Meine Angst, wurde mir ausgerichtet, lasse grüßen, sie erfreue sich bester Gesundheit. Ich hatte sie, aber das ist schon fast zwei Wochen her, zwischen Lausanne und Fribourg aus dem Zug geworfen. Warum, fiel mir damals plötzlich ein, sollte man sich einer so lästigen Klette nicht entledigen können? Da außer mir gerade niemand im Abteil war, die gute Gelegenheit mir aufmunternd zunickte, hab' ich's dann also getan. Soweit mir bekannt, ist eine solche Handlung nicht strafbar. Nur vergaß ich natürlich im Überschwang meines Entschlusses, dass Ängste überaus zäh sind. Sie überleben alles, sie überleben auch uns. Meine Angst zum Beispiel ist, bevor sie auf mich kam, die meiner Mutter gewesen. Und meine Mutter hat sie vielleicht schon von einer Tante gekriegt, das weiß ich schon nicht mehr. Wie auch immer: Wir Menschen kommen und gehen, doch ungerührt bleiben die Ängste am Leben und wählen sich neue Träger aus. Kein Wunder, dass es einer Angst überhaupt nichts ausmacht, aus dem fahrenden Zug geworfen zu werden. Deshalb ist meine euphorische Handlung ein sinnloser Akt gewesen. Wie zu erwarten war, stellt sich nunmehr heraus, dass die würzige Waldluft des Waadtlandes meine Angst erst recht gekräftigt hat. Schon also lässt sie mich grüßen. Bald wird sie wiederum da sein, ausgeruht und erholt für ihren Erwählten, für mich. Treue, hört man heute oft klagen, sei selten geworden. So kann nur reden, wer für einen Augenblick seine Angst vergessen hat, vielleicht hat vergessen wollen. Aber niemand bleibt uns so unentwegt treu wie die Angst.
(Kurt Marti [* 1921], aus: Silvio Blatter et al.: "Szene 81. Beispiele Schweizer Gegenwartsliteratur", 1981)
Anmerkung: Wer kennt sie nicht, diese nicht auszumerzende Angst, die gerade in dieser furchtbaren Zeit des kapitalistischen Niederganges letzlich jeden Menschen betrifft - ganz egal, ob nun befürchtete, drohende, begonnene oder bereits abschließende Verarmung, Verfolgung, Kriminalisierung, staatlicher Terror oder gar Krieg bzw. anderweitig betriebener staatlicher Mord die Ursachen sein mögen. In jedem Falle gilt heute wieder einmal: Die Angst ist vollkommen berechtigt und weit entfernt davon, ein Gegenstand psychologischer oder gar psychiatrischer Behandlungen zu sein. Das Gegenteil ist der Fall: Wer heute keine Angst vor dem offensichtlich erneut kommenden Unheil hat, sollte dringend ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen.
Alfred Kubin hat das in seiner unten abgebildeten Zeichnung "Weltangst", die 1934 irgendwie an den braunen Zensoren vorbeigerutscht ist, vorzüglich zum Ausdruck gebracht, wie ich finde - man könnte das Bild heute auch problemlos mit "Hartz-Terror", "Geheimdienstverfolgung" oder "Kriegslüsternheit" überschreiben. Ich persönlich kann mich gar nicht entscheiden, vor welcher dieser staatlichen Terrorarten ich mehr Angst habe.
(Zeichnung von Alfred Kubin [1877-1959], in "Simplicissimus", Heft 4 vom 22.04.1934)
3 Kommentare:
Angst essen Seele auf! - Wir dürfen vor lauter Angst nicht aufhören zu leben, wir haben nur dieses(mehr recht als schlechtes). Wenn wir vor Angst gelähmt sind, freut sich die Herrschaft. Lasst uns feiern und die Angst eventuell in Wut und Zorn umwandeln. Ich habe auch zur Genüge diese düstern Gedanken und freue mich daher über jeden Augenblick des Glücks.
Meine Angst - hm, ich bin jetzt 52 und arbeite für 5,80 und ich weiß jetzt schon, daß ich als Rentner gaaanz kleine Brötchen backen muss. Vielleicht vorher noch nen Ding drehen, denn im Knast ist Essen und Wärme :-)
@ Störgröße: Deinem ersten Absatz stimme ich ja durchaus irgendwie zu - allerdings schreibt Kurt Marti ja genau über dieses Dilemma des versuchten Loswerdens der Angst, das schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt zu sein scheint - ganz besonders dann, wenn es sich nicht um irrationale, sondern um vollkommen berechtigte Ängste handelt, für die sich zunehmend weitere Gründe geradezu aufdrängen. Es wäre fatal, wenn gerade auch kritische Menschen nun damit begännen, sich die Realität "schönzureden" bzw. "schönreden" zu lassen - das tut ja die Mehrheit der weitgehend narkotisierten oder sich selbst narkotisierenden Menschen schon.
Das mit dem "Ding drehen" würde ich mir an Deiner Stelle aber nochmal gut überlegen. ;-) Zum Einen ist schon der heutige deutsche Knast kein Ort, an dem ein halbwegs vernunftbegabtes Wesen (und auch kein anderes) verweilen möchte, zum Anderen ist es - auch in Hinsicht auf "unser Vorbild" USA - nicht utopisch anzunehmen, dass die Situation für Gefangene in den nächsten Jahrzehnten von der neoliberalen Bande weiter drastisch verschlimmert wird - da ist inzwischen fast alles denkbar, sogar das Allerschlimmste. Und wir dürfen ganz sicher sein, dass heute oder in naher Zukunft Kontrolle, Überwachung, Schikanierung, Ausbeutung, Folter und auch Ermordung von Gefangenen noch einmal wesentlich "effizienter" und umfassender ausfielen, als das bereits damals der Fall gewesen ist. Genau davor muss ein psychisch halbwegs gesunder Mensch heute Angst haben - und zwar in erheblichem Maße. Das ist gewiss nicht schön oder gar erstrebenswert, aber es ist eine völlig normale, gesunde Reaktion auf die zunehmenden Bedrohungen und bereits stattfindenen staatlichen Angriffe, Verfolgungen, Überwachungen und Zwangsverarmungen. Eben weil die elitäre Bande das weiß und dennoch von ihrer Propaganda weiter herumposaunen lässt, dass Ängste - gerade solche, die ich oben kurz genannt habe -, so etwas wie "Krankheiten" seien und jeder veritablen Grundlage entbehrten, wird das Instrument der Herrschenden ja sichtbar: Sie schaffen bewusst die Voraussetzungen für solche Ängste und erklären die Ängste gleichzeitig für "krankhaft" und "behandlungsbedürftig". Auf diesen Zug sollte niemand aufspringen, der Angst vor Krieg, vor stetig fortschreitender Verarmung oder vor staatlicher Totalüberwachung hat.
Es käme ja auch niemand auf den ansurden Gedanken, einen Menschen als "krank", "psychotisch" oder "phobiebelastet" zu bezeichnen, der in eine Löwengrube fällt und sich einer Horde geifernder, hungriger Raubtiere gegenüber sieht, oder? Der feiert nicht und verspürt auch keinen Zorn - dafür handelt er aber unverzüglich, sofern er noch Handlungsspielräume hat. Und genau diese Handlungsspielräume - die haben wir jetzt noch. Wer weiß, wie lange noch.
Liebe Grüße!
Hey, mach ich doch nicht wirklich :-)
Das traurige ist, daß sich sehr Viele die Ohren zuhalten und gar nichts mehr wissen wollen, mir geht es auch oft so.
Eben in den Kleingarten zurückziehen und hinterher von nichts gewusst haben.
... aber ich kann das verstehen - man ist manchmal so müde und sie haben so unendlich Kraft für ihre Vorstöße.
Vielleicht muß es auch erst richtig krachen, ehe der Mensch lernt - war ja bisher immer so.
Oder nur sagen "Morgen ist erst morgen."
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