Montag, 25. März 2013

Der quadratische Kreis. Weshalb ich Sahra Wagenknecht sehr schätze und sie dennoch manchmal nicht verstehe


Sahra Wagenknecht, Literaturwissenschaftlerin, frisch promovierte Volkswirtschaftlerin, Talkshowvagabundin, Politikerin und Autorin, hat dem Blättchen ein etwas längeres Interview gegeben, das ich zur Lektüre sehr empfehlen möchte. Neben allerlei wunderbaren und erhellenden Passagen über Politik, Wirtschaft und Systemkritik ist mir beim Lesen aber ein Abschnitt besonders aufgefallen, den ich hier zitieren möchte:

"[Johann Wolfgang von Goethe] war zweifelsohne einer der frühesten und zugleich ein höchst differenzierter Kritiker des – damals erst heraufziehenden – Kapitalismus, der zugleich dessen gewaltige produktiven Potenziale nicht verkannte. Ein Blick in den 'Faust II' zeigt das deutlich. Der Titelheld ist progressiv, wo er als Großunternehmer gesellschaftlichen Reichtum schafft, indem er Eigentum erwirbt und produktiv einsetzt – nämlich zur Urbarmachung von Land mittels Dampfkraft und moderner Technologie. Zugleich wird er darüber zum Barbaren, der über Leichen geht – im Stück hat er unter anderem die Ermordung von Philemon und Baucis zu verantworten –, weil sein Trieb zur Reichtumsvermehrung keine Grenze mehr kennt. Kapitalismus, das hat Goethe vor Marx erkannt, ist eben nie nur Tausch, nur Marktwirtschaft, sondern immer auch Raub: 'Krieg, Handel und Piraterie' sind für Goethe 'dreieinig' und 'nicht zu trennen'. / Man geht meines Erachtens nicht zu weit, wenn man Goethe bescheinigt, dass er die existenzielle Bedrohung von Kultur, Zivilisation und Humanität, die mit einer durchkommerzialisierten Gesellschaft zwangsläufig einhergeht, geradezu prophetisch vorhergesehen hat. (...) Besonders aktuell an Goethe finde ich, dass er nicht in eine zynisch-pessimistische Weltsicht auswich, sondern an dem Anspruch und der Zuversicht festhielt, dass der Mensch nicht auf Dauer eine Gesellschaft akzeptieren wird, die seine wertvollsten Eigenschaften – Mitgefühl, soziale Verantwortung, Liebesfähigkeit und Sehnsucht nach Würde und Schönheit – verkümmern lässt und seine unsympathischsten – Habgier, Egoismus und soziale Ignoranz – an die Spitze des gesellschaftlichen Wertekanons setzt." [Hervorhebung von mir, Anm.d.Kap.]

Nun blickt Wagenknecht also nicht mehr 50, nicht mehr 100, nicht mehr 150 - sondern bereits 200 Jahre zurück, um einen Kapitalismuskritiker zu bemühen und ausgerechnet dessen "Optimismus" und "Glaube an das Gute im Menschen" herauszustellen, der sich ja bis einschließlich heute als reine Illusion und pures Wunschdenken herausgestellt hat. Beim Lesen habe ich mich unwillkürlich gefragt, wie weit ein solcher in die Zukunft gerichteter Optimismus denn heute wohl Bestand haben muss, damit er den ersehnten "Wandel zum Guten" tatsächlich erleben darf? 200 Jahre? 300? Und wann ist nach Wagenknecht'scher Wahrnehmung die Grenze erreicht, ab der vielleicht auch eine "zynisch-pessimistische Weltsicht" erlaubt oder zumindest nachvollziehbar ist? - Diese Frage beantwortet sie in diesem Gespräch leider nicht, da sie auch nicht gestellt wird.

Ich wiederhole aber, dass diese Kritik ein Jammern auf sehr hohem Niveau ist - das Interview und gewiss auch das in Rede stehende Buch "Freiheit statt Kapitalismus" (das ich noch nicht gelesen habe) sind sicherlich lesens- und bedenkenswert. Goethes "Faust" in Gänze ist es allemal - auch wenn ich persönlich das Werk weitaus weniger positivistisch interpretiere als die geschätzte Frau Wagenknecht.


(Bild: Faust und Mephisto)

2 Kommentare:

darkmoon hat gesagt…

Vielleicht erklärst du mir den Faust bei Gelegenheit mal, ich hab den ersten Teil damals in der Schule nur mit größter Mühe und sehr wenig Verständnis gelesen (lesen müssen)... -)

Charlie hat gesagt…

@ darkmoon: Sehr gern. Da ich aber weiß, dass Du dich für derlei "alte Literatur" nicht die Bohne interessierst, verlegen wir das mal auf irgendeine durchzechte Nacht in der Zukunft, nachdem wir uns eine komplette Staffel "Walking Dead" oder "Star Trek" und einen Stapel alter Schallplatten reingezogen haben, gelle. ;-)