Samstag, 12. Januar 2013

Deutschland: Es geht stramm nach rechts


Wer seinerzeit Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" nur als Rassistenbibel wahrgenommen hatte, erlag einem Irrtum. Das war die vom Spiegel vorgegebene "Lesart". Bei Sarrazin geht es gegen die "Unterschichten", praktischerweise gegen "Unterschichten mit Migrationshintergrund". Die damit ("endlich spricht mal einer aus, was wir alle denken") losgetretene verbale Hatz auf Migranten, Unterschichten und Muslime hatte mitnichten ein Ende gefunden als klar wurde, dass einem rassistischen Diskurs immer die Tat zu seinen Gedanken folgt.

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Anmerkung: Bitte unbedingt lesen - in dieser komprimierten Form habe ich nirgends sonst so viele Daten und Fakten zum erschreckenden Rechtsruck gefunden. Insbesondere die im Text erwähnte Studie (pdf-Version) von Oliver Decker, Johannes Kies und Elmar Brähler sollte zur Pflichtlektüre werden: "Die Mitte in der Krise / Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010". Der Autor vergleicht diese Studie mit der Aktualisierung aus dem Jahr 2012 und stellt eine erschreckende Zunahme der Verbreitung des rechtsextremen Gedankenguts in Deutschland fest:

"'Der manifeste und organisierte Rechtsextremismus ist eingebunden in ein breites Umfeld von latentem Rechtsextremismus.' Decker/Kies/Brähler sprechen von bis zu 30 Prozent der Befragten. Das ist das quantitative Potenzial der NSDAP am Ende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts!"

In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch einmal auf die Heitmeyer-Studie "Deutsche Zustände" verweisen, die dieselben furchtbaren Tendenzen offenbart.

Auch der Kollege von der Schrottpresse hat jüngst einen bedrückenden Text zur staatlichen Ungleichbehandlung von Rechten und Linken in Deutschland geschrieben, den ich Euch auch ans Herz legen will. Es wird immer offensichtlicher, dass rechtsextremes Gedankengut nicht nur in Teilen der Bevölkerung - und zwar gerade in der Mittelschicht - tief verwurzelt ist, sondern selbstverständlich und mit langer Tradition auch in Teilen des gesamten Staatsapparates - und mitnichten "nur" innerhalb des "Verfassungsschutzes".

Thilo Sarrazin beispielsweise ist ein Symptom dieses Problems, nicht die Ursache. Dieser Rassist hat vor kurzem wieder einen ekelwürdigen Auftritt absolviert, bei dem er eine Dunkelhaarige wie selbstverständlich als "muslimische Frau" bezeichnet und u.a. den denkwürdigen Satz zum NSU-Skandal herausgehauen hat: "Das ganze Geschehen wäre nicht so ausgeartet, hätten wir starke Führer an der Macht." Hier wird das ganze widerliche Ausmaß der geschlossen rechtsextremen Weltbilder deutlich, von denen in der oben genannten Studie die Rede ist.

Der Autor des verlinkten Artikels zieht noch das Zwischenfazit: "Rechtsextremismus favorisiert aus Sicht der Autoren [der Studie] sehr absolut gesetzte Ungleichwertigkeitsvorstellungen. Er zielt auf Diktatur und impliziert chauvinistische, antisemitische, fremdenfeindliche und sozial-darwinistische Vorstellungen. Nicht zuletzt rechtfertigt oder relativiert er die Verbrechen des Nationalsozialismus. Man darf ihn also getrost Faschismus nennen." Dem schließe ich mich vorbehaltlos an und möchte es sogar eine Pflicht nennen, alles Faschistische auch so zu bezeichnen.

Angesichts der Erstarkung der Rechtsextremisten in vielen Teilen Europas (Ungarn, Griechenland, Niederlande etc.) müssen wir gerade auch in Deutschland mit einem extrem mulmigen Gefühl und äußerster Wachsamkeit in die Zukunft schauen - gerade weil wir wissen, welche furchtbaren Konsequenzen ein "geschlossen rechtsextremes Weltbild" haben kann, wenn es schon wieder bei 30 Prozent unserer lieben MitbürgerInnen vorherrscht.

Mir wird schlecht.

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Nacht und Nebel


(bitte unbedingt ansehen)

Wer von uns wacht hier und warnt uns, wenn die neuen Henker kommen? Haben sie wirklich ein anderes Gesicht als wir? Irgendwo gibt es noch Kapos, die Glück hatten, Prominente, für die sich wieder Verwendung fand, Denunzianten, die unerkannt blieben; gibt es noch all jene, die nie daran glauben wollten - oder nur von Zeit zu Zeit.

Und es gibt uns, die wir beim Anblick dieser Trümmer aufrichtig glauben, der Rassenwahn sei für immer darunter begraben, uns, die wir dieses Bild entschwinden sehen und tun, als schöpften wir neue Hoffnung, als glaubten wir wirklich, dass all das nur EINER Zeit und nur EINEM Land angehört, uns, die wir vorbeisehen an den Dingen neben uns und nicht hören, dass der Schrei nicht verstummt.

(Jean Cayrol [1911-2005]: Schlusskommentar in der Dokumentation "Nacht und Nebel" [1955], übersetzt von Paul Celan [1920-1970])

2 Kommentare:

dori.ar hat gesagt…

Leider konnte ich diesen "Rechtsruck in Deutschland" auch beobachten... Als im Ausland lebende Deutsche reise ich so alle zwei Jahre mal in die alte Heimat, und bei meinem letzten Deutschlandbesuch vor Kurzem war ich schockiert und fast sprachlos, welchen "Menschen-mit-Migrationshintergrund"-feindlichen Mist ich aus den Mündern von Leuten, deren Meinungen ich bisher immer geschätzt oder geteilt hatte, vernehmen musste. Meine einzige Erklärung hierfür ist: GEHIRNWÄSCHE!!! Ist ja eigentlich nichts Neues, dass Politik und "große" Medien das betreiben, aber diesmal fand ich es wirklich erschreckend. Meine Kinder wären, wenn wir nach Deutschland ziehen würden, auch Menschen mit Migrationshintergrund, aber das blicken die nicht mal, die so ein Zeugs daherreden. Muss ich nun schlussfolgern, dass es Menschen erster, zweiter Klasse etc. gibt?! Die Volksverdummung ist schon sehr weit vorangeschritten. Und in der Politiklandschaft ist auch keine große Rettung in Sicht, scheint mir.
Viele Grüße aus Argentinien!

Charlie hat gesagt…

@ Dori:

Danke für diese Wortmeldung - es ist stets hilfreich, Stimmen von Außenstehenden zu solchen Themen zu hören! Ich würde zwar das Wort "Gehirnwäsche" nicht benutzen, aber letzten Endes führen die ständigen Wiederholungen der Betonung des "Migrationshintergrundes" gerade bei Themen wie Kriminalität und "Terrorismus" (den es grotesker Weise in Deutschland ja gar nicht gibt) zu genau diesem Ergebnis.

Diese absurde Verknüpfung von angeblichen Bedrohungen und der Herkunft und Hautfarbe der Menschen, auf wundersame, nicht näher fassbare Weise verquickt mit einer bestimmten Religion ... das ist nichts anderes als das altbekannte Sündenbock-Programm der Faschisten. Damals waren es Juden, Sinti und Roma, Slawen, Kommunisten ... heute sind es Araber, Sinti und Roma, Dunkelhäutige, Islamisten ... die Bezeichnungen wurden teilweise ausgetauscht, die inhaltliche Leere und der widerliche Faschismus ist wieder derselbe.

Und fast keiner merkt's. Gerade dieser Tage, in denen sich die Befreiung der KZs einmal mehr jährt, häufen sich allerorten die Bekundungen, dass "so etwas nie wieder geschehen" dürfe - und wir sind schon mittendrin in demselben Prozess, der auch damals schnurstracks in die Finsternis des totalen Inhumanismus geführt hat.

Vielleicht ist "Gerhirnwäsche" doch kein so schlechter Begriff.

Liebe Grüße an die andere Seite des Planeten!