grinste debil und dachte dabei doch nur an Kettensägen, Zombies, Frost und Erschießungskommandos. Ich oller Kommunist!

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A View


(warandpeas.com)

2 Kommentare:

altautonomer hat gesagt…

Charlie, ich beneide Dich. Du lebst, verglichen mit mir in der Idylle eines Luftkurortes. Wie es der Zufall will, hab ich gerade meine Stereo-Anlage wieder ausgemacht (Smoke on the Water - life und We will rock you - bis zum Anschlag), nachdem ich die Boxen bis an die Grenze ihrer technischen Belastung ausgepowert hatte. Die Fensterscheiben haben diesen akustischen Bruchtets soeben noch bestanden.

Aber von Anfang an: Es begann im Jahre 2009. Der Eigentümer meiner Nachbarwohnung renovierte über eine Dauer von 3 Monaten für die Staffelmiete, die er den nächsten Mietern aufdrückte. Dieses schloss eine Sanierung des Bades, des Fußbodens in Flur, Schlaf- und Arbeitszimmer (Parkett nebst Fussleisten) , Erneuerung der Zimmertüren, Reiningung des Parketts im Wohnzimmer mittels Schleifmaschine, Umstellung des Wasseranschlusses in der Küche auf ein modernes Eckventil sowie Umstellung des Stromanschlusses auf zeitgemässen 380V Starkstrom etc. ein. Die Sanierung des Balkons wurde durch Entfernung der Fliesen mit einem Presslufthammer durchgeführt.

Die zweite Sanierung derselben Wohnung gab es dann vor rd. 3 Jahren. Das ging aber flott und der Lärm hielt sich in zumutbaren Grenzen.

Vor einem Jahr dann der Verkauf dieser Wohnung an einen 30-jährigen Hipster, so der Typ Jens Berger mit schwarzen Haaren und BMW Cabrio. Seitdem ich am 3.7.2016 aus dem Urlaub zurück bin, geht es ans Eingemachte. Kernsanierung mit allem Drum und Dran. Allein in der Küche habe ich 30 Steckdosenlöcher gezählt, die aber noch mal alle (auch die in den anderen Räumen) nachgebohrt werden mußten, weil der Querschnitt 1 cm zu klein war.
Aus einer Wandöffnung in der Küche ragten die Enden von rd. 150 Elektrokabeln im Bündel. Bis heute täglich Lärm in der Intensität als ob ich neben der Turbine eines Jumbo-Jets lebe, mal andauernd, mal spontan für einig Minuten.

Meistens schrecke ich aus dem Sessel hoch, wenn ich mich am frühen Nachmitteg nach einer langen Radtour entspannen will. Dann legt der Assi los. Als ich noch mit ihm redete, sagte er, dass er Leiter eines Baumarktes sei und alles solo in Eigenhife mache. Was aber nun so lange dauert und immer wieder diesen Lärm verursacht, entzieht sich meiner Kenntnis. Meine Phantasie reicht nicht aus, um mir vorzustellen, was da alles gemacht wird. Dübelt der alle Möbel an die W#ände? In den letzten 9 Monaten sind mein Ruhepuls und mein Blutdruck immer wieder mal gestiegen. Legale Körperverletzung nenne ich das. In dieser Zeit setzen Fachleute ein schlüsselfertiges Einfamilienhaus auf die Wiese nebst Unterkellerung.

Ich lebe hier in der Lärmhölle und ein Ende ist nicht abzusehen. Komm mir jetzt nur keiner mit Mietminderung. Die beseitigt den Lärm nämlich nicht.

PS.: Insgeheim warte ich darauf, dass mal einer bei mir anschellt und sich über meine dröhnende Musik beschwert. Dann gibts aber richtig Casalla.

Charlie hat gesagt…

@ Altauto: An Deiner Stelle wäre ich mit dem Neid etwas vorsichtiger. ;-) Es gab schon genügend Tage, an denen ich mich heiß und innig in meine Großstadtwohnung zurückgesehnt habe, in der es zumindest zeitweise deutlich ruhiger zuging als hier im dörflichen Idyll.

Da lebte ich in einer Wohnung direkt im "Studentenviertel", gegenüber einer Rockkneipe. Ich weiß nicht, ob ich die Texte von Georg Trakl, Franz Kafka, Aldous Huxley oder Alain Dorémieux, über denen ich damals brütete, auch so gut verstanden hätte, wenn ich stattdessen in einem Dorf in Ostfriesland gewohnt hätte. :-) Heute jedenfalls bereue ich den Umzug - denn hier ist es um Längen schlimmer. Wenn ich noch einmal umziehen sollte, wird das Ziel Lappland, Island oder Spitzwegen sein. :-)

Liebe Grüße!