Freitag, 21. Januar 2011

Günter Gaus: "Warum ich kein Demokrat mehr bin"

(...) Mein Abschied von der Demokratie – ein letztes Mal versichert: ohne den Boden der FdGO [freiheitlich-demokratischen Grundordnung] zu verlassen – ist im Geistigen zu vergleichen mit der Entrümpelung eines Hauses, bevor man es verlässt und ins "Augustinum" zieht. Wenn man alt genug geworden ist, um alle Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung des Menschen aufgegeben zu haben, dann bleibt einem als intellektuelle Anstrengung nur noch das Vergnügen, sich selber nichts mehr vorzumachen. (...)

Das Funktionieren einer Demokratie aber gründet sich auf die Bereitschaft des Souveräns, sich gelegentlich beim Gewinnen von Einsichten in das politische Tun und Lassen und dessen Konsequenzen anzustrengen. Schneller als gedacht wird die Verflachung der Politik in den Massenmedien ein bisschen amüsieren, schließlich langweilen und abstumpfen – und in jedem Falle das gleiche und allgemeine Wahlrecht aushöhlen. Ich bin kein Demokrat mehr. Wie einst das Drei-Klassen-Wahlrecht bestimmte Interessen begünstigte, so wird die Wahlausübung des bei Laune gehaltenen Fernsehpublikums interessengesteuert sein von gesellschaftlichen Gruppen, die selber wenig fernsehen.

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Anmerkung: Ein erstaunlicher Text, den die Süddeutsche schon im Jahre 2003 abgedruckt hat. Eigentlich ist dem Bekenntnis des Herrn Gaus nicht viel hinzuzufügen - mit Ausnahme der Bemerkung, dass er in seinem Text den Weg zur Lösung des Problems, das ihn in die Resignation getrieben hat, ja bereits selber erkennt: Die größte Schuld an der Farce unserer gesellschaftlichen und politischen Realität tragen die gesteuerten und steuernden Massenmedien. Was liegt da näher, als genau über diesen Punkt nachzudenken und Konzepte zu erarbeiten, wie der Einfluss dieser Medien kontrolliert bzw. die Inhalte der Realität angepasst werden könnten? Eine staatliche Medienkontrolle, wie sie derzeit in Ungarn vorbereitet wird, ist da allerdings keine sinnvolle Option, solange wir ein dermaßen korruptes System haben. Man könnte sich schon eher ein generelles Werbeverbot vorstellen - Werbung müsste danach durch Informationssendungen mit wirklichem, wissenschaftlich neutral geprüftem Inhalt ersetzt werden. In einem Wirtschaftssystem, das nicht auf Profit ausgerichtet ist, könnten jede Menge solcher Institutionen entstehen, die Lebensmittel, Güter, Dienstleistungen, industrielle Produktion überhaupt auf ihren Wert, ihre Nachhaltigkeit, ihre ökologische Substanz und derlei Punkte mehr untersuchen, so dass am Ende tatsächlich die für die Menschen und die Natur besten Dinge erkennbar wären, während der ganze Schrott und Dreck, der in unserem jetzigen System zwangsläufig (systemlogisch) produziert wird, verschwinden würde.

Dasselbe gilt natürlich für die politische Meinungsbildung. Wenn nicht mehr von allen Seiten kapitalistische, dumpfe Egoismus-Propaganda auf die Menschen einprasselt, hat auch die Demokratie wieder eine Chance.

Ich gebe zu, das ist ein sehr gewagtes Visionsfragment, das sicher auch in vielerlei Hinsicht Nachbesserungen und Modifikationen bedarf - aber ganz so pessimistisch wie Herr Gaus sehe ich die Lage dennoch nicht. Man kann die aktuelle Form der Demokratie für gescheitert erklären, keine Frage - aber man sollte nicht die Entstehung eines "neuen Menschen", eines Menschen mit humanem Gewissen und reduziertem Egoismus, pauschal für unmöglich erachten, sondern stattdessen an den Voraussetzungen arbeiten, die ein solcher "Evolutionssprung" benötigt.

Ich schreibe dies in der deutlichen Ahnung, dass die Talsohle noch längst nicht erreicht ist und dass noch viel mehr zerstört werden wird, bevor wir die Chance zur Umkehr bekommen. Aber wenn dieser Tag kommt, dann müssen wir diese Chance nutzen - es ist möglicherweise unsere letzte.

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