Freitag, 19. August 2011

"Im Grunde ist das System am Ende"

Nach den Ausschreitungen in Großbritannien sieht Philosophie-Professor Raymond Geuss aus Cambridge die Politik am Ende ihrer Möglichkeiten. Im Interview mit tagesschau.de erklärt Geuss, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Sein Rat: ein radikaler Neuanfang, der die Ökonomie des Landes komplett umstrukturiert.

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Anmerkung: Es ist erstaunlich, dass ein solches Interview ausgerechnet auf den Propagandaseiten der Tagesschau zu finden ist. Allerdings wird es ja nicht lange dort verbleiben ... wer es also lesen möchte, sollte sich sputen.

Die meines Erachtens wichtigste Passage daraus ist diese - denn sie trifft keinesfalls nur auf Großbritannien zu, sondern auf alle kapitalistisch orientierten Staaten unserer Zeit, also auf nahezu alle: "Langfristig hilft nur eine ganz andere Politik: eine Politik der Umverteilung, der gerechten Organisation von ökonomischen Strukturen. Man müsste neue Kontrollmechanismen für die Finanzwelt einführen. Man müsste den Steuersatz erhöhen. Das alles aber steht zurzeit nicht auf der politischen Tagesordnung. Mir scheint fraglich, ob dazu überhaupt der politische Wille besteht. Im Grunde ist das System am Ende. Im Rahmen dieses ökonomischen Systems in Großbritannien ist keine Lösung möglich."

Wir dürfen uns also fragen: Wenn im Rahmen des bestehenden Systems keine Lösung möglich ist - wie wird sich die "Elite" wohl diesmal entscheiden? Wird sie das System tatsächlich ändern bzw. eine Veränderung (zum Positiven) zulassen - oder ist ihr die Lösung der Probleme schlichtweg egal? - Ich glaube, die Antwort dürfte nicht allzu schwierig vorherzusagen sein, wie auch der Herr Professor dezent bemerkt.

Eine andere mögliche Lösung taucht in diesem Interview gar nicht auf: In den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stand man vor ganz ähnlichen Fragen und Problemen - und es sollte hinlänglich bekannt sein, welche unsägliche Katastrophe daraus erwachsen ist.

Wenn das System am Ende ist, muss logischer Weise ein neues System beginnen. Wir sollten diesmal nicht der neoliberalen Bande die Entscheidung darüber überlassen, welches System das sein wird. Empört euch, geht auf die Straße, geht wählen und gebt diesmal einer Partei eure Stimme, die tatsächlich eure Interessen vertritt und dies nicht nur vorgibt.

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Eine Partei wählen, die meine Interessen vertritt? Das ist ein Widerspruch in sich. Warum wurden bei den großen Demonstrationen in Spanien wohl keine Parteien- Vertreter zugelassen? Heißt Deine Religion etwa "Demokratie"? Grüße von René Wolf.

"EIGENTLICH IST SCHON DAS WORT DEMOKRATIE eine Zumutung. ›Demokratie‹ heißt ›Volksherrschaft‹. Herrscht irgendwo ›das Volk‹? Natürlich nicht, bestenfalls darf das Volk Menschen wählen, von denen es sich beherrschen läßt. Und selbst die bekommt es vorsortiert angeboten.

Eine wirkliche Demokratie wäre, wenn das ganze Volk über das ganze Volk herrschte, also jeder Mensch jedem anderen genausoviel zu sagen hätte, wie er sich von anderen zu sagen lassen hat. Das ist entweder Unsinn oder das Ende der Herrschaft von Menschen über Menschen. Denn wenn jeder jeden ›beherrscht‹, ist das genau dasselbe, wie wenn niemand herrscht. Da Menschen aber unterschiedliche Meinungen haben, kann solch eine Demokratie in einem Staat nicht funktionieren, es sei denn, eine Meinung setzte sich durch und unterdrückte viele andere. Genau das aber ist in unseren ›Demokratien‹ der Fall. Der Unterschied zwischen Diktaturen und Demokratien besteht genau besehen darin, daß in ersteren eine Minderheit die Mehrheit und in letzteren eine Mehrheit zahlreiche Minderheiten unterdrückt. Beides aber ist eine Herrschaft einiger über viele, also eine Oligarchie* und keine Demokratie – auch, wenn sich die Herrschenden ihre Herrschaft von einer Mehrheit legitimieren* lassen.


Weil aber Menschen verschiedene Meinungen haben, die sich eben nicht in einer Gesellschaft unter einen Hut bringen lassen, ist Demokratie – die Herrschaft aller über alle
– entweder nur in kleineren Gruppen möglich oder gar nicht. Ein Netz kleiner Gruppen, eine Föderation verschiedener Gesellschaften aber ist nichts anderes als Anarchie. Wirkliche Demokratie ist also entweder an-archisch oder unsinnig.
Natürlich kann man sagen, die Partei X ist ein wenig liberaler, sozialer und freiheitlicher als die Partei Y. Wenn aber das Ziel Freiheit ist, und Freiheit nur ohne Staat und Regierung geht, alle Parteien aber Staat und Regierung sind, so kann ich eben nicht das wählen, was ich will. Ich muß es schon selber herstellen, erreichen, aufbauen. Wenn ich ein Leben ohne Regierung will, ist es absurd, mir die Leute auszuwählen, die mich regieren sollen."
(Horst Stowasser in "Freiheit pur")

Charlie hat gesagt…

Hallo Anonym alias René - mit Religion hat das herzlich wenig zu tun, denke ich - eher mit einer Veränderung in gangbaren Schritten. Ansonsten können wir ja - nicht nur in Spanien, sondern in allen Teilen der Welt. in denen die Empörten langsam aufzubegehren beginnen - beobachten, was aus den begonnenen Protesten wird. Ohne (freilich eine wesentlich andere, nämlich direktere Demokratie als die, die uns als soche vorgegaukelt wird) kann es meiner Ansicht nach nicht gelingen, das System endlich abzulösen und nicht immer und immer wieder einen Neustart zu riskieren.

Anders gesagt: Wenn man aus der Kloake heraus will, muss man zunächst einmal nach dem rettenden Seil greifen, das zwar immer noch in die Kloake hinein hängt, an dem man aber Zug um Zug aus der stinkenden Brühe entkommen kann.

Wenn Du inmitten einer Schafherde - auch einer aufgeregten - plötzlich laut rufst: "Nicht nur der Wolf, auch der Hirte ist dein wirklicher Feind!" - dann werden Dich die Schafe ebenso entgeistert und verständnislos angucken wie zuvor.

Die viel dringlichere Frage lautet meines Erachtens im Moment: Wie können wir sicherstellen, dass eine weiter zunehmende Faschistisierung der Gesellschaften - die überall zu beobachten ist - und allen daraus erfolgenden Katastrophen samt einem simplen erneuten Neustart des Kapitalismus vermieden wird?

Sofern man keine Partei ausmachen kann, die tatsächlich die Interessen der Menschen vertritt, muss man eben eine gründen ... alles andere stärkt im Rahmen des bestehenden Systems nur die Macht der Herrschenden. In leicht abgewandelten Stowasser-Worten klingt das dann so: Wenn ich ein Leben ohne Herrschende und Beherrschte will, ist es absurd, durch Nichtwählen, ungültige Stimmzettel oder Kreuze bei den etablierten Parteien gerade die Herrschenden zu stärken.

Anonym hat gesagt…

Welche Partei würdest Du denn wählen, lieber Charlie? In welcher wählbaren Partei gibt es keine üblichen Machtstrukturen?
Und welche Partei sollten die rechtlosen Jugendlichen in England gründen? Das bestehende System ist ein Parteien- System, welches den ganz normalen, kannibalistischen Kapitalismus stützt. Ich sehe jetzt nur zwei Möglichkeiten: Barbarei oder dezentrale Organisation- Letzteres schließt Vieles ein, was wir unter "Kommunismus" und die Wege dorthin verstehen. Freie Vereinbarungen, die keine Machtkonzentration- wie eben in einer Partei- ermöglichen. An einen "Umbau" des warenproduzierenden Systems glaube, wer mag... Übrigens wurden Parteien- Vertreter in diesem Sommer auch auf den Plätzen Spaniens nicht gern gesehen.
"Als die Anarchisten "herrschten", fuhren die U- Bahnen pünktlich." (Zeitzeuge des Sommers 1936 in Spanien)

Salute! René. (anarchist@live.de)

Charlie hat gesagt…

Lieber René,

es liegt mir fern, Parteiwerbung zu betreiben. Ich selbst sehe in der Linkspartei eine gewisse (wenn auch nur kleine) Chance, um den Veränderungsprozess in Gang zu bringen - aber das muss und soll letzten Endes jeder mit sich selbst und seinem Gewissen ausmachen.

Fakt ist nun einmal, dass es so nicht weitergehen kann und darf. Da ich einfach unterstelle, dass Du die Barbarei ebenfalls nicht als wünschenswert betrachtest, muss ich nun zurückfragen: Wie könnte denn Deiner Meinung nach eine dezentrale Organisation in unserer Gesellschaft hergestellt werden - wenn nicht auf dem (schein-)demokratischen Weg über Wahlen?

Das Parteiensystem ist für mich wahrlich nicht der Weisheit letzter Schluss, sondern nur ein erster Schritt auf dem langen Weg, der die Menschheit endlich aus der Katastrophe des Kapitalismus herausführen soll.

Man kann da immer wieder Heiner Müller zitieren: "Wir stecken bis zum Hals im Kapitalismus." So ist es. Und wenn wir vermeiden wollen, dass uns die Gülle in den Mund schwappt und uns jämmerlich erstickt, müssen wir uns daraus befreien - und zwar möglichst schnell. Die Zeit drängt.

Anonym hat gesagt…

Ja, lieber Charlie,

ich gebe Dir in vielen Punkten Recht. Die "Gülle" ist uns jedoch nicht nur in den Mund geschwappt, wir trinken sie bereits.
Wenn ich einkaufen gehe, befördere ich damit den weltweiten Handels- Krieg. Wenn ich Steuern zahle, gehen 10 Prozent davon in die Rüstung. Ich gehöre zu einem System, dass jedes Jahr so viele Menschen ermordet, wie im ganzen 2. Weltkrieg umkamen. Ein Kind, das in Afrika an Hunger stirbt, wird ermordet.
Meine Symphatie gehört all denen, die etwas riskieren, um das kapitalistische System zu bekämpfen. Guck nach Südamerika. Oder Nordafrika. Selbst der meist unreflektierte Zorn in englischen Städten ist mir näher als Personal- Debatten unserer Linken. Dann schon lieber auf dem Alexanderplatz in Berlin campen.Die direkte Aktion, die freie Vereinbarung, der Generalstreik- das sind nur einige der typischen anarchischen Mittel. Deutschland schläft freilich, ist gespalten. Es geht uns noch recht gut, scheint es.
Ein Un- Rechtsbewusstsein bezüglich unserer Schuld an weltweiten Katastrophen ist bei ganz wenigen Deutschen zu beobachten. Dagegen wachsen esotherische Halluzinationen, "Freiheit" wird herbei- meditiert und angesoffen. Ein Claus Otto Scharmer faselt fast unwidersprochen von seiner "Theorie U", vom Kapitalismus 3.0 als Update auf das laufende Programm.
Wahrscheinlich hat Heiner Müller, zumindest auf Deutschland bezogen, Recht, wenn er sagt: "Es haben noch nie größere Gruppen von Menschen irgend etwas begriffen ohne Schock, ohne Katastrophe."

Charlie hat gesagt…

Lieber René,

meine Sympathie und Solidarität gilt den Empörten ganz genauso - das ist für mich völlig selbstverständlich. Ich glaube bloß nicht daran, dass speziell in Deutschland mit solchen Aktionen allein eine Umkehr, ein nachhaltiger Prozess der Veränderung in Gang kommen kann. Ich pflichte Dir bei: Weite Teile der Bevölkerung hier schlafen einfach bzw. verteidigen das kapitalistische System sogar - aus Gründen, die ich nicht nachvollziehen kann.

Was mit den Campern in Berlin inzwischen passiert ist, weißt Du ja vermutlich - bei youtube findet man die entsprechenden, gewohnt skandalösen Bilder der "polizeilichen Räumung": http://www.youtube.com/watch?v=egg1uf_PC4E

Die Frage bleibt also weiterhin offen, wie die Propaganda durchbrochen, die Menschen informiert und sensibilisiert und die Veränderungen endlich in Gang gebracht werden können. Und da halte ich einfach nach wie vor den Weg über das Parteiensystem - momentan - für den erfolgsversprechendsten ... was aber solche parallelen Aktionen und Demonstrationen nicht im geringsten ausschließt. Ganz im Gegenteil.

Um einmal mehr Heiner Müller das Schlusswort zu überlassen - in der Hoffnung, dass es dazu diesmal nicht kommen wird -, zitiere ich den Schluss aus seiner "Hamletmaschine": "Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen."